Kitabı oku: «Vom Leben getragen», sayfa 2
II Tod im Leben: Unser gesellschaftlicher Umgang
In diesem Buch geht es nicht so sehr um die großen philosophischen oder religiösen Fragen über ein mögliches „Leben nach dem Tod“ oder darüber, ob und wie es nach dem Tod weitergeht. Für mich bleibt dies ein Geheimnis, dessen Komplexität ich nicht erfassen kann. Und das ist auch gut so.
Mir geht es sehr konkret um diesen wesentlichen, unwiderruflichen und einzigartigen Zeitraum zwischen Tod und Bestattung, um den derzeit üblichen Umgang mit den toten Menschen und um den Umgang mit Trauernden. Das alles meine ich mit Bestattungskultur.
Wenn wir uns anschauen wollen, wie hier und heute mit Tod und Bestattung umgegangen wird, dann müssen wir uns speziell auf Deutschland konzentrieren. Denn es braucht zunächst noch nicht einmal den Blick über Europa hinaus, um große Unterschiede festzustellen – so scheint etwa in England, Italien oder Holland der Umgang mit den Verstorbenen um einiges angstfreier als hierzulande zu sein. Tote werden unter anderem in Italien ganz selbstverständlich geküsst und geherzt. Dort ist die Angst vor dem obskuren „Leichengift“ (das definitiv nicht existiert, aber darüber später mehr in diesem Buch) nicht so verbreitet wie hier, wo wir immer noch von Menschen gefragt werden, ob es wirklich ungefährlich sei, ihre Toten zu berühren. In England und Holland ist es vielerorts auch heute noch üblich und ganz selbstverständlich, die Verstorbenen offen zu Hause aufzubahren und dort Abschied zu nehmen. Warum ist das bei uns hier nicht (mehr) so?
Tod hier und heute: Schwermütiges Dunkel und Schweigen?
Es scheint, dass fast nirgends sonst das Thema Tod so tabuisiert ist wie hier bei uns. Woher kommt es, dieses Schweigen? Woher kommt die Angst, über den eigenen Tod oder den unserer Lieben zu reden oder sogar nur darüber nachzudenken? Woher kommt die Schwere, die unvermeidlich scheint, sobald es um Tod und Bestattung geht? Dieses Dunkle, das häufig noch im Äußeren auf unseren Friedhöfen zu finden ist: bedrückend düstere Trauerhallen, dunkle Friedhofskapellen und manchmal schäbig-schmutzige Aufbahrungsräume, schwarze Tücher auf dem Sargwagen und dunkle Särge …
Obwohl sich hier langsam glücklicherweise ein Kulturwandel bemerkbar macht und immer mehr TrauerrednerInnen und PfarrerInnen die Abschiednehmenden bei Trauerfeiern miteinbeziehen, findet sich bei den meisten Bestattungen noch überwiegend schwermütige Musik, die selten wirklich unterstützend „trägt“ und selten die Lieblingsmusik der Verstorbenen war, sondern eher eine Trauermusik ist, die die Abschiednehmenden meist noch mehr bedrückt. Die üblichen Trauerreden enthalten wenig Anekdoten, über die alle auch lachen können, obwohl diese Seite doch genauso zum Leben und zu der Persönlichkeit der meisten Verstorbenen dazugehört hat und das gemeinsame Lachen – neben den Tränen – sehr verbindend wirken kann. Die so wichtigen letzten Worte über die Verstorbenen werden meist nur von PfarrerInnen oder professionellen TrauerrednerInnen gesprochen und sind leider noch zu oft schmerzlich unpersönlich, distanziert und damit wenig tröstlich, berührend oder lebendig. Zu selten bekommen die Menschen, mit denen die Verstorbenen im Leben auf unterschiedlichste Weise verbunden waren, den Raum und die Unterstützung, auf der Trauerfeier zu sprechen. Helle, farbenfrohe und freundliche Gestaltungen der Abschiedsräume und Trauerhallen sind noch außergewöhnlich und nur manchmal bei aufgeschlossenen Bestattungsunternehmen und Friedhöfen (und ganz selten in Kliniken oder anderen Einrichtungen) zu finden. Viele haben Angst, dass zu „Fröhliches“ bei Bestattungen befremdlich oder gar als „pietätlos“ (= würdelos) empfunden werden könnte. Manche trauen sich kaum, von einer „schönen“ Trauerfeier zu sprechen, auch wenn sie es tatsächlich war, als wäre „schön“ dafür ein ganz und gar unpassendes Wort. Und um bei einer Trauerfeier, beim Abschied von den Verstorbenen, lachen zu dürfen, brauchen manche fast schon eine „Erlaubnis“, als wäre auch das absolut unvereinbar: die Trauer und das Schöne, der Schmerz und das Glückliche im Leben – obwohl Beerdigungen und Trauerfeiern Teil unseres Lebens sind und doch immer etwas aus dem Leben der Verstorbenen widerspiegeln sollten.
In England und den skandinavischen Ländern gibt es zum Beispiel richtig lustige und fröhliche Kinderbücher zum Thema Tod, die ich gerne auf Vorträgen, zu denen wir immer wieder eingeladen werden, zusammen mit anderen Büchern vorstelle (siehe Kapitel VIII: Literatur- und Medienempfehlungen, Adressen, Quellenverzeichnis). Da hören wir dann manchmal, diese Kinderbücher würden das Thema nicht ernst genug nehmen. Ich finde, hierzulande wird das Thema einerseits viel zu ernst genommen und andererseits leider überhaupt nicht in dem Umfang, wie es tatsächlich notwendig wäre.
Diese Art von bestimmten, kulturell als richtig deklarierten „Betroffenheitsgefühlen“, die künstlich erzeugt werden, verhindert oft, dass wahrgenommen werden kann, was tatsächlich passiert, wenn ein Mensch stirbt, und wie wir uns wirklich damit fühlen. Und wie viele Fragen wir dazu haben …
Bei der offensichtlichen Trauer fehlen dann vielen die Worte und Gesten des Mitgefühls, ein unterstützender und angemessener Umgang, der die Trauernden nicht alleine lässt und dennoch ihre Grenzen wahrt. Es fehlen ausreichend Möglichkeiten, die eigene Trauer miteinander zu teilen. Zu selten ist die Gelegenheit, diesen Umgang in unserem alltäglichen Leben zu erfahren und natürlicherweise schon von klein auf zu lernen. Er ist nicht mehr (und noch nicht wieder) ein selbstverständlicher Teil unserer Kultur. Glücklicherweise gibt es inzwischen zu Trauer aber schon viel Literatur und Angebote (siehe Kapitel VIII: Literatur- und Medienempfehlungen, Adressen, Quellenverzeichnis).
Es ist offensichtlich für die meisten Menschen immer noch schwer, sich darüber bewusst zu sein, dass wir alle eines Tages sterben werden und dass ein Sterben spätestens zwischen 80 und 90 Jahren für die meisten von uns sehr wahrscheinlich ist. Nur sehr wenige von uns werden älter. Es kann nicht darum gehen, Sterben um jeden Preis zu verhindern. Wer will schon wirklich unsterblich sein? Es geht wohl eher darum, wie wir ein „gutes“ Sterben am Ende eines Lebens ermöglichen, also ein Sterben, bei dem die Sterbenden entsprechend einfühlsam und respektvoll begleitet und ihre Wünsche und Bedürfnisse selbstverständlich mit einbezogen werden. Hier gibt es schon seit Längerem immer mehr Angebote: ambulante Hospizdienste und -vereine, Hospizhäuser und Palliativstationen in Kliniken sowie ambulante Palliativ-Care-Teams, die sich am Ende eines Lebens, sei es durch Alter oder durch Krankheit, genau darum kümmern und meist auch sehr gerne Angehörige in dieser letzten Zeit einladen, sie begleiten und unterstützen.
Natürlich sind wir alle traurig, wenn Menschen sterben, mit denen uns etwas im Leben verbunden hat. Trauer ist ein ganz natürliches und wichtiges Gefühl, über das ich später im Buch noch viel schreiben werde. Trauer bekommt jedoch gerade durch die heute noch weitverbreitete Verdrängung von Tod leider oft zu wenig Raum. Auf Beerdigungen tragen die Menschen in der Regel Schwarz. Schwarz ist (nicht nur) in diesem Land die traditionelle und kulturelle Trauerfarbe. Damit soll der Respekt vor den Toten und den Trauernden gezeigt werden, deshalb tragen auch wir Bestatterinnen bei der BARKE meistens dunkle oder schwarze Kleidung, außer Farbe ist erwünscht. Für die meisten Menschen ist es aber selbst dann undenkbar, bunte oder helle Kleidung auf einer Trauerfeier zu tragen, wenn die Verstorbenen sich das zu Lebzeiten ausdrücklich so gewünscht haben.
Schwarz ist an sich natürlich überhaupt nichts Düsteres oder Negatives. Und ich persönlich mag Schwarz gerne: die Sternenschwärze der Nacht oder glänzender Obsidian oder schwarze Kleidung – und ich trage sie deshalb auch gerne bei Bestattungen. Unter vielem anderen symbolisiert Schwarz für mich Klarheit und Schutz, die ursprünglichste aller Farben. In vielen sehr frühen Kulturen finden sich die drei Urfarben Schwarz, Weiß und Rot in Wandmalereien oder auf Töpferware und kultischen Alltagsgegenständen, als die Bereiche Kunst, Alltag und Spiritualität, für mich sehr offensichtlich, noch nicht getrennt gelebt und empfunden wurden. Sie stehen für mich unter anderem für die Junge Frau, die Reife Frau und die Weise Alte oder auch für den Anfang/den Neubeginn, die Mitte des Lebens, das Lebensende. Schwarz symbolisiert häufig den Ursprung allen Lebens, das Nichts, aus dem alles geboren wurde, und steht gleichzeitig für Tod als zum Beginn dazugehörend – der Lebenskreis, in den auch alles am Ende wieder hineingeboren wird: zwei Geburten, die nicht voneinander getrennt zu fühlen und zu erleben sind – die Geburt hinein ins Leben und die Geburt hinaus aus diesem Leben. Von daher ist Schwarz eigentlich eine sehr passende Farbe für Trauer. Schwarz ist auch das Weltall, der unendliche Raum. Die Unendlichkeit, in der wir leben und sterben – gut aufgehoben in der Endlichkeit und der Gleichzeitigkeit9 im weiten schwarzen Raum, dem ständig sich wandelnden Kreislauf des Lebens, in dem wir uns im Großen und im Kleinen immer bewegen.
Hingegen hat die heute noch mit Tod verbundene Düsternis jüngere historische Ursprünge. Die Geschichte dieses Landes ist geprägt von Gewalt, Unterdrückung und Verfolgung. Im Mittelalter wurde die Bevölkerung Jahrhunderte lang immer wieder mit brutaler Gewalt unterdrückt, ihres Landes enteignet und, trotz aller Widerstände, unter die Herrschaft von Klerus, Adel und Bürgertum gezwungen.10 In der frühen Neuzeit, bezeichnenderweise der Zeit der Renaissance und des Humanismus, gipfelte diese Unterdrückung schließlich in der weitreichenden Verfolgung und Vernichtung von hauptsächlich Frauen (Weisen Frauen, Heilerinnen, Hebammen, Kräuterkundigen … den Ärztinnen des Volkes) unter dem Namen „Hexenverfolgung“.11 Noch im 18. Jahrhundert wurden die letzten Frauen in diesem Land öffentlich verbrannt.12 Es gibt noch viel zu wenig ernsthafte Aufarbeitung der Ermordung der unzählbaren Frauen über 300 Jahre hinweg. Ihre Zahl lässt sich nicht mehr genau beziffern, aber im Verhältnis zur damals viel geringeren Bevölkerungsdichte müssen es wohl viele gewesen sein. Für mich kommt in vielen aktuellen Forschungsberichten, von denen es im Übrigen nicht gerade viele gibt, ganz offensichtlich ein Hang zur systemimmanenten Verharmlosung und Relativierung zum Ausdruck, wie das auch heute noch bei Femiziden (dem Mord an Frauen, weil sie Frauen sind) und anderen Gewalttaten gegen Frauen leider der Fall ist. Es gibt Quellen, die davon berichten, dass in Norwegen große Teile der weiblichen Bevölkerung mancherorts ausgerottet13 und in Frankreich „[g]anze weibliche Linien […] ausgelöscht“14 wurden: „Deutschland war neben der Schweiz jenes Land, in dem die Hexenverfolgungen aufkamen und ihr Epizentrum hatten“15 – hier hat in manchen Dörfern nach den Hexenprozessen nur noch eine einzige Frau überlebt.16
Der Höhepunkt dieser Verfolgung, der übrigens nach unterschiedlichen Schätzungen neben 75 bis 90 Prozent Frauen auch Männer zum Opfer fielen, fand also nicht, wie viele meinen, im „finsteren Mittelalter“ statt, das im Übrigen bei Weitem noch nicht so finster war – und die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten gingen dabei häufig Hand in Hand und sehr systematisch vor.17 Doch darüber später im Buch mehr.
Es folgte das Zeitalter des Kolonialismus, in dem die Kolonialherren überall auf der Welt unzähligen Völkermord an UreinwohnerInnen verübten beziehungsweise die Befehle für den systematischen Mord erteilten, wie zum Beispiel von deutscher Seite aus der Genozid an den Nama und Herero in Namibia, der bis heute noch nicht in aller Konsequenz von Deutschland anerkannt wurde. Bei diesen auf absolut grausame Weise verübten Genoziden überall auf der Welt sind Millionen Menschen ermordet worden18 und sie sind bis heute nicht annähernd aufgearbeitet oder angemessen anerkannt. Das ist ein sehr großes, schweres Thema, dem ich in diesem Buch sicher nicht gerecht werden kann – und über das die ganze Menschheit hoffentlich einmal gemeinsam wird trauern können. Das wünsche ich mir jedenfalls …
Allein im 20. Jahrhundert gab es zwei Weltkriege mit unzähligen Toten und Schwerverwundeten, nicht nur unter den Soldaten, sondern auch unter allen anderen Menschen, die aber die meisten Kriegsdenkmäler nicht erwähnen. Auch heute noch leiden und sterben vor allem die ganz „normalen“ Menschen („Zivilbevölkerung“ genannt) in den Kriegen dieser Welt, an denen auch deutsche Unternehmen viel verdienen … Und schließlich gab es noch die Zeit des Nationalsozialismus, in der etwa sechs Millionen jüdische Menschen ermordet wurden. Dazu kommen die nichtjüdischen Toten und Verfolgten: russische und andere Kriegsgefangene, polnische Menschen, politisch Verfolgte, Sinti und Roma, homosexuelle Menschen, Menschen mit sogenannter Behinderung und zahlreiche weitere.
Am Beispiel der Vergangenheit dieses Landes, in dem wir jetzt leben, wird überaus deutlich, welche weitreichenden Auswirkungen Kolonialismus, Krieg, Faschismus, Rassismus, Frauenhass und die daraus resultierende Gewalt haben und welche Folgen bis heute jeder Hass auf diejenigen hat, die zum Beispiel als „anders“ oder „fremd“ erklärt werden.19
Die Verfolgung und Ermordung unzähliger Menschen gehört zu unserer Geschichte und muss mit einbezogen werden, um einen Teil des schweren Umgangs mit Tod in diesem Land zu erklären. Die letzten Überlebenden der Verfolgung aus unserer nahen Vergangenheit leben noch unter uns. Genauso wie die letzten Täter und die letzten Überlebenden der Kriegsjahre, die all die Grausamkeiten des Krieges noch miterlebt haben. Viele waren als Kind auf der Flucht und haben Schreckliches erlebt und mit ansehen müssen. Etliche Frauen haben (nicht nur im Krieg) Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt überlebt und ihr ganzes Leben zu vergessen versucht – bis sie manchmal im Alter tatsächlich alles vergaßen. Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls schon oft bei der Bestattungsbegleitung, wenn ich dabei die Lebensgeschichte so mancher alten Frau von den Angehörigen erfuhr.20
Die Nachkriegszeit war eine Zeit, in der über „diese Dinge“ in der Regel nicht gesprochen wurde. Die meisten versuchten, die schlimmen Kriegserlebnisse zu vergessen, oder haben sie verdrängt, um zu überleben. Manche sind Kinder von den Verbrechern, die so viele Menschen ermorden ließen oder es in den Lagern persönlich getan haben. Manche sind Kinder, deren ganze Familien in den Lagern ermordet wurden. Soldaten kamen an Körper und Seele verwundet nach Hause.
All diese traumatischen Ereignisse hinterließen Spuren. Bei denen, die dies alles selbst erlebt hatten, aber auch bei ihren nach dem Krieg geborenen Kindern und Enkelkindern. medica mondiale ist eine feministische Frauenrechts- und Hilfsorganisation, die Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten unterstützt. Auf ihrer Website war im Dezember 2020 unter vielem anderen Folgendes zu diesem Thema zu lesen:
„Um das Schweigen über ihre traumatische Familiengeschichte zu beenden, spricht die in Köln lebende Regisseurin Katja Duregger seit kurzem öffentlich über das Tabuthema Kriegsvergewaltigung. Ihre Großmutter wurde 1938 von italienischen Besatzern in einem Südtiroler Bergdorf vergewaltigt. In der Folge wurde ihr Vater geboren.“21
Die Auswirkungen, die dies für so viele und über mehrere Generationen hinweg hatte und immer noch hat, reichen bis heute noch weit in unsere Gesellschaft, in unser heutiges Leben hinein. Und die Bedeutung von Vergewaltigung, die ganz gezielt als „Kriegswaffe“ benutzt wird, wurde zum ersten Mal in den 1990er-Jahren einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, als die furchtbaren Vergewaltigungslager im sogenannten Bosnienkrieg entdeckt wurden.
Über diese Gewalt, den Schmerz, das Entsetzen über die vielen Toten und die Trauer wurde zum damaligen Zeitpunkt und wird zu einem großen Teil bis heute nicht gesprochen. Das war und ist einfach zu überwältigend. Verdrängung war meiner Ansicht nach oft die einzige Möglichkeit, mit dem Leben in der Besatzungszeit (in der häufig weitere, bis heute tabuisierte Gewalterfahrungen für Frauen hinzukamen) irgendwie weitermachen zu können, denn es ging in diesen ersten Jahren hauptsächlich auch darum, die Trümmer der Zerstörungen des Krieges aufzuräumen, nicht zu verhungern, nicht zu erfrieren und alles Notwendige zum Leben zu beschaffen, um einfach nur zu überleben. So konnte es geschehen, dass nach dem Krieg bei vielen unerträgliche Erinnerungen wieder angerührt wurden, sobald nahestehende Menschen starben.
Ein natürlicher Tod, der zum normalen Kreislauf des Lebens gehört, konnte von all der erlebten Gewalt und den sinnlosen schrecklichen Toden so vieler Menschen überschattet werden. Die Eltern und Großeltern waren deshalb oft nicht in der Lage, einen natürlichen, unbefangenen und angstfreien Umgang mit Tod und Trauer zu vermitteln. Auf allem lastete das Schweigen. Kinder aber spüren gerade das Unausgesprochene der Erwachsenen um sie herum sehr stark. Es ist davon auszugehen, dass sie das namenlose Entsetzen spürten und die Trauer, die nicht gefühlt werden durfte und zum Schock erstarrte, den viele in sich tief vergraben hatten. Sie nahmen die bedrückende Last der niemals ganz zu verarbeitenden Erlebnisse wahr, die so viele Eltern und Großeltern in sich trugen – und so manche trugen diese Last weiter. Niemand konnte mit den Kindern darüber reden und das hat vielen natürlich Angst gemacht. Die Erwachsenen haben zu dieser Zeit sicher so manches Mal bei Bestattungen nicht nur um die jetzt gerade zu betrauernden Toten geweint, sondern auch um jene furchtbaren Erlebnisse und um die Toten, um die sie während der Kriegsjahre nicht trauern konnten – auch um jene, die sie gar nicht persönlich kannten, aber nach einem Bombenangriff auf der Straße sehen mussten …
Ähnliches erleben wir auch heute noch bei Trauerfeiern: So manche weinen und trauern bei diesen Gelegenheiten wohl noch um etwas, für das es zu einer anderen Zeit keinen Raum gab. Sehr oft erzählen uns Menschen, die wir begleiten durften, von lange zurückliegenden Abschieden, bei denen sie nicht so trauern konnten, wie es gut für sie gewesen wäre. Aber Trauer braucht Raum und Zeit – und eine angstfreie Begleitung.
Vielen Menschen fällt es auch heute noch schwer, über den eigenen Tod zu sprechen, mit ihren Kindern oder ihren Lieben über ihre Bestattungswünsche zu reden, sich ihre Bestattung überhaupt vorzustellen, selbst dann, wenn sie schon sehr alt oder sehr krank sind. Das wird auch heute noch oft vermieden, manchmal von beiden Seiten: den Jüngeren wie den Alten. Die meisten Menschen wollen sich lieber nicht damit befassen, dass sie selbst oder geliebte, nahestehende Menschen einmal sterben könnten. Indem sie Gedanken daran oder Gespräche darüber nicht zulassen, glauben sie sich vielleicht davor sicher. Etwas, das in weiter Ferne liegt oder anderen zustößt.
Ein solches Verhalten ist aber meist ein deutliches Zeichen von Angst. Und Angst vor Sterben und Tod bedingt leider auch Angst vor dem Leben.
Fern vom eigenen Zuhause:
Krankenhaus, Heim, Bestattungsunternehmen …
„Wie kam es, dass das Sterben langsam immer weniger weder örtlich noch zeitlich ins Leben passt, zunächst während das Herz noch schlägt und dann, wenn es nicht mehr schlägt?“22
In den 50er- und 60er-Jahren fanden Geburt, Sterben und Tod mehr und mehr im Krankenhaus statt. Aus Tischlereien, die vorher nur den Sarg angefertigt hatten, weil die Menschen alles andere noch selbst übernahmen, entwickelten sich Bestattungsunternehmen. Zunächst um die Jahrhundertwende in den Städten und nur für reiche Menschen, später für alle BürgerInnen und schließlich auch auf dem Land. Für alle, die vorher noch mitten im Leben eingebettet waren: alte, kranke, sterbende, sogenannte „behinderte“ und kleine Menschen wurden nun mehr und mehr die jeweiligen Institutionen (Krankenhaus, Kindergarten, Alten- und Pflegeheim, Behindertenheim etc.) geschaffen und das Leben wurde weiter aufgeteilt in Lohnarbeit und unentlohnte Hausarbeit (Care- bzw. Sorge-Arbeit), öffentliches und privates Leben. Menschengruppen wurden nach Alter, Fähigkeiten und kategorisierten Bedürfnissen sortiert, voneinander getrennt in Einrichtungen untergebracht und von Fachpersonal betreut. Diese Trennung der Lebensbereiche und die Einteilung der Menschen, die uns heute so selbstverständlich scheint, gehört in dieser Weise also noch nicht lange zu unserem Leben und ist auch eine Folge der zunehmenden Industrialisierung.
Auf dem Land ging diese Entwicklung langsamer voran. Manche erinnern sich sogar noch an die Zeit, als die Menschen zu Hause geboren wurden und zu Hause gestorben sind, an die Zeit der Hausaufbahrung und der Totenwache, über die ich später in diesem Buch noch sehr ausführlich schreiben werde. Damals gab es noch mehr Raum und Zeit für das Sterben mitten in unserem alltäglichen Leben.
Gleichzeitig wird der Glaube an die Wunder der modernen Medizin und ihr Einfluss immer stärker. Waren manche alte Menschen in meiner Kindheit noch der Überzeugung, dass es besser ist, einen Arztbesuch oder gar einen Krankenhausaufenthalt zu vermeiden, um gesund zu bleiben, so hat sich das nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch geändert. Verbunden mit einer zumeist sehr unkritischen Fortschrittsgläubigkeit und der allgemeinen Bewunderung der technischen Entwicklungen verloren die Menschen nach und nach viel von ihrem ursprünglichen Vertrauen in alte Hausmittel und ihre eigenen Fähigkeiten, viele Krankheiten zu überstehen, wenn sie zu Hause gut versorgt werden, gesund und zufrieden leben können, ihr Immunsystem stärken und sich genügend Ruhe gönnen können (was alles heute wieder neu entdeckt wird als wesentliche Grundlagen für das, was wir Gesundheit nennen). Die Anforderungen der Arbeitswelt im „Wirtschaftswunderland“ und das Konkurrenzdenken in einer wachsenden Konsumgesellschaft haben die früher funktionierenden Gemeinschaften und Nachbarschaftsnetzwerke geschwächt. Das war vor allen Dingen eine Entwicklung im Westen Deutschlands. Ostdeutsche berichten unter vielem anderen auch von einer größeren Solidarität in einer nicht auf wachsenden Konsum ausgerichteten Gesellschaftsform, die aber trotzdem noch sehr patriarchal (und sehr totalitär) war, denn Frauen konnten zwar in allen Berufen selbstverständlich arbeiten, die Kinder waren währenddessen in Einrichtungen untergebracht, nur leider waren sie auch hier am „Feierabend“ für die (ebenso unbezahlte) Sorge-Arbeit zu Hause weitgehend allein zuständig. Kleinfamilien ersetzten in dieser Zeit immer mehr die Großfamilie, und so war es auch rein praktisch gar nicht mehr so einfach möglich, sich um Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu Hause zu kümmern. Zudem lebten auch immer mehr Menschen allein.
So verschwand sehr viel, was das Leben ausmacht, aus dem alltäglichen Lebensumfeld: wie ein Kind geboren wird, wie ein Mensch zu Hause stirbt und noch drei Tage lang zu Hause aufgebahrt wird, wo sich alle in Ruhe verabschieden können, wie es ist, mit sogenannten „behinderten“ Menschen alltäglich zu leben und zu arbeiten, welche Freude Kinder und alte Menschen zusammen haben können, wie Kranke und Alte zu Hause gepflegt werden, wie Jugendliche mehr und mehr in das soziale Leben integriert werden und verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen können … Auf diese Weise ging immer mehr von dem verloren, was alte Menschen aus ihrer Lebenserfahrung beitragen können – die Ältesten – und was eine Gesellschaft von jungen Menschen und auch kleinen Kindern lernen kann.
Selbst die notwendige und wichtige Entstehung von Hospizen und Geburtshäusern ist Bestandteil dieser Trennung in verschiedene Lebensbereiche. Aus der Erfahrung als Bestatterin und Geburtsbegleiterin weiß ich jedoch, wie wichtig Hospizhäuser, (die meist ehrenamtliche) Hospizarbeit, Palliativstationen und Geburtshäuser in der heutigen Zeit sind, denn sie schaffen einen wichtigen Raum zwischen der medizinischen Klinik- und Pflegeroutine und dem Zuhause, in dem die meisten Menschen unter den heutigen Umständen nicht mehr in der Lage sind, sich gleichzeitig, und in der Regel allein, neben der Lohnarbeit um Haushalt, Kinder, alte Menschen, Menschen mit besonderen Bedürfnissen und kranke Menschen zu kümmern (und in der Mehrheit tun das immer noch Frauen). Auch deshalb ist es für viele nicht (mehr) möglich, zu Hause in Ruhe und gut begleitet zu gebären – oder in Ruhe und gut begleitet zu sterben. Leider wurde mit dieser Entwicklung die Angst vor dem Gebären und dem Sterben zu Hause ohne den medizinischen Interventionsapparat einer Klinik immer größer – und diese Angst wird meiner Erfahrung nach bis heute auch bewusst geschürt.
Auch die Hospize, in der Form, wie wir sie heute kennen, wurden aus der dadurch entstandenen Not geschaffen. Die Landesarbeitsgemeinschaft Hospiz Brandenburg e. V. schreibt dazu:
„Ein starker Impuls kam aus England, wo Ciceley Saunders durch ein Erlebnis im Umgang mit einem sterbenden Patienten die Hospizidee gebar‘ und sich fortan dafür stark machte. Ursprünglich Krankenschwester, absolvierte sie eine Ausbildung zur Sozialhelferin und studierte einige Jahre später noch Medizin, um ihr Ziel, ein Hospiz zu gründen, zu erreichen. Im Jahre 1967 wurde in London das St. Christopher’s Hospice eröffnet, dem sie bis 1985 als medizinische Direktorin vorstand und sich gänzlich als Pionierin der Hospizbewegung einbringen konnte.
Die Schwere des Themas, persönliche Betroffenheit, Ängste und daraus resultierendes Schweigen oder besser eine weit verbreitete Sprachlosigkeit erschweren bis heute den hospizlichen Diskurs. […]
Diese Bürgerbewegung entwickelte sich in den 1970er Jahren noch zaghaft, in den 1980er und 1990er Jahren jedoch stärker zu einer Bewegung, die sich gegen die als unwürdig empfundenen Sterbesituationen, vorwiegend in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, stellte und es sich zur Aufgabe machte, die Tabuthemen Tod und Sterben aufzubrechen und der häufigen Isolation sterbender Menschen etwas entgegen zu setzen: Sowohl durch das persönliche Engagement vieler ehrenamtlicher BegleiterInnen in der Häuslichkeit und in Einrichtungen (ambulante Hospizarbeit) als auch durch den Aufbau von Einrichtungen als Hort eines menschenwürdigen Umgangs mit Sterbenden (stationäre Hospize). Die Einbeziehung und gleichzeitige Begleitung Angehöriger, Nahestehender oder Freunde ist dabei von Anfang an wesentlich. Daher ist es naheliegend, dass auch Trauer und Abschied schnell zum festen Bestandteil hospizlicher Arbeit wurde.“23
Im Grunde gehören all diese Bereiche – vom Beginn bis zum Ende eines Lebens – zusammen. Wie würde eine Welt aussehen, in der Menschen allen Alters in verschiedenen Lebenssituationen und mit ihren unterschiedlichsten Fähigkeiten und Bedürfnissen zusammenleben und sich umeinander kümmern würden? Mehrgenerationenhäuser und Gemeinschaftsprojekte aller Art auf dem Land und in den Städten sind hier schon ein guter Anfang. Und es gibt noch viel zu lernen, wie wir (wieder) ein ganz neues Zusammenleben entwickeln – frei von den Hierarchien, der Enge und den Zwängen, die oft in den früheren Großfamilien herrschten und die besonders das Leben von Frauen erschwerten. Wie würde das wohl aussehen, wenn wir dem Wissen wieder Raum geben, dass die Kleinen sehr gerne und mit großer Freude lernen, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, dies in Freiheit zu tun, wenn wir die kleinen Menschen, unsere Kinder, ernst nehmen, wenn wir uns alle und alles Leben auf dieser Erde ernst nehmen?
Aus der Vergangenheit lernen, um die Zukunft zu schaffen, in der wir alle gut miteinander leben können … Ich bin mir sehr sicher, dass wir uns das im Grunde unseres Herzens alle wünschen. Es ist möglich, diesem Herzenswunsch zu folgen und ihn zu unserer Wirklichkeit zu machen. Jetzt ist die Zeit.