Kitabı oku: «Der Page des Herzogs von Savoyen», sayfa 9
Zweiter Theil
I.
Was in der Nacht vom 14. zum 15. November 1534 in einem Kerker der Feste von Mailand vorging
Einige Minuten vor neun Uhr,« fuhr Odoardo fort, »zeigte der Schließer der Gräfin an, daß es Zeit sey, sich zu entfernen; die Wachen würden abgelöst werden, und es sey gut, daß die Wache, welche sie hereinkommen sah, auch wieder sie fortgehen sehe. Die Trennung war eine schmerzliche und doch sollte man einander nach drei Stunden wiedersehen und bald auf immer mit einander vereinigt seyn. Das Kind weinte heftig und wollte den Vater nicht loslassen, Die Gräfin brachte es fast mit Gewalt fort; man ging wiederum vor der Schildwache und dem Schließer vorbei und gelangte in das tiefste Dunkel des Hofes. Von da kamen sie wirklich glücklich in die Wohnung des Schließers, ohne gesehen worden zu seyn. Hier schloß man die Gräfin und deren Kind in eine Kammer ein und empfahl ihnen, kein Wort zu sprechen und sich nicht zu rühren. Es konnte jeden Augenblick ein Aufseher eintreten; die Gräfin und das Kind verhielten sich stumm und unbeweglich. Die drei Stunden, welche sie noch von Mitternacht trennten, erschienen der Gräfin so lang, wie die achtundvierzig Stunden, welche vergangen waren; endlich öffnete der Schließer die Thür wieder.
»Kommt,« sagte er kaum hörbar leise.
Die Mutter hatte das Kind nicht lassen mögen, damit der Vater bei der Flucht ihm einen letzten Kuß geben könne; es gibt ja auch Augenblicke, in denen man sich um ein Reich nicht von dein trennen würde, was man liebt.
Wußte die arme Mutter was geschehen sollte, die arme Mutter, welche das Leben ihres Mannes den Henkern zu entreißen suchte? Konnte sie nicht auch gezwungen werden, zu fliehen, entweder mit dem Grafen oder nach einer andern Seite hin? Und wenn sie fliehen mußte, konnte sie ihr Kind zurücklassen? Der Schließer zog das Bett zurück; es befand sich dahinter ein Loch in der Wand, groß genug selbst für einen starken Mann. Hinter dem Schließer gingen Mutter und Kind in den Kerker und als sie hindurch waren, schob die Frau des Schließers das Bett wieder vor, in welchem ein Knabe von vier Jahren schlief. Der Schließer hatte, wie gesagt, den Schlüssel zu diesem ersten Kerker; er öffnete die Thür, deren Angeln er vorher sorgsam eingeölt hatte und man befand sich in dem Kerker des Grafen. Dieser hatte, eine Stunde vorher eine Feile erhalten, damit seine Kette durchzufeilen; da er aber ungeübt in dieser Arbeit war und übrigens gefürchtet hatte von der Schildwache gehört zu werden, die auf dem Gange draußen hin und her ging, so war er kaum zur Hälfte fertig. Der Schließer nahm nun seinerseits die Feile und fing an die Kette durchzufeilen. Plötzlich sah er empor, blieb auf einem Knie liegen, streckte die Hand nach der Thür hinaus und horchte. Der Graf wollte fragen.
»Still,« sagte der Schließer leise, »es geht etwas Ungewöhnliches vor.«
»Mein Gott!« jammerte die Gräfin.
»Still,« wiederholte der Schließer.
»Alle schwiegen; sie wagten kaum zu athmen; die vier Personen glichen einer Gruppe von Bronze, welche alle Grade der Angst vorstellte. Man hörte ein langsames gedehntes Geräusch, das näher kam, die Tritte mehrerer Personen, und an dem gemessenen Tritt erkannte man, daß Soldaten sich darunter befanden.
»Kommt,« sagte der Schließer, indem er die Gräfin und das Kind umfaßte und sie mit sich fortzog. »Kommt; es ist ohne Zweifel eine nächtliche Visitation; in jedem Falle dürft Ihr nicht gesehen werden. Sind die Leute wieder fort, angenommen, sie gehen in den Kerker des Grafen, so kehren wir zu ihm zurück.«
»Die Gräfin und das Kind leisteten keinen Widerstand; der Gefangene selbst trieb sie hinweg; sie gingen durch die Thür, die sich hinter ihnen schloß, die Thür des zweiten Kerkers. In diesem Kerker befand sich eine vergitterte Oeffnung, die in den andern führte und durch die man hinein sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Die Gräfin hielt ihre Tochter im Arme und blickte mit ihr durch jenes Gitter, um zu sehen, was vorgehen werde. Die Hoffnung, die man eine kurze Zeit gehegt hatte, die Ankommenden würden nicht zu dem Grafen sich begeben, schwand; sie blieben an der Thür seines Kerkers stehen und man hörte den Schlüssel in dem Schlosse sich drehen. Bei dem Anblicke, der sich der Gräfin bot, war sie nahe daran einen Schrei auszustoßen; es war aber als errathe dies der Schließer.
»Kein Wort,« flüsterte er, »keinen Laut, keine Geberde, was auch geschehen mag, oder…«
Er besann sich, welche schreckliche Drohung er wohl aussprechen könnte, um der Gräfin Schweigen aufzulegen; so zog er endlich einen Dolch von der Brust und sagte: »Oder ich erdolche euer Kind!
»Unglücklicher!« stammelte die Gräfin.
»Hier geht es um eines Jeden Leben und mein Leben ist mir so lieb als Euch das eurige.«
Die Gräfin legte der Tochter die Hand auf den Mund, damit diese schweige. Sie selbst, das wußte sie, ließ keinen Laut über ihre Lippen, nachdem sie die Drohung vernommen hatte. Sie sah nun Folgendes: Zuerst zwei schwarz gekleidete Männer, deren jeder eine Fackel trug; hinter ihnen ein dritter mit einem Pergament, an dem unten ein großes rothes Siegel hing; hinter diesem Manne ein Anderer mit einer Maske, in einem großen braunen Mantel und hinter ihm ein Priester. Sie traten nacheinander in den Kerker, ohne daß die Gräfin ihre Angst durch ein Wort, einen Laut oder eine Geberde verrieth, obwohl sie hinter den Eintretenden draußen eine noch schauerlichere Gruppe bemerkte. Der Thür gegenüber stand ein halb schwarz halb roth gekleideter Mann, welcher beide Hände auf den Griff eines langen, breiten, geraden Schwertes stützte; hinter ihm sah man die sechs barmherzigen Brüder mit den schwarzen Capuzen, welche auf ihren Achseln einen Sarg trugen, und über Alles hinweg blitzten die Gewehre eines Dutzend Soldaten, die an der Wand aufgestellt waren. Die beiden Männer mit den Fackeln, der Mann mit dem Pergament, der Maskirte und der Geistliche traten, wie gesagt, in den Kerker ein, worauf die Thür geschlossen wurde, so daß der Henker, die barmherzigen Brüder und die Soldaten draußen blieben. Der Graf stand an der dicken Gefängnißwand, an der sein bleiches Gesicht abstach; sein Blick suchte hinter dem Gitter den Blick der angstvollen Augen zwar vergebens zu erkennen, aber er errieth, daß sie da waren. So unerwartet und stumm die Erscheinung war, welche sich in seinem Kerker einfand, ließ sie ihm doch keinen Zweifel über sein Schicksal. Wäre er auch so glücklich gewesen zu zweifeln, so würde der Zweifel nicht lange gedauert haben: die beiden Männer mit den Fackeln stellten sich rechts und links auf; der Maskirte und der Geistliche blieben an der Thür, der Mann mit dem Pergamente aber trat vor und fragte:
»Graf, glaubt Ihr mit eurem Gott gut zu stehen?«
»So gut wie ein Mensch mit ihm stehen kann, der sich nichts vorzuwerfen hat,« antwortete der Graf mit ruhiger Stimme.
»Um so besser.« entgegnete der Mann mit dem Pergamente, »denn Ihr seyd verurtheilt und ich habe den Auftrag Euch das Todesurtheil vorzulesen.«
»Von welchem Gerichtshofe ist es gesprochen?« fragte der Graf ironisch.
»Durch die alles vermögende Justiz des Herzogs.«
»Und auf welche Anklage?«
»Auf die des Kaisers Carl V. Majestät.«
»Ich bin bereit, das Urtheil anzuhören.«
»So kniet nieder, denn es ziemt sich, daß ein Mann in der Nähe des Todes sein Urtheil kniend anhöre.«
»Ja, wenn er schuldig ist, aber nicht wenn er unschuldig ist.«
»Graf, Ihr steht nicht außerhalb des Gesetzes, kniet also nieder, damit wir nicht genöthigt sind, Gewalt zu brauchen.«
»Versucht es,« sagte der Graf.
»Lasset ihn stehen,« fiel der Maskirte ein, »er möge sich nur bekreuzigen, um sich unter den Schutz des Herrn zu stellen.«
»Der Graf erbebte bei dem Klange dieser Stimme.«
»Herzog Sforza?« sagte er, indem er sich nach dem Maskirten umdrehte, »ich danke Dir.«
»Ach, wenn es der Herzog ist, könnte man vielleicht Gnade von ihm erlangen,« flüsterte die Gräfin.
»Still, wenn Euch das Leben eures Kindes lieb ist,« sagte der Schließer leise.
»Die Gräfin seufzte so stark, daß es der Graf hörte und erbebte. Er machte eine Bewegung der Hand, welche sagen sollte: Muth! dann sagte er laut, wie ihn der Maskirte aufgefordert hatte: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.«
»Amen!« fielen alle Anwesenden leise ein.
»Dann begann der Mann mit dem Pergamente das Urtheil zu lesen; es war im Namen des Herzogs Francesco Maria Sforza auf Ansuchen des Kaisers Carl V. erlassen und verurtheilte Francesco Maraviglia, den Gesandten des Königs von Frankreich, in der Nacht in seinem Kerker enthauptet zu werden als Verräther, Spion und Verbreiter von Staatsgeheimnissen. Ein tiefer Seufzer drang wiederum zu dem Ohre des Grafen, aber er war so leise, daß nur er ihn zu vernehmen und zu verstehen vermochte. Er wendete den Blick dahin, von wo der schmerzliche Seufzer kam und sagte ohne Unruhe und ohne Zorn:
»So ungerecht das Urtheil des Herzogs ist, so unterwerfe ich mich ihm doch; aber der Mann, der sein Leben nicht mehr vertheidigen kann, muß noch immer seine Ehre vertheidigen, und so appelliere ich von dem Spruche des Herzogs.«
»An wen?« fragte der Mann mit der Maske.
»An meinen König und Herrn, Franz I., zuerst, dann an die Zukunft und an Gott, an Gott, unter dem alle Menschen stehen, namentlich die Fürsten, die Könige und Kaiser.«
»Das ist allein das Tribunal, dem Du Dich empfiehlst?« fragte der Mann mit der Maske.
»Ja,« antwortete der Graf, »und ich berufe Dich, Herzog Francesco Maria Sforza, vor diesem Tribunale zu erscheinen.«
»Wann?« fragte der Maskirte.
»Zu derselben Zeit, welche Jacob von Molay, der Großmeister der Tempelritter, seinem Richter bestimmte, d.h. nach einem Jahre und einem Tage. Wir haben heute den 15. November 1534, also am 16. November 1535, verstehst Du, Herzog Francesco Maria Sforza?«
Er streckte dabei die Hand nach dem Maskierten aus, zum Zeichen der Berufung und der Drohung. Wäre der Herzog nicht maskiert gewesen, man hätte gewiß ihn erbleichen sehen können, denn er war es wirklich, der so mit der Maske dem Tode seines Opfers beiwohnen wollte. So triumphirte der Verurtheilte einen Augenblick vor dem Richter, der vor ihm zitterte.
»Schon gut,« antwortete der Herzog, »Du hast eine Viertelstunde Zeit, Dich mit dem frommen Manne da – er deutete auf den Geistlichen – vorzubereiten; sorge dafür, daß Du nach einer Viertelstunde bereit bist, denn es wird Dir keine Minute mehr gewährt.«
Dann wendete er sich an den Mann Gottes und sagte: »Herr Pater, thut eure Schuldigkeit.«
Er ging hinaus und nahm die beiden Fackelträger und den Mann mit dem Pergamente mit sich; aber er ließ die Thür weit offen, damit er wie die Soldaten in den Kerker hineinsehen und jede Bewegung des Gefangenen beobachten könnte, von dem er sich aus Ehrfurcht vor der Beichte entfernt hatte, damit er nichts hören könne. Nochmals drang ein Seufzer von dem Gitter her zu dem Ohr und dem Herzen des Verurtheilten. Die Gräfin hatte gehofft, daß die Thür sich schließen werde und wer weiß? der Mann Gottes hätte vielleicht durch Bitten und Thränen einer knienden Frau und eines knienden Kindes sich bewegen lassen den Kopf abzuwenden und den Grafen fliehen zu lassen.
Es war die letzte Hoffnung meiner armen Mutter und sie entging ihr.«
Emanuel Philibert erbebte; bisweilen vergaß er, daß ihm ein Sohn die letzten Augenblicke seines Vaters beschrieb, und es war ihm als lese er eine schreckliche Legende.
Ein Wort erinnerte ihn endlich an die Wirklichkeit und ließ ihn erkennen, daß die Erzählung nicht aus der Feder eines unbetheiligten Geschichtschreibers, sondern aus dem Munde eines Sohnes komme.
»Es war die letzte Hoffnung meiner Mutter und sie entging ihr,« sagte Odoardo nochmals, welcher seine Erzählung einen Augenblick unterbrochen hatte, »denn,« fuhr er fort, »an der andern Seite der offenen Thür blieben die Vorbereitungen zum Tode und die Zuschauer. Der Geistliche allein war bei dem Verurtheilten geblieben, wie ich sagte; der Graf kniete vor ihm nieder, ohne zu beachten, wer ihn gesandt hatte, und nun begann die Beichte, eine seltsame Beichte, bei welcher der, welcher sterben sollte, an sich selbst gar nicht zu denken schien und sich nur mit Andern beschäftigte, bei welcher die Worte, welche scheinbar an den Geistlichen gerichtet wurden, eigentlich der Frau und dem Kinde galten und zu Gott erst hinaufstiegen, nachdem sie durch das Herz einer Mutter und einer Tochter gegangen waren. Nur meine Schwester, wenn sie noch lebte, könnte die Thränen beschreiben, unter welchen sie vernommen wurden, denn ich selbst war nicht dabei, ich wußte nicht was dreihundert Stunden von mir vorging, ich spielte, ich lachte, ich sang vielleicht gerade in dem Augenblicke als mein Vater an der Pforte des Todes mit meiner weinenden Mutter und Schwester von mir, dem Abwesenden, sprach.«
Odoardo mußte, von dieser Erinnerung überwältigt, sich einen Augenblick unterbrechen, dann fuhr er mit einem unterdrückten Seufzer fort:
»Die Viertelstunde war bald vorüber. Der Maskirte folgte mit einer Uhr in der Hand dem Gange der Beichte auf dem Gesichte des Priesters und des Verurtheilten und als die Minuten abgelaufen waren, sagte er:
»Graf, die Zeit, die Dir gegeben war, noch unter den Lebenden zu seyn, ist vorüber; der Geistliche hat gethan, was seines Amtes ist, jetzt kommt die Reihe an den Nachrichter.«
Der Geistliche gab dem Grafen die Absolution und stand auf, dann wies er ihm das Crucifix und ging nach der Thür zurück, während gleichzeitig der Henker vortrat. Der Graf war auf den Knien geblieben.
»Hast Du dem Herzoge Sforza oder dem Kaiser Carl V. noch etwas zu sagen?« fragte der Mann mit der Maske.
»Ich habe mich nur Gott zu empfehlen,« antwortete der Graf.
»So bist Du bereit?« fragte derselbe Mann noch einmal.
»Du siehst es, da ich knie.«
Der Graf kniete mit dem Gesicht nach dem Gitter gewendet, durch welches seine Frau und seine Tochter auf ihn sahen. Sein Mund, der weiter zu beten schien, sandte ihnen Worte der Liebe zu und war auch ein Gebet.
»Wenn Ihr nicht wünscht, Herr Graf, daß meine Hand Euch beflecke,« sagte eine Stimme hinter dem Verurtheilten, »so schlaget den Kragen eures Hemdes selbst zurück. Ihr seyd ein Edelmann und ich habe nicht das Recht, Euch anders zu berühren als mit der Schärfe meines Schwertes.«
Der Graf schlug, ohne eine Antwort zu geben, den Kragen seines Hemdes bis zu der Achsel zurück, so daß sein Hals ganz bloß war.
»Empfehlt Euch Gott!« sagte der Henker.
»Gütiger und barmherziger Gott!« sagte der Graf, »Allmächtiger Gott, in deine Hände empfehle ich meine Seele!«
Kaum hatte er das lehre Wort gesprochen, so blitzte und pfiff das Schwert des Henkers im Dunkel und der Kopf des Verurtheilten rollte, von dem Rumpfe getrennt, an die Thür mit dem Gitter, nach den Geliebten hinter derselben zu. Gleichzeitig mit dem dumpfen Falle eines Körpers ließ sich ein halbunterdrückter Schrei hören, die Anwesenden aber hielten diesen Schrei für den letzten Laut des Verurtheilten und den Fall für den des Körpers des Grafen. Verzeiht,« unterbrach sich Odoado, »aber wenn Ihr das Uebrige hören wollt, müsset Ihr mir ein Glas Wasser geben lassen, denn meine Kräfte wollen mich verlassen.«
Emanuel Philibert sah in der That den, welcher ihm diese schreckliche Geschichte erzählt hatte, wanken und erbleichen; er trat rasch hinzu, um ihn zu halten, ließ ihn auf einen Haufen Kissen sich setzen und reichte ihm selbst das Glas Wasser.
Der Schweiß stand dem Prinzen auf der Stirne und obwohl er als Soldat an die Scenen auf den Schlachtfeldern gewöhnt war, schien er doch einer Ohnmacht fast so nahe zu seyn wie der, welchem er beistand.
Nach fünf Minuten hatte Odoardo sich gesammelt.
»Wollet Ihr noch mehr wissen?« fragte er.
»Ich will Alles wissen,« antwortete Emanuel, »solche Erzählungen sind große Lehren für Fürsten, die einmal regieren sollen.«
»So ist es,« sagte Odoardo, »auch ist das Schrecklichste vorüber.«
Er strich mit der Hand über die schweißbedeckte Stirn, vielleicht zugleich über die thränenfeuchten Augen und fuhr fort:
»Als meine Mutter wieder zu sich kam, war alles verschwunden wie ein Traum und sie hätte glauben können, sie habe einen bösen Traum gehabt, wenn sie sich nicht auf dem Bette des Schließers befunden hätte. Sie hatte meiner Schwester in so eindringlicher Weise empfohlen, nicht zu weinen, damit ihr Schluchzen nicht etwa gehört werde, daß das arme Kind, das Vater und Mutter gleichzeitig verloren zu haben glaubte, die letztere mit weit aufgerissenen Augen ansah, aus denen doch Thränen flossen, aber still wie die für den Vater. Der Schließer war nicht mehr da, sondern nur die Frau desselben; sie hatte Mitleid mit der Gräfin gehabt und gab ihr ihre Kleider; meine Schwester kleidete sie in einen Anzug ihres Sohnes und mit Tagesanbruch ging sie mit ihnen hinaus bis auf die Straße von Novara; dann gab sie ihr zwei Dukaten und empfahl sie Gott. Meine arme Mutter schien von einem schrecklichen Gesicht verfolgt zu werden; sie dachte nicht daran in ihren Palast zurückzukehren und Geld zu holen, auch nicht, sich nach dem Wagen zu erkundigen, welcher den Grafen hätte fortbringen sollen. Sie war wie irr vor Schrecken und dachte an nichts als zu fliehen, über die Grenze zu gelangen, aus dem Lande des Herzogs Sforza zu kommen. Sie verschwand mit ihrem Kinde nach Novara zu und man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Was ist aus meiner Mutter, aus meiner Schwester geworden? Ich weiß es nicht. Ich erhielt in Paris die Nachricht von dem Tode meines Vaters; der König selbst theilte sie mir mit und er setzte hinzu, sein Schutz werde mir nie fehlen und ein Krieg die Ermordung des Grafen rächen. Ich bat den König um die Erlaubniß ihn begleiten zu dürfen; das Glück fing an die Waffen Frankreichs zu begünstigen; wir zogen durch das Land eures Vaters, das der König an sich nahm und dann gelangten wir nach Mailand. Der Herzog Sforza hatte sich nach Rom geflüchtet zu dem Papste Paul III. Man stellte Nachforschungen über den Tod meines Vaters an, aber es war nicht möglich, einen von denen ausfindig zu machen, welcher bei dem Morde zugegen war. Drei Tage nach der Hinrichtung war der Henker plötzlich gestorben; den Namen des Gerichtsdieners, welcher das Urteil vorgelesen hatte kannte man nicht, eben so wenig den Geistlichen, welcher die Beichte des Grafen gehört, der Schließer war mit Frau und Kind entflohen. So konnte ich auch nicht einmal ermitteln, wo die Ueberreste meines Vaters ruhen. Zwanzig Jahre waren seit jenen nutzlosen Nachforschungen vergangen, als ich einen Brief aus Avignon erhielt. Ein Mann, welcher sich nur mit den Anfangsbuchstaben seines Namens unterschrieben hatte, forderte mich auf ihn sofort in Avignon aufzusuchen, wenn ich sichere und ausführliche Nachrichten über den Tod meines Vaters haben wolle. Er gab mir Namen und Wohnung eines Geistlichen an, welcher den Auftrag habe, mich zu ihm zu führen. Was mir der Brief bot, war der Wunsch meines ganzen Lebens gewesen und ich reiste augenblicklich ab. Ich begab mich zu dem Geistlichen, welcher bereits benachrichtigt war und mich zu dem Manne brachte, der mir geschrieben hatte, jenem Schließer aus der Feste von Mailand. Da mein Vater todt gewesen war und er den Ort gekannt hatte, wo der Wagen mit den hunderttausend Ducaten hielt, hatte ihn der böse Feind versucht. Er hatte meine Mutter auf das Bett gelegt und sie seiner Frau empfohlen, dann war er auf der Strickleiter hinuntergestiegen, hatte sich nach dem Wagen begeben, sich zu dem Kutscher geschlichen, ihm gesagt, er komme im Auftrage des Grafen, den treuen Diener ermordet, den Leichnam in den Graben geworfen und war mit dem Wagen fortgefahren. Da niemals Jemand nach dem Inhalte gefragt, hatte er sich denselben angeeignet. Später hatte er seiner Frau geschrieben, sie möge mit dem Sohne zu ihm kommen. Die Frau lebte nicht lange und nach zehnjährigem Leiden folgte der Mutter der Sohn nach. Endlich fühlte auch er, daß sein Ende nahe und er Gott werde Rechenschaft ablegen müssen über das was er auf Erden gethan. Da war ihm die Reue gekommen, und er hatte an mich gedacht. Ihr könnt Euch denken, in welcher Absicht er mich sehen wollte: um mir alles zu erzählen und mich um Verzeihung zu bitten, nicht wegen des Todes meines Vaters, denn an diesem war er unschuldig, sondern wegen der Ermordung des Kutschers und des Diebstahls von hunderttausend Ducaten. Dem Ermordeten konnte er freilich das Leben nicht wieder geben. Von dem gestohlenen Gelde hatte er bei Avignon eine herrliche Besitzung gekauft, von deren Ertrage er lebte. Zuerst ließ ich mir so ausführlich als möglich den Tod meines Vaters erzählen, nicht einmal, sondern zehnmal… Jene schauerliche Nacht hatte einen so tiefen, unvergänglichen Eindruck auf ihn gemacht, daß er sich aller, selbst der geringfügigsten Ereignisse in derselben so genau erinnerte, als wären sie erst am vorigen Tage geschehen. Leider wußte er von meiner Mutter und Schwester nichts, als was ihm seine Frau erzählt hatte, die immer geäußert, sie würden beide der Anstrengung und dem Hungertode erlegen seyn.
Ich war reich, ich bedurfte die Vermehrung des Vermögens nicht, aber meine Mutter oder meine Schwester konnte doch am Ende irgend einmal wieder erscheinen. Um also den Mann durch ein öffentliches Geständniß seiner Verbrechen nicht zu entehren, ließ ich ihn seine Besitzung der Gräfin Maraviglia und deren Tochter schenken und ich verzieh ihm, so weit ich es vermochte, aber darauf beschränkte sich auch mein Erbarmen. Francesco Maria Sforza war 1535, ein Jahr und einen Tag nach der Ermordung gestorben, bei welcher ihn mein Vater vor das Gericht Gottes beschieden hatte. Er war also meiner Rache entgangen, er hatte seine Strafe bereits erlitten; aber der Kaiser Carl V. lebte noch, der Kaiser auf dem Gipfel seiner Macht, seines Ruhmes und seines Glückes. Er war ungestraft geblieben und an ihm also beschloß ich Vergeltung zu üben. Ihr werdet mir sagen, die Menschen, die Scepter und Krone tragen, wären nur Gott verantwortlich; aber der liebe Gott scheint bisweilen zu vergessen, und dann müssen die Menschen sich erinnern. Ich that das, ich erinnerte mich. Nur wußte ich nicht, daß der Kaiser unter seiner Kleidung ein Panzerhemd trägt, – auch er also hatte nicht vergessen. Ihr wolltet wissen, wer ich sey und warum ich das Verbrechen begangen. Ich bin Odoardo Maraviglia und ich wollte den Kaiser tödten, weil er meinen Vater im Kerker umbringen und meine Mutter und Schwester verschmachten und verhungern ließ. Ich bin zu Ende. Ihr wisst die Wahrheit; ich habe tödten wollen und verdiene den Tod, aber ich bin Edelmann und verlange den Tod eines solchen.«
Emanuel Philibert neigte den Kopf zum Zeichen der Zustimmung.
»Ganz recht und euer Verlangen soll Euch gewährt werden,« sagte er. »Wünscht Ihr bis zur Stunde der Hinrichtung frei zu bleiben, das heißt ungefesselt?«
»Was müßte ich dann thun?«
»Mir euer Wort geben, keinen Fluchtversuch zu machen.«
»Das habe ich schon gethan.«
»Mir es also wiederholen.«
»Ich wiederhole es, aber beeilt Euch, das Verbrechen ist bekannt und das Geständniß erfolgt, warum mich also warten lassen?«
»Mir steht es nicht zu, die Stunde des Todes eines Menschen zu bestimmen; es wird geschehen nach der Entscheidung des Kaisers.«
Er rief sodann den Soldaten und sagte:
»Führt den Mann in ein besonderes Zelt und lasset es ihm an nichts fehlen; eine einzige Schildwache genügt, ich habe sein Ehrenwort.«
Der Gefangene wurde abgeführt und Emanuel Philibert sah ihm nach, so lange er ihn erblicken konnte.
Dann glaubte er ein leichtes Geräusch hinter sich zu hören und er drehte sich um.
Leona stand hinter ihm.
Das Herabfallen der Zeltthür hatte das Geräusch verursacht.
Leona erschien mit gefalteten Händen, auf ihrem Gesichte sah man Spuren von Thränen, die sie wahrscheinlich bei der Erzählung des Gefangenen vergossen hatte.
»Was willst Du?« fragte Emanuel.
»Dir sagen,« entgegnete Leona, »daß der junge Mann nicht sterben kann, nicht sterben darf.«
Das Gesicht Emanuel Philiberts verdüsterte sich.
»Leona,« antwortete er, »Du hast nicht nachgedacht über das was Du verlangst. Der Mann hat ein schreckliches Verbrechen, wenn nicht begangen, so doch begehen wollen.«
»Gleichviel,« entgegnete Leona, indem sie die Arme um Emanuel schlang, »ich wiederhole Dir, er kann nicht sterben.«
»Der Kaiser wird über sein Schicksal entscheiden, Leona; ich kann nichts thun, als dem Kaiser alles berichten.«
»Und ich sage Dir, mein Emanuel, Du würdest seine Begnadigung erlangen, nicht wahr, wenn der Kaiser ihn verurtheilte?«
»Leona, Du glaubst ich habe einen Einfluß auf den Kaiser, den ich nicht besitze; die Gerechtigkeit muß ihren Lauf haben und wenn sie verurtheilt…«
»Sollte sie verurtheilen, so muß Odoardo Maraviglia doch leben, Emanuel, er muß, Geliebter.«
»Und warum muß er?«
»Weil er,« entgegnete Leona, »weil er – mein Bruder ist.«
Emanuel konnte eine laute Aeußerung seines Staunens nicht unterdrücken.
Alles war durch die Worte Leona’s über Odoardo Maraviglia: »er ist mein Bruder,« erklärt. Die vor Erschöpfung und Hunger sterbende Frau am Ufer der Sesia, das Kind, das so hartnäckig seine Herkunft und sein Geschlecht verheimlichte, der Page, welcher den Diamanten Carls V. nicht annahm.