Kitabı oku: «Zobel», sayfa 2
Doch das diplomatische Geschick der Mutter setzte sich durch. Der Vulkan brodelte, aber er brach nicht aus. Ihrem Mann die eigene Sicht der Dinge so beizubringen, dass er glaubte, selbst darauf gekommen zu sein – darin war seine Mutter unschlagbar. Nachdem Otto Zobel die vor allem für seinen Seelenhaushalt unverzichtbare Standpauke beendet hatte, machte er seinem überraschten Sohn ein verlockendes Angebot: „Junge, wenn Du schon so gut bist, dann kannst Du auch gleich in Uelzen spielen.“
Kurz darauf wechselte er erst zu Teutonia und später, als er auf das Gymnasium der Herzog-Ernst-Schule kam, zum SC 09. Dort kickten die meisten seiner Klassenkameraden. Ein weiterer Vorteil: Anders als Teutonia galt der Sportclub Uelzen von 1909 als Verein der gehobenen Mittelschicht. Rainer machte sich nichts daraus, aber seinen in Statusfragen sensiblen Vater konnte er damit besänftigen. Wenn schon Fußball, dann wenigstens im Verein für die besseren Leute.
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„Tolopen Pack!“ Übertriebene Freundlichkeit oder gar Herzlichkeit schlug den Millionen Pommern, Schlesiern oder Ostpreußen, die nach Ende des 2. Weltkriegs im noch verbliebenen Deutschland ankamen, nur selten entgegen. Auch nicht in Niedersachsen, und schon gar nicht auf den Dörfern. Die Stimmung war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, frostig bis feindselig. Jeder war sich selbst am nächsten und sah zu, irgendwie durchzukommen. Das war schwer genug. Und das wenige, was man besaß, sollte man nun auch noch teilen? Mit Fremden? „Tolopen Volk“, zugelaufenes Volk, gehörte noch zu den freundlicheren plattdeutschen Umschreibungen für Flüchtlinge und Vertriebene, gängiger war die Rede vom „tolopen Pack“. Auch „Polacken“, „Zigeuner“ oder „Rucksackdeutsche“ zählten zu oft gehörten Schmähungen.
Rainer Zobels Familie hatte die pommersche Heimat im Februar 1945 verlassen. Bis dahin war in Naugard kaum etwas vom Krieg zu spüren gewesen. Als die Nachrichten von der bevorstehenden Einnahme durch die Rote Armee die Runde machten, leerte sich die Stadt aber schlagartig. Am 4. März begannen die Kämpfe um Naugard, bei denen das Stadtzentrum nahezu vollständig zerstört wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Zobels und Retzlaffs bereits auf der Flucht: die Mutter, die ältere Schwester Karla, Onkel, Tante und die Großeltern. Mit seinem Vater hatte es das Schicksal etwas besser gemeint, er befand sich in französischer Gefangenschaft und hatte den Krieg vergleichsweise glimpflich überstanden. Nach einem Kniedurchschuss kam er erst ins Lazarett, dann direkt in die Gefangenschaft und wurde 1947 entlassen. Gut ein Jahr vor Rainers Geburt.
„Wir machen erst Halt, wenn wir den ersten englischen oder amerikanischen Soldaten sehen“, hatte sein Onkel die grobe Richtung vorgegeben. Die paar Sachen, die sie bei sich hatten, waren in einem Handwagen verstaut. Im Puppenwagen der Schwester lag Proviant für eine Reise, von der niemand wusste, wie lange sie dauern und wo sie enden würde. Große Teile der Strecke legten sie zu Fuß zurück, ab und zu wurden sie von einem Pferdefuhrwerk mitgenommen oder ergatterten mit viel Glück einen Platz in den wenigen und hoffnungslos überfüllten Zügen, die noch unterwegs waren.
Mit dem Zug erreichten sie im Februar 1945 Uelzen, ohne dort allerdings in Sicherheit zu sein. Im Schritttempo waren sie in den Bahnhof eingefahren, als britische Kampfbomber ihre Fracht abwarfen. Uelzen war als Eisenbahnknotenpunkt ein strategisch wichtiges Ziel der Alliierten, hier wurden landwirtschaftliche Güter, aber auch Vieh verladen und damit die Versorgung großer Teile der Bevölkerung sichergestellt. Ilse Zobel erzählte ihrem Sohn später oft, wie verwundert sie darüber war, als sie nach dem Bombenangriff völlig verängstigt aus dem Fenster schaute und registrierte, dass der Zug den Bahnhof längst verlassen hatte. Sie befanden sich mindestens zehn Kilometer außerhalb Uelzens auf freiem Feld, von der Stadt war nichts zu sehen. Um ihr Leben und das ihrer Familie zitternd, hatte sie überhaupt nicht mitbekommen, dass der Zug wieder ganz langsam losgefahren war.
Wenige Kilometer weiter, im niedersächsischen Wendland, endete die Flucht. Eine dünn besiedelte Gegend mit fremd klingenden Namen: Waddeweitz, Reddebeitz oder Salderatzen hießen die winzigen Dörfer. In ein paar Jahren würde man vom Zonenrandgebiet sprechen. Hier kamen sie erst einmal unter, bis der Großvater eines Tages hörte, dass in der Gemeinde Wrestedt in der Lüneburger Heide dringend ein Schuster gesucht wurde. Der Ort lag zwar 30 Kilometer entfernt und war nicht einfach zu erreichen, aber die Chance auf Arbeit wollte er sich nicht entgehen lassen. Friedrich Retzlaff machte sich auf den Weg und überzeugte den Bürgermeister davon, genau der richtige Mann für diese Stelle zu sein. Obwohl er nun für sich und seine Familie sorgen konnte, niemandem auf der Tasche lag und seinen erlernten Beruf wieder ausübte, blieb die Distanz zu den Einheimischen.
Der Landkreis war zu dieser Zeit voller Flüchtlinge, im Notaufnahmelager am Bohldamm in Uelzen wurden im Schnitt 6.000 pro Tag registriert und anschließend in alle Richtungen verteilt. Nicht wenige blieben aber auch, die Bevölkerungszahl war im Vergleich zur Vorkriegszeit um 80 Prozent gestiegen. Das sorgte für Spannungen. Flüchtlingsvertreter beschwerten sich über schlechte Behandlung oder darüber, dass die Arbeitslosigkeit unter Flüchtlingen besonders hoch war und sie Tätigkeiten verrichten mussten, die nicht im Mindesten ihren oft deutlich höheren Qualifikationen entsprachen. Es dauerte Jahre, bis sich die Lage im Landkreis Uelzen wieder halbwegs entspannte.
Auch dem kleinen Rainer blieb die Erfahrung nicht erspart, dass es aus der Herkunft seiner Familie kein Entkommen gab. Seine Großeltern waren in Wrestedt bei einem Bauern einquartiert worden. Für einen bewegungsfreudigen und abenteuerlustigen Jungen die perfekte Umgebung, aber so sehr es ihn auch zu seinen Großeltern zog, ganz ungetrübt war die Vorfreude auf die Besuche nicht. Das lag an Pohlmann, dem Schwiegervater des Bauern. Ein griesgrämiger alter Mann, der seine noch verbliebene Lebensfreude daraus zog, auf die strikte Einhaltung der Hausordnung zu achten. Vor allem bei den Ruhezeiten duldete er keinen Verstoß. Wenn Rainer die Treppe runter rannte, wartete dort bereits Pohlmann und schnauzte ihn an: „Zu laut!“ Eines Tages stand er wieder am Treppenaufgang. Diesmal verpasste Pohlmann dem Jungen ohne Vorwarnung eine saftige Ohrfeige, verbunden mit der Bemerkung: „Flüchtlingskind!“ Rainer wusste sofort, was da alles mitschwang, dass es nicht nur die Ohrfeige war, die ihm Schmerzen bereitete. Er behielt diese Demütigung zunächst für sich. Als Pohlmann jedoch dazu überging, ihm gewohnheitsmäßig eine zu knallen, öffnete Rainer sich seinem Vater.
Otto Zobel war ein typischer Vater der 50er Jahre. Streng bis autoritär, was er sagte, galt. Kein Freund großer Worte oder Erzählungen. Für die emotionale Versorgung zu Hause war die Mutter zuständig. Oft hatte Rainer versucht, ihm etwas über seine Kriegserlebnisse zu entlocken, aber er kam nicht an ihn heran. Kein Vater, dem man sich als Sohn wie selbstverständlich anvertraute, aber wer hatte solche Väter schon? Die seiner Freunde waren ähnlich. Wahrscheinlich glaubte Otto Zobel sogar, ein liebevoller Vater zu sein, denn dass er das Beste für seine Kinder wollte, stand für ihn außer Frage. Und Rainer konnte sich auf ihn verlassen, wenn es ernst wurde und er mal wieder irgendwelchen Blödsinn verzapft hatte oder es in der Schule Schwierigkeiten gab. Er ließ seine Kinder nicht hängen, wollte, dass aus ihnen mal etwas Anständiges wird. Eine gute Schulausbildung war ihm wichtig, möglichst Abitur, und dann einen Beruf, der auch etwas hermachte. Es reichte, dass mit ihm einer in der Familie die Ochsentour wählen musste, um vorwärtszukommen. Und mit diesen Zielen vertrug sich eine Erziehung der harten Hand durchaus. Wenn diese harte Hand aber gelegentlich Ohrfeigen verteilen musste, sollte es seine sein. Nur seine.
Otto Zobel hörte sich an, was sein Sohn über Pohlmann zu sagen hatte, und ging dann mit ihm zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Die Sache wurde auf dem kleinen Dienstweg geregelt, wie man es auf dem Land eben handhabt, wo jeder jeden kennt. Der Dorfpolizist erschien auf dem Hof und ermahnte Pohlmann zu zivileren Umgangsformen. Danach ließ er Rainer in Ruhe.
In Uelzen gab es keine Pohlmanns, jedenfalls zeigten sie sich Rainer nicht. Die Stadt hatte über 30.000 Einwohner und war groß genug, um als Neuankömmling nicht sofort aufzufallen. Schon gar nicht in der Kasernenstraße, wo die Zobels wohnten. Dort glich ein Haus dem anderen. Das seiner Eltern lag in einem langen Block etwa in der Mitte. Ein schmales Haus, mit einer Grundfläche von kaum mehr als 30 Quadratmetern, zwei Stockwerke hoch. Unten waren Küche und Wohnzimmer, darüber Bad und Elternschlafzimmer, in dem auch Rainers Bett und das seiner jüngeren Schwester Dagmar standen, sowie das einzige Kinderzimmer. In dem schlief die ältere Schwester, aber Rainer stand auf Platz eins der Warteliste, und als Karla mit gerade einmal 19 Jahren als junge, verheiratete Frau die elterliche Wohnung verließ, rückte der zehnjährige Bruder nach. Das Haus hatte noch einen Kohlenkeller und ein Dachgeschoss als Ausbaureserve. Im Gegensatz zu den anderen Familien in ihrer Straße verzichteten die Zobels aber auf zusätzlichen Wohnraum. Es musste auch so reichen.
Einmal im Monat brachte sein Vater Geld mit nach Hause und legte es auf den runden Esstisch in der Küche, an dem die Eltern oft mit den Nachbarn saßen und Doppelkopf spielten. Sein Gehalt wurde zwar schon aufs Konto überwiesen (die Lohntüte war etwas für Arbeiter), aber wenn Otto Zobel mit seiner Frau die einzelnen Posten durchging, sollte auch Bares auf dem Tisch liegen. Das machte die Haushaltsführung noch übersichtlicher, als sie ohnehin schon war, denn der finanzielle Spielraum war gering. Wenn seine Eltern den kommenden Monat planten, ging es um die wirklich notwendigen Dinge und nicht darum, irgendwelche Wünsche der Kinder zu erfüllen. Das Geld wurde in drei Haufen eingeteilt: einen fürs Essen, einen für die Kleidung und einen für Sonstiges. Der war immer der kleinste. Im Grunde waren die Zobels auch für damalige Verhältnisse arm, ohne dass man es ihnen ansah. Rainers Mutter legte bei sich und den Kindern viel Wert auf gute, gepflegte Kleidung, die sie überwiegend selbst schneiderte. Auch wenn das Geld knapp war, sollte doch alles seinen Schick haben.
Ilse und Otto Zobel besaßen nie ein Auto, hatten ihr Leben lang nicht einmal einen Führerschein. Als die Deutschen in den 50er Jahren die Reiselust überkam und sie im Volkswagen Italien als ihr Sehnsuchtsland entdeckten, blieben die Zobels zu Hause in der Lüneburger Heide. Nur einmal gönnten sie ihren Kindern den Luxus einer größeren Reise. Sie begann kurz nach Sonnenaufgang auf dem Bahnhof in Uelzen, wo die Familie in einen Dampfzug stieg und nach Travemünde fuhr. Von dort ging es mit der Fähre ins dänische Gedser, ein paar Stunden Ostseeluft schnappen, dann wieder ab auf die Fähre und am frühen Abend zurück. Als sie zu Hause ankamen, war es schon weit nach Mitternacht. Rainers erster Auslandsaufenthalt! Es sollten bald weitere folgen, denn die Sache mit dem Fußball entwickelte sich prächtig und sollte ihn in Länder führen, auf die er noch nicht einmal in seinem Schulatlas gestoßen war.
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Eigentlich wollte er immer nur spielen. Ob Abwehr, Mittelfeld oder im Sturm, das war für ihn nicht so entscheidend. Über irgendetwas mussten sich ja auch die Trainer ihre Köpfe zerbrechen. Bei ihm hatten sie die Qual der Wahl, nur im Tor gab es Geeignetere, obwohl er selbst da keine schlechte Figur abgab, denn er verfügte über eine enorme Sprungkraft. In der A-Jugend des SC Uelzen gab es eine ganze Menge guter Fußballer, aber Rainer war schneller, ballsicherer und torgefährlicher als die anderen. Eine Allzweckwaffe, flexibel einsetzbar, der Traum eines jeden Trainers. Musste ein Vorsprung über die Zeit gebracht werden, spielte er hinten, lag seine Mannschaft im Rückstand, im Sturm. Als Spielgestalter im Mittelfeld? Warum nicht? Sein Platz war dort, wo er gebraucht wurde. So machte ihm Fußball Spaß und viel mehr als Spaß verlangte Rainer vom Fußball auch gar nicht.
Sein Talent war ungleich größer als sein Ehrgeiz. Jede Form von Verbissenheit war ihm fremd. Keiner, der bis zur Erschöpfung trainierte oder um Sonderschichten bettelte, um noch besser zu werden. Was einen sehr guten Fußballer ausmachte, brachte er mit – Technik, Kondition, Spielübersicht. Und er konnte sich durchsetzen. Jahrelanges Kicken auf der Straße mit deutlich Älteren und Kräftigeren zahlte sich jetzt aus. An ihm kamen nur die ganz Ausgeschlafenen vorbei und ihn auf dem Weg nach vorne zu bremsen, war eine mindestens ebenso anspruchsvolle Aufgabe.
Rainer träumte weder von großen Vereinen noch von Pokalen oder Meisterschaften. Gewinnen war schon in Ordnung, aber sein Leben dem Fußball unterordnen und einem Plan folgen, der ihn vielleicht einmal ganz nach oben führte, kam für ihn nicht in Frage. Es klappte doch auch so und ging stetig eine Stufe höher: Kreisauswahl, Bezirksauswahl, Landesauswahl.
Die erste Reise seiner noch jungen Laufbahn führte ihn wieder nach Dänemark. Diesmal allerdings länger als nur für ein paar Stunden, zu einem großen Jugendturnier nach Jütland. Das hatte schon einen Hauch von internationalem Flair. Noch aufregender waren die Spiele mit der norddeutschen Auswahl in Berlin, denn aus Sicherheitsgründen flog die Mannschaft mit einer PanAm-Maschine in die seit kurzem durch eine Mauer geteilte Stadt. Ihr Sohn in einem Flugzeug! Wohin einen der Fußball doch führte, staunten Ilse und Otto Zobel.
Wenn sich die Auswahlmannschaften der norddeutschen Bundesländer zu ihren regelmäßigen Turnieren trafen, reisten auch DFB-Trainer an, um nach geeignetem Nachwuchs zu fahnden. Andere Gelegenheiten gab es nicht. Zobel lief dann immer zu großer Form auf. Gar nicht mal, weil er so heiß darauf war, in die Jugendnationalmannschaft berufen zu werden. Der eigentliche Reiz lag für ihn darin, anderen zu zeigen, was er draufhatte, dass er mehr als nur mithalten konnte. Wie früher als Sechsjähriger, den die Großen nicht wegschickten, sondern sich um ihn stritten. Wenn er nach solchen Sichtungsturnieren wieder nach Hause fuhr, meistens mit sich und der Welt zufrieden, war die Sache für ihn erledigt. Er hatte sein Bestes gegeben, alles Weitere lag nicht mehr in seiner Hand. Warum sich also verrückt machen und täglich der Ankunft des Postboten entgegenfiebern? Entweder sie nahmen ihn oder sie nahmen ihn nicht. Er würde mit beiden Möglichkeiten leben können.
Trotzdem war er mächtig stolz, als der erste Brief aus der Frankfurter Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes eintraf. Er gehörte nun zur Jugend-Nationalmannschaft. Der Junge hatte es zu etwas gebracht, das mussten auch die mindestens ebenso stolzen Eltern anerkennen. Ilse und Otto Zobel fingen an, mit großem Eifer Zeitungsartikel über ihren Sohn zu archivieren. Rainer wäre nie auf eine solche Idee gekommen. Für ihn zählte das Spiel. Alles andere nahm er nicht so wichtig.
Parallel zu Rainers sportlichen Erfolgen ging es auch für Otto Zobel auf der Karriereleiter nach oben. Nach mehreren erfolgreich bestandenen Lehrgängen wurde er als Inspektor in den Beamtendienst berufen. Er hatte es ja immer gewusst, dem Tüchtigen gehört die Welt! Jetzt nur nicht nachlassen, die nächsten Etappen warteten schon: Oberinspektor, Amtmann, Oberamtmann – Rainers Vater legte ein beachtliches Tempo hin, erklomm in jeweils kürzester Zeit die nächste Sprosse und zügelte seinen Ehrgeiz erst, als er sein großes Ziel erreicht hatte: den höheren Dienst! Ein Oberrat mit Volksschulabschluss! Damit galt er innerhalb des Beamtenapparates als Exot.
Sein stetiger beruflicher Aufstieg war für ihn und seine Familie auch mit einigen Ortswechseln verbunden. Einer führte in den Westen Niedersachsens, nach Bad Zwischenahn, dort übernahm er die Leitung des Arbeitsamtes. Rainer war jetzt 17 Jahre, kein gutes Alter, um Wohnort und Schule zu wechseln. Und den Verein: ein paarmal lief er für den VfL Bad Zwischenahn auf, aber beim SC Uelzen wollte man dieses Juwel nicht so einfach ziehen lassen, machte etwas Geld locker und bezahlte Rainer die Bahnfahrten zu den Spielen. Nach bestandener Führerscheinprüfung stellten sie ihm sogar ein Auto zur Verfügung – einen recht betagten VW Käfer. Er war also nicht ganz weg aus seiner vertrauten Umgebung, verbrachte aber an Wochenenden viel Zeit in Zügen und auf Straßen. Knapp drei Stunden Fahrzeit waren es bis nach Uelzen und zurück, dazu die Reisen zu den Auswärtsspielen und den Lehrgängen der Auswahlmannschaften. Um nicht dauernd unterwegs zu sein, übernachtete er häufig bei seiner älteren Schwester in Uelzen. Der Fußball hatte sich in seinem Leben jetzt doch ziemlich breit gemacht. Die Leistungen auf dem Platz waren höchst erfreulich, die in der Schule weniger. Bis dahin hatte es immer noch so gereicht, um über die Runden zu kommen, aber nun brachte er erstmals ein Zeugnis mit nach Hause, auf dem in der Rubrik „Bemerkungen“ die folgenschweren Worte „Nicht versetzt“ standen.
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Neben dem Fußball und der Schule jobbte Rainer zweimal wöchentlich in der Bäckerei Diercks. Dienstags und donnerstags stand er am Steinofen und half dem Gesellen, mit einem langen Schieber die Brote aus dem Ofen zu holen. Keine allzu anstrengende Arbeit, und da es ein bisschen dauerte, bis die beiden Öfen heiß genugwaren, freute sich der Geselle über ausreichend Zigarettenpausen. Wann immer er sich eine ansteckte, bot er Rainer eine an, aber der lehnte dankend ab. Er war schließlich Fußballer, Nationalspieler sogar. Irgendwann nahm der Geselle das persönlich. „Wenn Du jetzt nicht eine mitrauchst, suche ich mir einen anderen zum Broterausziehen“, drohte er. Rainer musste nicht groß rechnen, um zu wissen, was auf dem Spiel stand: Pro Schicht verdiente er zehn Mark, also 80 im Monat. Eine Menge Geld. Er griff zu und zog eine Ernte 23 aus der Schachtel. „Bester Geschmack, aus edlen Tabaken leicht gemischt:“ So versprach es wenigstens die Werbung. Rainer konnte das nicht bestätigen, trotzdem rauchte er von nun an dienstags und donnerstags zwei Zigaretten, in jeder Pause eine. Später als Profi würde er die Ration deutlich erhöhen.
Der Sohn des Bäckers hieß Gerhard, war ein Jahr älter als er und ebenfalls ein begeisterter Fußballspieler. Die beiden freundeten sich an und planten für den Sommer 1966 eine Tour nach England, zur Fußball-Weltmeisterschaft! Wir bleiben dort, bis uns das Geld ausgeht, hatten sie sich vorgenommen. Deshalb sparten sie auch an Reisekosten und trampten. Die ersten hundert Kilometer verbrachten die beiden Freunde auf einem Fischtransporter, der Fahrer hatte in Bad Zwischenahn eine Ladung Jungaale abgeliefert und sie anschließend mit zum Dümmer See genommen. Nicht gerade der Ort, der ihnen als erstes Etappenziel vorschwebte, aber Hauptsache, die Reise kam ins Rollen und als Tramper verbot es sich ohnehin, allzu wählerisch zu sein. Am Dümmer See hatten sie mehr Glück und lernten jemanden kennen, der sie mit nach Belgien nahm. Spätabends erreichten sie Brügge, fanden aber keine Jugendherberge mehr und übernachteten im Freien. Tags drauf ging es weiter nach Calais, von dort mit der Fähre nach Dover. Das erste unvergessliche Erlebnis dieser Reise: Sie hatten kaum abgelegt, als Rainer so übel wurde, dass er sich von Deck an geeignetere Orte verabschiedete.
Endlich an Land gönnten sie sich in Kent eine Übernachtung in einer halbwegs bezahlbaren Unterkunft. Die folgenden Tage verbrachten die Jungs aus Bad Zwischenahn in der Hauptstadt. Zwei Fußballreisende, denen es um mehr als nur Fußball ging. Sie wollten das „Swinging London“ kennenlernen, ein bisschen was vom revolutionären Aroma aufnehmen, das die Musik dieser Zeit verströmte. Mit 14 hatte Rainer einen Kofferplattenspieler bekommen, von Philipps, der Kofferdeckel diente zugleich als Lautsprecher. Die erste Platte war ein Geschenk seiner Schwester Karla: „Wir wollen niemals auseinander gehen“, versprach Heidi Brühl. Die zweite kam von seinen Eltern, „Der lachende Vagabund“, damals ein echter Hit: „Was ich erlebt hab’, kann nur ich erleben. Ich bin ein Vagabund. Selbst für die Fürsten soll es grauen Alltag geben, aber meine Welt ist bunt“, sang Fred Bertelmann. Rainer mochte diese Musik, der Text passte ja auch zu ihrer Reise, aber sein Geschmack hatte sich geändert, inzwischen hörte er nahezu alles, was aus England kam. Die 60er waren die große Zeit des Mersey-Beats, Bands wie die Seachers, Gerry & The Pacemakers und natürlich die Beatles gaben den Ton an. Die für viele seiner Altersgenossen wichtige musikalische Standortfrage „Beatles oder Stones?“ hatte er längst geklärt – er verehrte beide!
Mit seinem Freund Gerhard tauchte er, so tief es ging, in eine Stadt ein, die Mick Jagger nur zwei Jahre später so verschlafen fand, dass hier kein Platz sei für einen „Street Fighting Man“. Sie hingen mit den Hippies und Gammlern am „Piccadilly Circus“ rum, klapperten die Plattenläden auf der „Carnaby Street“ ab und deckten sich auch modisch mit dem Nötigsten ein. Rainer hatte es auf einen britischen Parka abgesehen, den es angeblich nur auf der „Carnaby Street“ zu kaufen gab. Seine Freunde liefen fast alle mit Jeans und Parka durch die Gegend, es kam also auf den feinen Unterschied an. Etwa einen „Union Jack“ auf dem Ärmel. Dass das „Swinging London“ weit mehr war als eine aufregende Erzählung, dämmerte den beiden, als sie nach zwei Tagen in der Hauptstadt in einem Band-Bus von London nach Sheffield fuhren. Sie hatten die Musiker in einem Club kennengelernt und das Angebot zur Weiterreise gerne angenommen.
In Sheffield traf die deutsche Nationalmannschaft zunächst auf die Schweiz, ganz in der Nähe, in Derbyshire, hatte sie Quartier bezogen und dort hoffte Rainer, an Karten zu kommen. Ohne seinen Besuch angekündigt zu haben, stand der künftige Jugend-Nationalspieler auf der Matte und trug seinen Wunsch vor. Da Udo Lattek und Dettmar Cramer, die beiden Assistenten von Bundestrainer Helmut Schön, mit dem Namen Zobel etwas anfangen konnten, kam er ohne Probleme an die Tickets. Auch für die nächsten Spiele deckten sie sich ein. Rainer und sein Freund Gerhard sahen ein 5:0 gegen die Schweiz im Hillsborough-Stadion, dann ein müdes 0:0 gegen Argentinien in Birmingham und schließlich das entscheidende Gruppenspiel gegen Spanien, wieder in Birmingham.
Bei einer Niederlage wäre die DFB-Auswahl früher als die beiden Groundhopper aus Bad Zwischenahn zu Hause gewesen, ein keineswegs unrealistisches Szenario. Der Gegner war immerhin amtierender Europameister und behauptete von sich, die stärkste spanische Mannschaft aller Zeiten zu sein. Beide Teams lieferten sich ein außergewöhnliches Spiel: „Der Villa Park krachte nur so vor Applaus von der ersten bis zur letzten Minute“, schrieb der „Daily Telegraph“. „Das Spiel war ein reichlich verdienter Triumph für Deutschland und ein totaler Sieg für das Fußballspiel.“ Nachdem die Spanier 1:0 in Führung gegangen waren, traf Lothar Emmerich kurz vor der Halbzeit zum Ausgleich. Durch ein „Wundertor“, so die seitdem mehr oder weniger amtliche Bezeichnung: „Ich habe nicht einfach draufgeknallt, sondern instinktiv die Lage gepeilt und den richtigen Winkel gewählt“, sagte der Stürmer von Borussia Dortmund hinterher. Wer wollte, konnte ihm das glauben. Wahrscheinlich war aber auch ein bisschen Glück im Spiel, als Emmerich in der 39. Minute den Ball praktisch von der Torauslinie in den Winkel hämmerte: „Oh, what a goal by Emmerick“, war der BBC-Reporter schwer von den Socken und auch auf der Tribüne hinter dem Tor musste sich ein jubelnder Rainer Zobel bei seinem neben ihm stehenden Freund vergewissern, ob der gerade eben dasselbe gesehen hatte wie er. Uwe Seelers 2:1 in der 84. Minute brachte die deutsche Mannschaft ins Viertelfinale.
Nach dem Abpfiff feierten Rainer und Gerhard mit anderen deutschen Fans auf dem Bahnhof in Birmingham, tranken dem Anlass entsprechende Mengen Bier, bis sie irgendwann feststellten, dass sie nicht nur müde waren, sondern auch den letzten Zug zurück nach Sheffield verpasst hatten. Sie entdeckten auf einem Abstellgleis einen geöffneten Waggon, legten sich dort hinein und schliefen ihren Rausch aus. Allemal bequemer, als auf den harten Bahnhofsbänken zu übernachten.
Als sie wieder aufwachten, war es schon hell und der Zug fuhr in den Bahnhof von Coventry ein. Dort standen sie nun, wieder nüchtern, aber ohne ihr Reisegepäck. Das hatten sie in der Jugendherberge in Sheffield zurückgelassen. Eine möglichst schnelle Rückkehr war aber noch aus einem weiteren Grund geboten: in Sheffield traf die deutsche Nationalmannschaft in zwei Tagen auf Uruguay. Karten für das Spiel hatten sie bereits, aber sie wollten auch erleben, wie die Spannung in der Stadt vor diesem wichtigen Spiel stieg. Viertelfinale, so langsam ging das Turnier in seine entscheidende Phase. Das Feld wurde kleiner, ihr finanzieller Spielraum allerdings auch. Bis zum Endspiel würden sie es kaum noch schaffen.
Auch der kleine, rot-grün karierte Puppenkoffer seiner jüngeren Schwester Dagmar, den die beiden in den Wochen vor ihrer Tour bis zum Rand mit Zwei-Pfennig-Stücken gefüllt hatten, hatte deutlich an Gewicht verloren. Die Sache war zwar illegal, aber mindestens ebenso verlockend. Irgendjemand hatte Rainer vor Beginn ihrer Reise den sachdienlichen Hinweis gegeben, dass sich die deutschen Zwei-Pfennig-Stücke nicht von den Sixpence-Münzen unterschieden und in die britischen Snack-Automaten passten. Der Kurs für ein Sixpence lag bei etwa 30 Pfennig, auf dieser Basis ließ sich der Preis für Fish & Chips, Cola und andere Grundnahrungsmittel schon einmal erheblich drücken. Aber auch diese Quelle war inzwischen nahezu ausgetrocknet und nach dem 4:0 gegen Uruguay im Viertelfinale waren ihre Reserven aufgebraucht. Die Reisekasse war leer, der sportliche Erfolg der deutschen Nationalmannschaft überstieg die finanziellen Möglichkeiten der beiden Freunde aus Bad Zwischenahn. Schweren Herzens machten sich Rainer und Gerhard noch vor dem Halbfinale gegen die UdSSR auf den Heimweg.
Dass die unfreiwillige und vorzeitige Heimreise auch ihr Gutes hatte, wurde den beiden erst nach dem Abpfiff des Finales bewusst. In diesen bitteren Stunden waren sie zu Hause im Kreise der Familie und unter Freunden besser aufgehoben. Fußball-Deutschland stand unter Schock. Der „kicker“ wollte sogar 1.000 Mark Belohnung für ein Foto bezahlen, auf dem klar zu sehen war, dass der Ball die Linie überschritten hatte: „Um den Verdacht einer Montage auszuschließen, muß mit der Aufnahme auch der Negativfilm eingereicht werden. Falls mehrere Fotos eingehen, entscheidet der Zeitpunkt der Absendung (Poststempel). Es geht uns nur um die Wahrheit, gleichgültig wie sie lautet. Denn auch eine bittere Wahrheit wäre immer noch besser als das nagende Gefühl, Unrecht erlitten zu haben. Tausend Mark Belohnung – wir würden sie gerne bezahlen.“
Fünf Jahre später, 1971, sollte Rainer Zobel in seinem ersten großen Finale ein Schuss gelingen, der den von Sir Geoffrey Hurst zum berühmten „Wembley-Tor“ noch in den Schatten stellte. Er brachte es damit sogar bis in die Wochenschau der Kinos. Nach mehreren Zeitlupen bemerkte der Kommentator in Anspielung auf das WM-Finale von 1966: „Diesmal war er wirklich drin.“