Kitabı oku: «Klausurenkurs im Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrecht», sayfa 2
Einführung in die Konzeption des Klausurenkurses
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Der vorliegende Klausurenkurs „Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht – mit Bezügen zum Völkerrecht“ fügt sich in die bereits bestehenden Klausurenbände der „Schwerpunkte“-Reihe ein und dient als Ergänzung und Vertiefung zu gängigen Lehrbüchern wie dem Standardwerk „Europarecht“ von Rudolf Streinz, dem „Internationalen Wirtschaftsrecht“ von Burkhard Schöbener, Jochen Herbst und Markus Perkams, dem „Öffentlichen Wirtschaftsrecht“ von Josef Ruthig und Stefan Storr sowie dem „Wirtschaftsvölkerrecht“ von Markus Krajewski. Der Klausurenkurs spricht vor allem Studierende an, die im Rahmen der Juristischen Universitätsprüfung den Schwerpunktbereich Europarecht/Internationales Recht absolvieren. Je nach Ausrichtung dieses Schwerpunktbereichs bzw. den Wahlmöglichkeiten an der jeweiligen Juristischen Fakultät findet sich regelmäßig die gesamte inhaltliche Bandbreite des Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrechts im schwerpunktspezifischen Curriculum wieder, und zwar von den Grundfreiheiten über das unionale Wettbewerbsrecht (vor allem Kartell- und Beihilfenrecht) und die gemeinsame Handelspolitik der Europäischen Union bis hin zum Recht der Welthandelsorganisation (WTO) und dem internationalen Investitionsschutzrecht. Vor diesem Hintergrund bereitet der Klausurenkurs Studierende des entsprechenden Schwerpunktbereichs anwendungsorientiert sowohl auf schriftliche als auch mündliche Schwerpunktprüfungen vor, soweit diese Prüfungsleistungen in der jeweiligen Studien- und Prüfungsordnung vorgesehen sind.
Der Klausurenkurs ist in zwei Teile gegliedert, wobei der 1. Teil im Wesentlichen einen Überblick über das Europäische und Internationale Wirtschaftsrecht präsentiert und der 2. Teil 16 Klausurfälle zur Bearbeitung enthält.
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Der inhaltliche Überblick über das Europäische und Internationale Wirtschaftsrecht im 1. Teil umfasst die Grundzüge beider Teilbereiche und legt diese in verdichteter Form dar. Eine Durcharbeitung der inhaltlichen Kurseinführung ist vor allem mit Blick auf die spätere Fallbearbeitung lohnenswert, da die dargelegten rechtlichen Grundlagen sowie die ausgewählt besprochenen Rechtsprobleme ein grundlegendes Verständnis für das jeweilige Rechtsgebiet schaffen und sich in den verschiedenen Sachverhaltskonstellationen der Klausurfälle wiederfinden. Hinzu kommen didaktische Hinweise zu Recherchemöglichkeiten unter Berücksichtigung der einschlägigen digitalen Quellen, die auch im rechtswissenschaftlichen Studium immer mehr zur Geltung kommen und das Recherchieren von Rechtsprechung oder anderweitiger (Vertiefungs-)Literatur spürbar vereinfachen.
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„Herzstück“ des Klausurenkurses sind wesensgemäß die im 2. Teil enthaltenen insgesamt 16 Klausurfälle. Er beinhaltet eingangs eine Übersicht über die Themenschwerpunkte der einzelnen Klausurfälle, die darüber hinaus Informationen bezüglich des Schwierigkeitsgrades (leicht – mittel – schwierig) sowie der jeweils vorgegebenen Bearbeitungszeit gibt. Grundsätzlich bietet es sich an, mit der Bearbeitung von Fall 1 in den Klausurenkurs einzusteigen, wenngleich Studierende nicht daran gehindert sein sollen, gezielt bestimmte Klausurfälle aufgrund deren thematischer Schwerpunktsetzung zu bearbeiten. Bei Fall 1 handelt es sich zwar weniger um eine klassische juristische Fallgestaltung, die im Rahmen eines rechtlichen Gutachtens zu lösen ist, als um rechtliche Fragestellungen, die in Essay-Form beantwortet werden sollen; allerdings deckt der Klausurfall inhaltlich – in Anlehnung an den Brexit – u.a. die historischen Grundlagen der europäischen Wirtschaftsintegration sowie Fragen der wirtschaftlichen Desintegration ab und eignet sich damit in besonderem Maße zur Entwicklung einer anwendungsorientierten Vertrautheit mit Problemstellungen des Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrechts einschließlich etwaiger Bezüge zum allgemeinen Völkerrecht.
Die weiteren 15 Klausurfälle beruhen teils auf Leitentscheidungen bzw. aktueller Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (GHEU) sowie auf Reports von WTO-Panels bzw. des Appellate Body. So behandelt etwa Fall 10 („Gerichtshof vs. Schiedsgericht“) sowohl diejenigen Rechtsfragen, die sich dem Gerichtshof in der Rechtssache Achmea stellten, als auch diejenigen, die sich ihm in der derzeit noch anhängigen Rechtssache Micula stellen. Dagegen sind in Fall 12 („21st Century Agreements“) die Ausführungen des Gerichtshofs im Gutachten 2/15 klausurtechnisch aufbereitet. Insgesamt weisen die Fälle 2 bis 13 einen Schwerpunkt im „Europäischen Wirtschaftsrecht“ auf, während der Fokus der Fälle 14 bis 16 eher auf dem „Internationalen Wirtschaftsrecht“ liegt.
Die einzelnen Sachverhaltskonstellationen sind generell dergestalt konzipiert, dass stets verschiedene Teilgebiete des Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrechts miteinander kombiniert und verzahnt sind, um die Vielschichtigkeit und den möglicherweise nicht auf den ersten Blick ersichtlichen, aber doch zahlreich vorhandenen Berührungspunkten des Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrechts Rechnung zu tragen.
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Darüber hinaus sehen die 16 Falleinheiten für die Fallbearbeitung jeweils eine dreigliedrige Vorgehensweise vor: (1) Im ersten Schritt sollen Studierende zunächst die Fallangabe bzw. den Sachverhalt lesen und erste Lösungsüberlegungen skizzieren; (2) im Anschluss werden sogenannte Vorüberlegungen einschließlich einer Grobgliederung des Lösungsvorschlags zur Verfügung gestellt, die hinsichtlich der Schwerpunktsetzung und etwaigen Strukturierungsfragen im Zusammenhang mit der Erstellung einer eigenen Lösungsskizze unterstützen; (3) sodann folgt ein ausführlicher Lösungsvorschlag, der allerdings nicht als vollständige Falllösung zu verstehen ist, sondern eine Hilfestellung für die Nachbearbeitung darstellen soll. Der Lösungsvorschlag enthält zudem zum einen im Rahmen von zahlreichen Hinweiskästen zusätzliche inhaltliche Vertiefungs- und Hintergrundinformationen, zum anderen am Ende umfassende Literaturempfehlungen zur Wiederholung und Vertiefung. Die Hinweiskästen versuchen vor allem weiterführende Fragen, die sich Studierenden bei der Nachbearbeitung des Lösungsvorschlags möglicherweise aufdrängen, zu antizipieren und diese entsprechend zu beantworten. Abgerundet wird der 2. Teil des Klausurenkurses durch eine Sammlung von insgesamt 100 Lernkontrollfragen, die die Möglichkeit zur Reflexion der zentralen Rechtsfragen der einzelnen Klausurfälle geben.
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Der Klausurenkurs ist auf dem Stand von Dezember 2018 und legt der Fallbearbeitung insbesondere die Verträge, d.h. den Vertrag über die Europäische Union (EUV) sowie den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), in der Fassung des Vertrags von Lissabon (in Kraft getreten am 1.12.2009) sowie die WTO-Verträge, insbesondere das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) in der Fassung des Marrakesch-Abkommens (unterzeichnet am 15.4.1994) zugrunde. Darüber hinaus ist teilweise die Heranziehung weiterer internationaler Verträge, beispielsweise des Vertrages über die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), erforderlich, die allerdings in den gängigen Text- und Gesetzessammlungen abgedruckt sind.
1. Teil Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht im Überblick
A. Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union
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Der Rechtsbegriff der Verfassung meint grundsätzlich eine rechtliche Grundordnung eines Gemeinwesens, die aus formaler Sicht Verfahren zur Bewältigung von politischen Konflikten, insbesondere durch einen geregelten Staatsaufbau, vorgibt und darüber hinaus materiell-rechtliche Leitprinzipien grundrechtlicher oder struktureller Art enthält. Damit wohnt einer Verfassung eine sowohl einheits- als auch identitätsstiftende Wirkung für die legitimierte Hoheitsgewalt sowie das Gemeinwesen inne, wodurch die Verfassung als an sich rechtliche Materie (zumindest teilweise) politisiert wird. Als (rechtspolitische) Grundlage des Gemeinwesens ist eine Verfassung grundsätzlich nur unter erschwerten Voraussetzungen abänderbar, weist aufgrund der niedergelegten, naturgemäß abstrakten Prinzipien allerdings eine Offenheit auf, die ihre Bestandskraft maßgeblich erhöht. Wenngleich damit nicht der verfassungsrechtliche Anspruch auf Vollständigkeit einhergeht, deckt die Verfassung wesentliche Bereiche des Gemeinwesens ab, u.a. das Wirtschaftsleben, für dessen Ordnung sie mitunter eine politische Gesamtentscheidung, etwa in Bezug auf das Wirtschaftssystem, trifft und grundlegende Gestaltungselemente einführt. In modernen Verfassungen steht dabei insbesondere die wirtschaftliche Freiheit des Individuums im Spannungsverhältnis zu sozialstaatlichen und sonstigen regulativen Politiken.
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Historisch bedingt – insbesondere durch das seit dem Ende des 30-jährigen Krieges 1648 vorherrschende Westfälische System – ist der Verfassungsbegriff zwar staatsbezogen, wurde im Rahmen der europäischen Integration vom Gerichtshof allerdings bereits zur Charakterisierung der Unionsverträge (damals EWG-Vertrag) („Verfassungsurkunde“) herangezogen.[1] Jedenfalls spricht man bezüglich der von den Unionsverträgen geschaffenen Rechtsordnung grundsätzlich eher von einer Rechtsordnung sui generis,[2] deren Rechtsqualität sich von der Qualität des völkerrechtlichen Gründungsaktes gelöst hat und die aufgrund ihrer unmittelbaren Wirkung sowie des Vorrangs eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“[3] darstellt (siehe Fall 1, Rn. 108).[4]
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Nichtsdestotrotz erfüllt diese „neue Rechtsordnung“ wesentliche Verfassungsfunktionen, etwa die Organisation und Legitimation von Herrschaftsgewalt (vgl. etwa die allgemeinen Kompetenzordnungsprinzipien des Art. 5 EUV oder die Vorschriften zum ordentlichen und besonderen Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 289 ff. AEUV), und enthält zudem grundlegende materiell-rechtliche Verfassungselemente, etwa die Grundfreiheiten (vgl. Art. 28 ff. AEUV, Art. 45 ff. AEUV, Art. 49 ff. AEUV, Art. 56 ff. AEUV sowie Art. 63 ff. AEUV) und die Grundrechte (vgl. die Grundrechtecharta (GRCh), die gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV rechtlich gleichrangig zum AEUV und EUV ist).
I. Das wirtschaftsverfassungsrechtliche Leitbild
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Das wirtschaftsverfassungsrechtliche Leitbild der Unionsverträge, d.h. des EUV sowie des AEUV einschließlich der GRCh, ist gemäß Art. 119 Abs. 1, 2, Art. 120 S. 2 AEUV durch den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ bestimmt, die gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV auch ein soziales Element enthält („wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“). Dieses Bekenntnis zu einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung als objektiv-rechtliche Grundentscheidung findet Entfaltung in speziellen subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen, die ebenfalls das Wesen der unionalen Rechtsordnung maßgeblich prägen, etwa im Rahmen des Kartellrechts, dem das Idealbild eines Wettbewerbs zugrunde liegt, in dem Unternehmen eigenständig und selbstbestimmt am Markt agieren (siehe Fall 11, Rn. 662).[5]
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Wirtschaftsintegrationsrechtliche Grundlage der unionalen Rechtsordnung ist die Errichtung einer Zollunion (vgl. Art. 28 ff. AEUV i.V.m. Art. 3 Abs. 1 lit. a AEUV), die um binnenmarkt- und wettbewerbsrechtliche Elemente erweitert (vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV und Art. 101 ff. AEUV) und (zumindest in Teilen) zu einer Währungsunion weiterentwickelt worden ist (vgl. Art. 127 ff. AEUV) (siehe Fall 1, Rn. 74 ff.). Die offen marktwirtschaftliche Ausrichtung der Unionsverträge wird allerdings durch die Anerkennung nicht-wirtschaftlicher Allgemeininteressen, etwa die Querschnittsmaterien Umwelt- und Verbraucherschutz (vgl. Art. 11, 12 AEUV) oder die Grundrechte der GRCh, relativiert, die u.a. den Mitgliedstaaten regulative Gestaltungsspielräume verschaffen, die insbesondere in den geschriebenen (vgl. Art. 36 AEUV, Art. 45 Abs. 3 AEUV, Art. 52 AEUV [i.V.m. Art. 62 AEUV] und Art. 65 Abs. 1 lit. b AEUV) und ungeschriebenen (vgl. etwa die zwingenden Erfordernisse i.S.d. Cassis de Dijon[6]) Rechtfertigungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit Grundfreiheitseingriffen zum Ausdruck kommen (siehe u.a. Fall 2, Rn. 160 f.). Darüber hinaus finden sich im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik oder der Industriepolitik gar ausdrückliche Durchbrechungen des marktwirtschaftlichen Grundsatzes.
II. Historische Entwicklung der unionalen Wirtschaftsintegration
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Seinen historischen Ursprung findet das Unionsrecht in der Vergemeinschaftung der Kohle- und Stahlindustrie im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahre 1951 durch die westeuropäischen Staaten Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. Mit dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag; seit dem Vertrag von Maastricht EG-Vertrag; seit dem Vertrag von Lissabon AEUV) im Rahmen der Römischen Verträge vom 27.3.1957 wurde dieser Integrationsverbund im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, basierend auf einer Zollunion und unter dem Leitbild des „Gemeinsamen Marktes“, ausgebaut und gestärkt. Mit der Einführung eines gemeinsamen Zolltarifs gegenüber Drittstaaten und der Beseitigung von Binnenzöllen wurde am 1.7.1968 die Integrationsstufe der Zollunion verwirklicht.[7] Nachdem bereits infolge der Dassonville-Rechtsprechung des Gerichtshofs aus dem Jahr 1974 die Marktöffnung im Hinblick auf nicht-tarifäre Handelshemmnisse innerhalb der EWG erhöht werden konnte, die positive Integration durch Rechtsangleichung allerdings (vor allem aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses für derartige Maßnahmen) ins Stocken geraten war, priorisierte die Europäische Kommission die Entwicklung eines vollumfänglichen Binnenmarktkonzepts, was im Jahre 1985 in die Entwicklung des sogenannten Weißbuchs über die Vollendung des Binnenmarktes mündete. Dieses legte die Defizite der Verwirklichung des „Gemeinsamen Marktes“ offen und enthielt eine Reihe von Vorschlägen zur Harmonisierung von wesentlichen Rechtsvorschriften, die dem Funktionieren des Binnenmarktes entgegenstanden. Infolgedessen gab die am 1.7.1987 in Kraft getretene Einheitliche Europäische Akte (EEA) für die Vollendung des Binnenmarktes, d.h. einem Raum ohne Binnengrenzen, einen Zeitplan zur Durchführung der vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen zur Beseitigung von Handelshemmnissen bis zum 31.12.1992 vor (wenngleich der Frist keine rechtliche Wirkung zukam). Die EEA bewirkte im Wesentlichen die Umstellung vom Einstimmigkeits- zum Mehrheitserfordernis für binnenmarktrelevante Rechtssetzung und gab die Schaffung des Binnenmarktes nunmehr verbindlich vor.[8] Die Umsetzung des Binnenmarktkonzepts betraf insbesondere die Beseitigung materieller Schranken im Bereich der Waren- und Personenkontrollen sowie die Beseitigung nicht-tarifärer Hemmnisse technischer Art. Heute ist das Binnenmarktkonzept bzw. das Ziel seiner Verwirklichung verbindlich in Art. 3 Abs. 1 S. 1 EUV sowie in Art. 26 Abs. 2 AEUV niedergelegt, während hauptsächlich die Harmonisierungskompetenz des Art. 114 AEUV die Anforderungen an eine unionale Rechtsangleichung regelt (siehe u.a. Fall 9, Rn. 569 ff.) und gemäß Abs. 1 S. 2 vorgibt, dass Harmonisierungsvorschriften vom Rat und Europäischen Parlament im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens erlassen werden, das gemäß Art. 289, 294 AEUV grundsätzlich die qualifizierte Mehrheit im Rat als Abstimmungserfordernis verlangt (siehe zur historischen Entwicklung der europäischen Wirtschaftsintegration inner- und außerhalb der Union Fall 1, Rn. 77 ff.).
B. Teilgebiete des Europäischen Wirtschaftsrechts
I. Die Grundfreiheiten
1. Die Grundfreiheiten als Instrument negativer Integration
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Die Grundfreiheiten des AEUV, d.h. die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 28 ff. AEUV, die Arbeitnehmer- und Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 45 ff. und Art. 49 ff. AEUV, die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 ff. AEUV sowie die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 ff. AEUV, stellen die Grundpfeiler des unionalen Binnenmarkts i.S.v. Art. 26 Abs. 2 AEUV dar, dessen Verwirklichung auch über 1992 eine Dauerverpflichtung der Mitgliedstaaten und der Union ist. Als Instrument negativer Integration verbieten sie (sowohl de jure als auch de facto) Diskriminierungen sowie unterschiedslos wirkende Beschränkungen, d.h. Maßnahmen mit protektionistischer oder marktfragmentierender Wirkung, im grenzüberschreitenden innerunionalen (nicht im rein inländischen) Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr, wobei sie lediglich auf die Marktzugangsöffnung, nicht aber auf eine allgemeine Marktliberalisierung abzielen. Im Einklang mit der Außenhandelstheorie der komparativen Kostenvorteile gelingt so mit der Herstellung eines einheitlichen, größeren Marktes eine bessere Ressourcenallokation.
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Mittelbar können die Grundfreiheiten auch zu positiver Integration führen, wenn eine gegen einschlägige Grundfreiheiten verstoßende, jedoch gerechtfertigte mitgliedstaatliche Maßnahme aufgrund einer drohenden Fragmentierung des Binnenmarktes dessen Funktionieren beeinträchtigt bzw. zu beeinträchtigen droht und damit die unionale Harmonisierungskompetenz gemäß Art. 114 AEUV auslöst.
2. Die Entwicklung der Grundfreiheitsdogmatik durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs
a) Das Zusammenspiel der Dassonville- und Keck-Formel im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit
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Bei der Durch- bzw. Umsetzung des Binnenmarktkonzepts spielt die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine maßgebliche Rolle, etwa mit Blick auf die Ausdehnung des warenverkehrsrechtlichen Verbots nicht-fiskalischer Maßnahmen i.S.v. Art. 34 AEUV von einem Diskriminierungs- zu einem Beschränkungsverbot im Rahmen der sogenannten Dassonville-Formel. Auch interne Marktregulierungen wie Verkaufsverbote, die beschränkend auf den Marktzugang wirken (können), sind damit von Art. 34 AEUV erfasst.
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Mit der Keck-Rechtsprechung hat der Gerichtshof den sehr weiten Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV wieder eingeschränkt. Wortlautgemäßer Anknüpfungspunkt der Keck-Formel sind sogenannte „bestimmte Verkaufsmodalitäten“, die nicht geeignet sind, den innerunionalen Handel i.S.d. Dassonville-Formel zu beschränken. Zur Konkretisierung der Begrifflichkeit wird regelmäßig auf die Unterscheidung von vertriebs- und produktbezogenen Regelungen zurückgegriffen, wobei nur erstere unter die Verkaufsmodalitäten fallen. Einen wirklichen dogmatischen Gewinn bringt diese Differenzierung allerdings nicht. Der Kerngedanke der Keck-Formel ist jedenfalls, ob bzw. inwiefern eine interne Marktregulierung starke[9] oder erhebliche[10] Auswirkungen auf den Marktzugang hat.[11] Diese darf den Marktzugang zwar im Rahmen ihrer Eigenschaft als „bestimmte Verkaufsmodalität“ beschränken; eine solche Beschränkung darf aber nicht stärker ausgestaltet sein, als dies für inländische Erzeugnisse der Fall ist.[12]
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Durch das Zusammenspiel der Dassonville- und Keck-Formel werden damit zum einen aufgrund der Ausnahme der „bestimmten Verkaufsmodalitäten“ nur diejenigen internen Marktregulierungen „herausgefiltert“, die den Marktzugang und folglich den innerunionalen Handel in hinreichend bedeutender Weise beschränken. Zum anderen werden die unterschiedlichen Geltungsbereiche des Beschränkungs- und des Diskriminierungsverbots deutlich. Soweit es sich um eine den innerunionalen Handel beschränkende, d.h. um eine marktzugangsbezogene Maßnahme handelt, gelten sowohl das Beschränkungs- als auch das Diskriminierungsverbot. Betrifft eine mitgliedstaatliche Regulierung dagegen nur interne Sachverhalte im Sinne einer „bestimmten Verkaufsmodalität“, ist diese interne Regulierung nach der Keck-Rechtsprechung keine Beschränkung und ausschließlich am Diskriminierungsverbot zu messen.[13]