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III
Das Haus des Chevalier de la Graverie von außen und innen
Das Haus Nr. 9 in der Rue des Lices stand zwischen Hof und Garten; aber der Hof war nicht wie gewöhnlich vor dem Hause und der Garten hinter demselben, sondern der Hof war links und der Garten rechts. Das Haus stand dicht an der Straße.
Man nahm gewöhnlich den Weg über den Hof, dessen einzige Zierde ein seit zehn Jahren nicht beschnittener und sich am Giebel des Nachbarhauses hinauf schlängelnder Weinstock war; die üppig wuchernden Reben erinnerten an die Urwälder der neuen Welt.
Der Hof war mit Sandsteinen gepflastert, aber das Gras, durch die Feuchtigkeit des Bodens und den Schatten der Dächer begünstigt, war so dicht aus den Fugen hervorgewachsen, dass es eine Art Schachbrett en relief bildete, dessen Felder durch die Pflastersteine gebildet waren. Leider war der Chevalier de la Graverie kein Schach- oder Damenspieler, und es war ihm daher nicht in den Sinn gekommen, aus diesem Umstand, der einem Méry oder Labourdonnais große Freude gemacht haben würde, Nutzen zu ziehen.
Das äußere Ansehen des Hauses war so kalt und traurig, wie die meisten Wohnungen in den alten französischen Städten. Der Mörtel hatte sich stellenweise abgelöst, und das Gemäuer war zu sehen. Die Vorderseite des Hauses war da. her mit einem durch Hautkrankheit entstellten Gesicht zu vergleichen. Die Fensterrahmen waren schwärzlich, die Scheiben klein und von grünem Glas.
So lange man erst durch den Hof gegangen war, und im Erdgeschoss stehen blieb, musste man in die offene Küche einen Blick werfen, um einen einigermaßen respektablen Begriff von dem Hausherrn zu bekommen; denn man bemerkte einen weißen Porzellanofen, sauber und blank wie der Fußboden eines holländischen Wohnzimmers. Neben dem Ofen stand ein großer Herd, auf welchem lange Holzscheite, wie zur Zeit unserer Altvorderen, brannten, und ein Bratspieß drehte sich mittelst jener klassischen Mechanik, die das Klappern einer Mühle so anziehend nachahmt. Ein Rost mit glühenden Kohlen gab Zeugnis von dem geläuterten Geschmack des Chevalier de la Graverie, der wohl wusste, dass ein saftiger Rostbraten nicht in einem Ofen von Eisenblech bereitet werden soll. An der Wand hingen ein Dutzend nach Form und Größe geordneter Kasserolle, die täglich blank geputzt wurden, wie Kanonen eines Linienschiffs ersten Ranges; von dem großen unverzinnten Kessel, der für Marmelade und Konfitüren bestimmt ist. bis zu den winzig kleinen Gefäßen, in denen die Kraftsuppen, Spiegeleier, Krammetsvögel und andere Produkte der höheren Kochkunst zubereitet werden.
Wer da wusste, dass der Chevalier de la Graverie allein, ohne Weib und Kind, ohne Hund und Katze, ohne irgend einen Tischgenossen lebte, und dass seine ganze Dienerschaft aus der alten Haushälterin Marianne bestand , erkannte an, diesem Küchenarsenal den Feinschmecker, den raffinierten Esskünstler eben so leicht, wie man im Mittelalter an den Schmelztiegeln, Retorten, Destillierkolben und ausgestopften Eidechsen einen Alchimisten erkannte.
Außerdem bestand das Erdgeschoss aus einer kleinen, mit Steinplatten gepflasterten Hausflur, einem geräumigen Speisezimmer und einem Salon, der nur zweimal jährlich, wenn der Herr vom Hause Gäste hatte, geheizt wurde. Für diese» Fall stand auf der Hausflur eine hölzerne Bank für die wartende Dienerschaft.
Die beiden Zimmer des Erdgeschosses entsprachen in ihrem vernachlässigten Zustande vollkommen der Außenseite des’ Hauses. Der Fußboden war aufgesprungen und höckerig, der^ Plafond grau und schmutzig, die zerrissenen, beschmutzten Tapeten bewegten sich, wenn der Windbruch die selten geöffnete Tür drang.
Die ganze Einrichtung des Speisezimmers bestand aus sechs weiß angestrichenen Stühlen, einem großen Tische von Nussholz und einem Speiseschrank.
Im Salon standen drei Armsessel und sieben Stühle von verschiedenen Formen und Farben, und eine mit harten Polstern belegte Bank hatte sich unbefugter Weise den Namen und» Platz eines Sofas angemaßt. Die übrige Ausschmückung dieses sogenannten Empfangszimmers, welches der Herr vom Hause außer den oben genannten Fällen nie betrat, bestand in einem runden Tische, zwei Armleuchtern, einer stillstehen» den Stockuhr, einem aus zwei Stücken zusammengesetzten Spiegel und aus Vorhängen von rot und gelb gestreiftem Calicot.
Aber im ersten Stocke sah es anders aus. Der erste Stock wurde freilich von dem Chevalier de la Graverie persönlich bewohnt; dorthin würde der von der Küche ausgehende Faden in gerader Linie geführt haben, wenn das Labyrinth der Rue des Lices eine Ariadne gehabt hätte.
Man denke sich drei Zimmer mit der bis in die kleinsten Details sich erstreckenden Sorgfalt und der behaglichsten Koketterie möbliert, welche die Modedamen und die alten reichen Witwen so sehr lieben.
Jedes dieser auf Komfort und Verschönerung des Lebens berechneten Zimmer hatte sein eigentümliches Gepräge, seine besondere Bestimmung. Im Salon waren die eleganten, modernen Möbeln an allen Teilen, welche die kleine runde Person des Herrn vom Hause zu tragen bestimmt waren, sorgfältig mit Überzügen verwahrt; ein Bücherschrank von schwarzem Holz mit Kupfer ausgelegt, war mit rot eingebundenen, und nur selten inkommodierten Büchern angefüllt; eine Tischuhr stellte die Aurora auf ihrem Wagen dar, dessen Räder das Zifferblatt bildeten; zu beiden Seiten derselben standen zwei große Armleuchter; die Vorhänge waren von demselben dicken Wollstoff, der die Möbeln bedeckte, und würden hinsichtlich der geschmackvollen Draperie dem elegantesten Pariser Boudoir zur Zierde gereicht haben. Die Spuren von Vergoldung an dem weißen Getäfel bewiesen, dass die früheren Bewohner des Hauses noch mehr auf Eleganz gehalten hatten, als der Chevalier de la Graverie.
Im Schlafzimmer erregte das monumentale Bett sowohl hinsichtlich der Breite als der Höhe die Aufmerksamkeit. Dieses Bett war so hoch, dass man sich des Gedankens nicht erwehren konnte, wer darin schlafen wolle, müsse es mittelst einer Leiter ersteigen. Wer diesen Berg von Flaum, Watte und Wolle glücklich erstiegen hatte, musste von diesem mit dreifachen Vorhängen umgebenen Nest die ganze Position beherrschen; von dort konnte er alle Winkel des Zimmers übersehen, die Armsessel, Stühle, Sofas, Wärmpfannen, Polster und Fuchsfelle mustern. Der Fußboden war mit einem weichen, dicken Teppich belegt. Einige Armsessel, Stühle und Polster waren für den Winter mit Samt, andere für den Sommer mit Leder überzogen. Alle Möbeln aber waren zierlich und auf Bequemlichkeit berechnet. Dieses von der Straße am weitesten entfernte Zimmer war dem Garten zugewandt, so dass der Schläfer durch kein Wagengerassel, durch kein Geschrei von Handelsleuten , durch kein Hundegebell gestört wurde.
Wenn man aus dem Schlafzimmer wieder in den Salon kam, und diesen der ganzen Länge nach durchschritt, so stieß man gegen eine elegante spanische Wand , welche die in das dritte Zimmer führende Tür maskierte. Die ganze Einrichtung dieses letzten, schön tapezierten Zimmers bestand aus einem runden Tische von Mahagoniholz, einem kleinen Fauteuil und einem Marmortischchen, auf welchem zwei plattierte Eimer zum Abkühlen des Champagners standen. Aber auf allen Seiten standen Glasschränke, deren Inhalt eine kostbare Zugabe zu der Küchenbatterie war.
Jeder Schrank hatte seine besondere Bestimmung. In dem einen glänzte massives Silberzeug, ein Porzellanservice mit vergoldeten Rändern und dem Namenszuge des Chevalier de la Graverie, rote und weiße böhmische Gläser, durch deren Feinheit und Formen der Geschmack der edlen Weine gewiss erhöht wurde.
Der zweite Schrank enthielt Pyramiden von schneeweißem, feinem Tischzeug.
In dem dritten paradierten, wie gut geschulte Soldaten in Reihen aufgestellt, die feinsten Tisch» und Dessertweine in ihren Originalflaschen, wie sie aus verschiedenen Gegenden Frankreichs, aus Österreich, Deutschland, Spanien, Italien, Sizilien und Griechenland gekommen waren; einige kurz und gedrungen, andere mit langem dünnem Halse; einige mit bunten oder vergoldeten Etiketten, andere in Stroh» oder Rohrgeflechten, alle gleich anziehend für die Phantasie und die Neugier. An den Flanken dieses in geschlossenen Reihen harrenden stattlichen Armeecorps standen die leichten Truppen in Form von verschiedenfarbigen kleinen Karaffen mit kosmopolitischen Liqueuren.
Der letzte, größte Schrank endlich beherbergte Esswaren der verschiedensten Art- Straßburger Pasteten, Würste von Arles und Lyon, Aprikosentorten aus der Auvergne, Apfelgallerte aus Rouen, eingesotzene Früchte, englische Pickles und Saucen, Anschovis, Sardinen, kurz Alles was nach dem Ausspruch eines geistreichen Feinschmeckers »den Magen zu panzern« vermag.
Nach dieser vielleicht etwas zu genauen, aber zur Beurteilung des Bewohners notwendigen Haussuchung wird der Leser leicht erraten, dass der Chevalier de la Graverie sehr angelegentlich mit seiner werten Person beschäftigt, und auf die Befriedigung seines Magens sehr eifrig bedacht war. In sonderbarem Widerspruch mit dieser Bauchdienerei stand seine Manie, sich beständig für krank zu halten, und sich jede Viertelstunde an den Puls zu greifen. Endlich war er ein leidenschaftlicher Freund der Rosen, und versäumte keine Gelegenheit, seiner Sammlung ein neues Exemplar dieser Königinnen der Blumen hinzuzufügen.
Bei diesem Punkte unserer Erzählung fühlen wir die Unmöglichkeit, weiter zu gehen, ohne Halt zu machen, ja ohne achtundvierzig bis fünfzig Jahre zurückzugehen: wir wollen unseren Lesern nun erklären, wie der würdige Chevalier zu diesen drei geistigen Schwächen gekommen war.
IV
Wie und unter welchen Umständen der Chevalier de la Graverie geboren war
Man wundere sich nicht über diesen Rückblick, den der Leser übrigens voraussehen konnte, als wir ihm unseren Helden in einem Alter vorstellten, in welchem die interessantesten Abenteuer des Lebens, nämlich die Liebesabenteuer, beendet zu sein pflegen. Wir versprechen nicht weiter als bis zum Jahre 1793 zurückzugehen.
Im Jahre 1793 war der Baron de la Graverie, Vater des Chevalier, im Gefängnis zu Besangon unter der Anklage des Einverständnisses und Briefwechsels mit den Emigrierten.
Der Baron de la Graverie hätte zu seiner Verteidigung anführen können, dass er nur den heiligsten Naturgesetzen genügt habe, als er seinem ältesten Sohne und seinem Bruder, die sich beide im Auslande befanden, einiges Geld zugeschickt: aber es gibt Verhältnisse, welche die sozialen Gesetze über die Gesetze der Natur stellen, und überdies hatte der Baron jene Entschuldigung nicht einmal vorgebracht. Sein Vergehen gehörte aber zu denen, die einen Angeklagten damals am sichersten aufs Schafott brachten; die Baronin de la Graverie, welche frei geblieben war, bot daher, ungeachtet ihrer vorgerückten Schwangerschaft, Alles auf, um ihren Gemahl zu befreien.
Das Gold, welches die Unglückliche reichlich verteilte, schien ein günstiges Resultat zu versprechen. Der Schließer hatte versprochen, die Augen zuzudrücken, und der Pförtner hatte dem Gefangenen eine Feile und ein Seil gebracht, um ihn in den Stand zu setzen, eine Eisenstange seines Fensters zu zertrümmern, die Straße zu erreichen und in Begleitung seiner Gemahlin über die Grenze zu fliehen.
Die Flucht war auf den folgenden Tag , den 14. Mai, festgesetzt. – Die Minuten jenes verhängnisvollen Tages dehnten sich zu Stunden, in ihrer angstvollen Spannung sah die unglückliche Dame jeden Augenblick nach der Uhr, und verwünschte die Langsamkeit des Zeigers; von Zeit zu Zeit glaubte sie zu ersticken, und sie hielt es für unmöglich, bis zu dem ersehnten folgenden Tage leben zu können.
Um vier Uhr Nachmittags wurde ihre Aufregung so groß, dass sie sich entschloss, bei einem royalistisch gesinnten Priester, den eine Freundin in ihrem Keller versteckt hielt. Trost zu suchen, und gemeinschaftlich mit demselben für den Gefangenen zu beten.
Die Baronin verließ also ihre Wohnung. – In der Nähe des Marktplatzes hörte sie das dumpfe, anhaltende Wogen und Brausen einer großen Menschenmenge. Sie wollte umkehren, aber es war nicht möglich, die dem Marktplatz zuströmende Volksmenge versperrte die in denselben einmünden» den engen Gassen, und die Dame wurde durch den unaufhaltsamen Strom mit fortgerissen.
Der Platz war mit Menschen angefüllt; über den dicht an einander gedrängten Köpfen erhob sich die Guillotine, und oben an der entsetzlichen Maschine glänzte in den letzten Strahlen der Abendsonne das Fallbeil – ein furchtbares Sinnbild der Gleichheit, wenn auch nicht vor dem Gesetz, doch vor dem Tode.
Die Baronin de la Graverie schauerte und wollte fliehen. Aber es war noch weniger möglich, als das erste Mal: ein neuer Menschenstrom, der sich auf den Platz ergoss, drängte die Menge immer mehr zum Mittelpunkte hin. Ein ernster Versuch zur Umkehr würde sie als Aristokratin bezeichnet und nicht nur ihre eigne Sicherheit gefährdet, sondern auch ihren Genial ins Verderben gestürzt haben.
Die Baronin, deren Geisteskräfte seit einigen Tagen auf ein einziges Ziel, die Befreiung ihres Gemahls, gerichtet waren, war außerordentlich umsichtig geworden. Sie dachte an Alles. Sie fügte sich in das Unvermeidliche und fasste den Entschluss, das furchtbare Schauspiel, das vor ihren Augen aufgeführt werden sollte, mit Mut und ohne allzu heftige Äußerungen des Entsetzens zu ertragen. Sie hielt nicht einmal die Hand vor das Gesicht, um nicht die Aufmerksamkeit ihrer Nachbarn auf sich zu lenken: sie schloss die Augen.
Ein lautes Geschrei, welches immer näher kam wie ein Lauffeuer, verkündete die Ankunft der Schlachtopfer. Bald darauf wich die Menge vor dem ankommenden Wagen zurück und das Gedränge wurde so groß, dass die Baronin in Gefahr kam, erdrückt zu werden. Bis dahin hatte sie noch nicht aufgeschaut; aber plötzlich schien ihr eine unsichtbare, unwiderstehliche Gewalt die Augenlider aufzuheben. Sie schlug die Augen auf, bemerkte einige Schritte von ihr den Wagen mit den Verurteilten, und unter denselben – ihren Gatten!
Die Verzweiflung gab ihr eine übernatürliche Kraft; ihr Geschrei war so herzzerreißend, dass die Umstehenden ihr Platz machten. Sie eilte unaufhaltsam vorwärts und drängte die ihr noch im Wege stehenden Personen mit einer Kraft zurück, welche dem schwächsten Weib in der höchsten Aufregung des Schmerzes zu Gebote steht.
So erreichte sie den Wagen. Sie wollte ihn erklimmen, um zu ihrem Gatten zu gelangen, aber die Gendarmen hielten sie zurück. Sie klammerte sich, wie eine Wahnsinnige heulend, an den Wagenleitern fest; dann brach sie plötzlich in Thränen aus und wandte sich stehend zu den Henkern ihres Gatten.
Der Anblick war so erschütternd , dass ungeachtet der Blutgier, welche die öfteren Wiederholung jener entsetzlichen Dramen in der Bevölkerung geweckt hatte, mehr als ein Sansculotte, mehr als eine Megäre aus der Hefe des Volks bis zu Tränen gerührt wurde. Als daher die unglückliche Baronin ihre Kraft schwinden fühlte, als sie ohnmächtig zu Boden sank, kamen ihr die Umstehenden zu Hilfe.
Man brachte sie nach Hause und es wurde sogleich ein Arzt gerufen. Aber die Erschütterung war zu heftig gewesen; die Unglückliche starb nach einigen Stunden in heftigen Fieberphantasien, indem sie eines schwachen, kaum lebensfähigen Knäbleins genas. Dieses Kind, welches zwei Monate vor dem von der Natur bestimmten Zeitpunkte das Licht der Welt erblickte, war der Chevalier de la Graverie, dessen Geschichte wir schreiben.
Die ältere Schwester der Baronin , Mademoiselle de Beauterne, eine reiche Stiftsdame, nahm sich des armen kleinen Waisen an, der so zart und schwächlich war, dass der Arzt an seiner Lebensfähigkeit zweifelte. Aber der Schmerz über den Tod ihrer Schwester und ihres Schwagers entwickelte in der alten Jungfer das Muttergefühl, welches Gott in jedes weibliche Herz gelegt hat, welches aber in dem Herzen einer alten Jungfer verknöchert und ertödtet wird.
Der sehnlichste Wunsch der Stiftsdame war, die Teure, welche sie beweinte, einst wiederzufinden, nachdem sie sich der Pflicht, die ihr zugefallen, eifrig und gewissenhaft entledigt. Mit der Zähigkeit, welche älteren unverheirateten Personen eigen zu sein pflegt, widmete sie dem Kind alle Geduld und Selbstverleugnung , deren sie fähig war, und es gelang ihr, den Mann der Wissenschaft, der doch mit größerer Gewissheit den Tod prophezeien als das Leben versprechen kann, Lügen zu strafen.
Sobald die Wege frei waren, begab sich Mademoiselle de Beauterne mit ihrem Schatz – so nannte sie den kleinen Stanislas Dieudonné de la Graverie – nach Deutschland, um sich in das Damenstift, dem sie angehörte zurückzuziehen.
In diesen halb weltlichen, halb klösterlichen Umgebungen wurde der kleine Dieudonné erzogen. Die guten, freundlichen Damen widmeten ihm die zärtlichste Sorge; denn die tragischen Verhältnisse, unter denen er geboren war, hatten die Teilnahme der Bewohnerinnen des Stiftes in hohem Grade geweckt. Ein Prinz, ein Thronerbe konnte nicht ängstlicher gehegt und gepflegt werden: eine Träne des Kindes verursachte eine allgemeine Migräne unter allen Stiftsdamen; jeder neu hervorbrechende Zahn hatte zehn schlaflose Nächte im Gefolge, und hätte die Tante nicht einen äußerst strengen Sanitätscordon um den kleinen Liebling gezogen, so würde man ihn in seiner zartesten Kindheit mit Zuckerplätzchen zu Tode gefuttert haben; unsere Erzählung wäre dann schon zu Ende, oder hätte vielmehr gar nicht begonnen.
Diese allgemeine Verzärtlung blieb indes nicht ohne allen Einfluss auf seine Erziehung.
Mademoiselle de Beauterne machte eines schönen Tages den Vorschlag, ihren kleinen Neffen den Jesuiten in Freiburg zur Erziehung anzuvertrauen’ gegen diesen Plan eiferten jedoch die übrigen Stiftsdamen mit lautem Zetergeschrei, so dass die Tante, die sich im Grunde sehr ungern von dem kleinen Dieudonné trennte, der allgemeinen Entrüstung nicht Trotz bieten mochte. Der Knabe blieb also und wurde wie zuvor von den guten Damen als Spielzeug betrachtet, man könnte fast sagen als Idol vergöttert. Von Ernst und Strenge war, selbst als er das lernfähige Alter erreichte, gar keine Rede; es stand dem kleinen Menschen so ziemlich frei zu lernen was ihm beliebte, und da ihn die Natur nicht mit einem über» mäßigen Wissensdrange begabt hatte, so blieb er sehr unwissend.
Es war vernünftigerweise nicht zu erwarten, dass die guten, würdigen Damen für die moralische Erziehung ihres Zöglings besser sorgen würden, als für seine geistige Ausbildung. Man machte ihn weder mit den Menschen bekannt, unter denen er einst leben, noch mit den Sitten und Gebräuchen, denen er sich einst fügen musste; ja, man suchte Alles, was die Gefühle des kleinen Lieblings im mindesten verletzen konnte, sorgfältig von ihm fern zu halten, und entwickelte durch diese Verzärtlung die angeborene Reizbarkeit des Knaben.
Ebenso ging es mit den zur Erziehung eines jungen Edelmannes gehörenden Leibesübungen. Die Stiftsdamen wollten dem kleinen Dieudonné durchaus keinen Reitunterricht geben lassen; er bestieg nur den Esel des Gärtners, und dabei führte immer eine der Damen den Esel am Zügel.
In der Stadt, wo sich das Damenstift befand, war ein vortrefflicher Fechtmeister. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob Dieudonné nicht fechten lernen sollte. Die Frage wurde nach einer sehr kurzen Debatte einstimmig verneint; es war ja kaum denkbar, dass der Chevalier de la Graverie bei seinem sanften, liebenswürdigen Charakter jemals in Streit gerochen würde; nur ein Ungeheuer von Bosheit und Rohheit könnte ihm zürnen – und Gott sei Dank! die Ungeheuer sind selten.
Hundert Schritte von dem Damenstift schlängelte sich ein schöner klarer Fluß durch blühende Wiesen. Hier übten sich die Schüler des Gymnasiums im Schwimmen. Man konnte Dieudonné dreimal wöchentlich unter der Aufsicht eines Schwimmlehrers dahin schicken; aber das kühle Flusswasser konnte dem zarten Knaben schaden, er musste sich daher begnügen, zweimal wöchentlich in der Badewanne seiner Tante zu plätschern.
Dieudonné lernte also weder schwimmen noch fechten noch reiten. Er erhielt etwa dieselbe Erziehung wie Achilles; aber wenn mitten unter den Damen, die den Chevalier de la Graverie umgaben, plötzlich ein Ulysses erschienen wäre und ein Schwert aus der Scheide gezogen hätte, so würde Dieudonné wahrscheinlich nicht, wie der Sohn der Thetis und des Peleus, auf das Schwert losgestürzt, sondern von dem Glanz der Klinge geblendet, fortgelaufen sein, um sich in dem tiefsten Keller zu verkriechen.
Alles dieses wirkte höchst nachteilig auf die physische und moralische Entwickelung des jungen Chevalier. Er war sechzehn Jahre alt und konnte vor dem Gesicht eines Andern keine Klinge funkeln sehen, ohne in Tränen auszubrechen. Der Tod seines Sperlings oder Kanarienvogels verursachte ihm Nervenzucken; er dichtete rührende Elegien auf den Tod eines aus Versehen zertretenen Maikäfers – Alles zur größten Freude der Stiftsdamen, welche sein feines Gefühl priesen, ohne zu ahnen, dass diese Empfindung dabei ihr Idol entweder zu einem vorzeitigen Ende führen oder in diesen über zarten Gefühlen eine egoistische Reaktion bewirken müsse.
Unter diesen Umständen war kaum zu erwarten, dass Dieudonné von seinen Lehrerinnen in der Kunst zu gefallen und zu lieben unterrichtet wurde. Aber es fehlte ihm keineswegs an Gelegenheit und Anleitung Das Fräulein von Florsheim, eine der Stiftsdamen, hatte eine Nichte bei sich. Mathilde war zwei Jahre jünger als Dieudonné. Sie war blond und hatte schmachtende blaue Augen, wie die meisten deutschen Mädchen.
Sobald die beiden Kinder ohne Gängelband laufen konnten, machte es den Damen großes Begnügen, unzertrennliche Gespielen aus ihnen zu machen. Dieudonné, der, den Halsbrechenden Künsten des Reitens. Fechtens und Schwimmens mit ängstlicher Sorgfalt ferngehalten wurde, bekam dafür eine andere Dressur. Wenn er, wie ein Wateauscher Schäfer aufgeputzt, mit einem Vergissmeinnichtstrauß kam, so lehrte man ihn denselben seiner kleinen Freundin mit chevaleresker Kniebeugung zu überreichen. Bei schlechtem Wetter setzte sich Mademoiselle de Beauterne an ihr Klavier und spielte eine Menuett, nach welcher sich Dieudonné und Mathilde wie zwei Gliederpuppen unter lautem Applaus der Stiftsdamen bewegten.
Nach beendeter Menuett küsste der himmelblaue Schäfer mit galantem Anstand das weiße parfümierte Händchen der Schäferin. Die guten Damen waren entzückt, sie herzten und küssten die beiden Kinder und nannten sie den kleinen Mann und die kleine Frau. Wenn man sie, wie zwei Liebende en miniature, im Garten lustwandeln sah, schaute man ihnen mit Wohlgefallen nach, statt ihnen zuzurufen: Kehrt um, Kinder, die Einsamkeit ist gefährlich!
So kam es denn, dass die beiden Kinder die ihrem Alter zukommenden Spiele verschmähten und sich Empfindeleien überließen, welche, wie harmlos sie den guten Damen auch schienen, bald die bedenklichsten Verirrungen im Gefolge hatten.