Kitabı oku: «Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1», sayfa 101
CLXII.
Die Abreise
Das Geschäft bei dem Notar war bald in Ordnung gebracht. Gilbert hinterlegte unter seinem Namen einige hundert weniger als zwanzig tausend Livres, bestimmt, die Kosten der Erziehung und des Unterhalts des Kindes zu tragen, so wie auch, um ihm eine häusliche Niederlassung zu gestatten, wenn es das Mannesalter erreicht hätte.
Gilbert bestimmte Erziehung und Unterhalt auf die Summe von fünfhundert Livres jährlich, fünfzehn Jahre hindurch, und verordnete, daß der Rest des Geldes auf irgend eine Ausstattung, oder auf den Ankauf eines Etablissement oder eines Gutes verwendet werden sollte.
Nachdem er so an das Kind gedacht hatte, dachte Gilbert an die Pflegeeltern. Es war sein Wille, daß zweitausend vierhundert Livres den Pitou von dem Kind, sobald es das achtzehnte Jahr erreicht hätte, gegeben werden sollten. Bis dahin sollte Meister Niquet ihnen nur das jährliche Kostgeld bis zum Betrag von fünfhundert Livres ausbezahlen.
Meister Niquet sollte das Interesse des Geldes als Lohn für seine Mühe genießen.
Gilbert ließ sich einen Empfangschein in guter Form für das Geld von Niquet, für das Kind von Pitou geben: Pitou controlirte die Unterschrift von Niquet für die Summe, Niquet die von Pitou für das Kind; so daß Gilbert gegen die Mittagsstunde abreisen konnte, wobei er Niquet in Bewunderung dieser frühreifen Weisheit, Pitou im Jubel über ein so unerwartetes Glück zurückließ.
An der Markung des Dorfes Haramont kam es Gilbert vor, als trennte er sich von der ganzen Welt; nichts hatte für ihn mehr Bedeutung, nichts mehr Verheißung. Er hatte sich vom sorglosen Leben des jungen Mannes geschieden und eine von den ernsten Handlungen vollbracht, welche die Menschen ein Verbrechen nennen konnten, welche Gott mit einer schweren Strafe belegen konnte.
Doch im Vertrauen auf seine eigenen Ideen, auf seine eigenen Kräfte, hatte Gilbert indessen den Muth, sich den Armen von Meister Niquet zu entreißen, der ihn begleitet, der eine lebhafte Freundschaft für ihn gefaßt hatte, und ihn durch tausend und aber tausend Verführungsmittel versuchte.
Doch der Geist ist launenhaft; die menschliche Natur ist Schwächen unterworfen. Je mehr ein Mensch Willen, Federkraft hat, desto mehr ermißt er, in die Ausführung von Unternehmungen geworfen, die Entfernung, die ihn schon von seinem ersten Schritt trennt. Dann werden die Muthigsten unruhig, dann sagen sie sich wie Cäsar: »Habe ich schon den Rubicon überschritten?«
Als sich Gilbert allein am Saume des Waldes fand, wandte er noch einmal seine Blicke nach den Bäumen mit den röthlichen Gipfeln, die ihm ganz Haramont mit Ausnahme des Kirchturmes verbargen. Dieses reizende Gemälde des Glücks und des Friedens versetzte ihn in eine Träumerei voll Kummer und zugleich voll Wonne.
»Ich Narr, der ich bin,« sagte er, »wohin gehe ich? Wendet sich Gott nicht mit Zorn in der Tiefe des Himmels ab? Wie! ein Gedanke hat sich mir geboten; wie! ein Mann von Gott erweckt, um das Böse zu veranlassen, das ich gethan, hat eingewilligt, dieses Böse wieder gut zu machen, und ich bin heute der Besitzer eines Schatzes und meines Kindes! Mit zehntausend Livres, – wobei zehntausend andere dem Kind vorbehalten bleiben, kann ich hier wie ein glücklicher Feldbauer, unter diesen guten Landleuten, im Schooße dieser erhabenen und fruchtbaren Natur leben. Ich kann mich auf immer in eine süße Glückseligkeit begraben; arbeiten und denken; diese Welt vergessen und mich vergessen lassen; ich kann, ungeheures Glück! mein Kind selbst erziehen, und so meine Arbeit genießen.«
»Warum nicht? sind mir nicht diese guten Möglichkeiten durch Gott geschickt? Sind sie nicht die Entschädigung für alle meine vergangenen Leiden? Oh! ja, ich kann mit diesem Kind theilen, das ich selbst erzogen haben werde, wobei ich das Geld verdiene, das man Miethlingen geben müßte. Ich kann Meister Niquet gestehen, daß ich sein Vater bin. Ich kann Alles!«
Und sein Herz füllte sich allmälig mit einer unsäglichen Freude und mit einer Hoffnung, die er noch nie gekostet hatte, selbst nicht in den lachendsten Trugbildern seiner Träume.
Plötzlich erwachte der Wurm, der im Grunde dieser schönen Frucht schlummerte, und zeigte sein scheußliches Haupt; es war dies die Reue, es war die Schaam, es war das Unglück.
»Ich kann nicht,« sagte Gilbert erbleichend zu sich selbst, »Ich habe das Kind dieser Frau gestohlen, wie ich ihr ihr Glück gestohlen habe . . . Ich habe diesem Mann das Geld gestohlen, um, wie ich sagte, eine Genugthuung damit zu leisten . . . ich bin nicht mehr berechtigt, mir selbst ein Glück damit zu machen; ich bin nicht mehr berechtigt, das Kind zu behalten, da es eine Andere nicht haben wird. Es gehört uns Beiden, dieses Kind, oder Niemand.«
Und nach diesen Worten, die so schmerzlich einschnitten wie tiefe Wunden, erhob sich Gilbert in Verzweiflung; sein Gesicht drückte die düstersten, die gehässigsten Leidenschaften aus.
»Es sei!« sagte er, »ich werde unglücklich sein; es sei! ich werde leiden; es sei! es wird mir an Allem und an Allen fehlen; doch die Theilung, die ich mit dem Guten machen mußte, will ich auch mit dem Bösen machen. Mein Erbgut ist fortan die Rache und das Unglück, Sei unbesorgt, Andrée, ich werde getreulich mit Dir theilen.«
Er wandte sich nach rechts, und drang, nachdem er durch einen Augenblick der Ueberlegung sich orientirt hatte, in die Wälder ein, um die Straße nach der Normandie zu erreichen, die er nach seiner Berechnung in vier Tagesmärschen treffen mußte.
Er besaß neun Livres und einige Sous. Sein Aeusseres war anständig, sein Gesicht ruhig. Ein Buch unter dem Arme, glich er sehr einem Studenten von Familie, der in das väterliche Haus zurückkehrt.
Er nahm die Gewohnheit an, bei Nacht auf den schönen Wegen zu marschiren und bei Tag in den Wiesgründen unter den Sonnenstrahlen zu schlafen. Nur zweimal belästigte ihn der Wind so sehr, daß er sich gezwungen sah, in eine Hütte einzutreten, wo er auf einem Stuhl am Herde auf’s Allerbeste schlief, ohne zu bemerken, daß die Nacht gekommen war.
Er hatte immer eine Entschuldigung und eine Bestimmung. »Ich gehe nach Rouen zu meinem Oheim,« sagte er; »ich wollte als ein junger Mensch die Reise zu Fuß machen, um mich zu zerstreuen.«
Kein Verdacht von Seiten der Bauern; das Buch verlieh damals eine geachtete Haltung. Wenn Gilbert auf diesem oder jenem mehr zusammengezogenen Mund einen Zweifel schweben sah, sprach er von einem Seminar nach dem ihn sein Beruf hinziehe. Dies war ein vollständiger Ableiter für jeden schlimmen Gedanken.
So vergingen acht Tage, während welcher Gilbert wie ein Bauer lebte, zehn Sous täglich ausgab und zehn Landmeilen zurücklegte. Er kam in der That nach Rouen, und hier hatte er nicht mehr nöthig, sich zu erkundigen, oder den Weg zu suchen. Das Buch, das er bei sich trug, war ein reich eingebundenes Exemplar der Neuen Heloise. Rousseau hatte ihm ein Geschenk damit gemacht und seinen Namen auf das erste Blatt des Buches geschrieben.
Nunmehr auf vier Livres und einen Sou beschränkt, riß er dieses Blatt, das er sorgfältig aufbewahrte, heraus und verkaufte das Buch an einen Buchhändler, der ihm drei Livres dafür gab.
So gelangte der junge Mann nach drei weiteren Tagen in’s Angesicht vom Havre, wo er das Meer bei Sonnenuntergang erblickte.
Seine Schuhe befanden sich in einem nicht sehr entsprechenden Zustand für einen jungen Mann, der bei Tag eitler Weise seidene Strümpfe anzog, um durch die Städte zu wandeln; doch Gilbert hatte abermals einen Gedanken. Er verkaufte seine seidenen Strümpfe, oder vertauschte sie vielmehr gegen ein paar tadellose Schuhe, was die Dauerhaftigkeit betrifft . . . von der Eleganz sprechen wir nicht.
Diese letzte Nacht brachte er in Harfleur zu, wo er für Wohnung und Speise sechzehn Sous zu bezahlen hatte. Er aß hier zum ersten Mal in seinem Leben Austern. »Ein Gericht der Reichen für den ärmsten der Menschen,« sagte er zu sich selbst, »so wahr ist es, daß Gott immer nur das Gute gemacht hat, während die Menschen das Böse gemacht haben, nach dem Grundsatze von Rousseau.«
Um zehn Uhr Morgens, am 13. December erreichte Gilbert das Havre, und mit dem ersten Blick erschaute er den Adonis, eine schöne Brigg von dreihundert Tonnen, die sich im Bassin schaukelte.
Der Hafen war verlassen. Gilbert trat auf die schmale, nur aus ein paar Brettern bestehende Brücke, die nach dem Schiffe führte.
Ein Schiffsjunge näherte sich ihm, um ihn zu befragen.
»Ich wünschte den Kapitän zu sprechen,« sagte Gilbert. Der Schiffsjunge machte ein Zeichen nach dem Zwischendeck, und alsbald rief eine Stimme von unten: »Laßt ihn herabkommen.«
Gilbert ging hinab. Man führte ihn in ein kleines Zimmer, das ganz von Acajouholz gebaut und mit der größten Einfachheit meublirt war.
Ein Mann von dreißig Jahren, bleich, nervig, mit lebhaftem, unruhigem Auge, las eine Zeitung an einem Acajoutisch.
»Was will der Herr?« fragte er Gilbert.
Gilbert bedeutete diesem Mann durch ein Zeichen, er möge seinen Schiffsjungen entfernen, und dieser ging auch wirklich sogleich ab.
»Sie sind der Kapitän des Adonis, mein Herr?« sagte Gilbert.
»Ja, mein Herr.«
»Dann ist dieses Papier an Sie gerichtet.«
Er reichte dem Kapitän das Billet von Balsamo.
Kaum hatte der Kapitän die Handschrift gesehen, als er hastig zu Gilbert mit einem äußerst freundlichen Lächeln sagte?
»Ah! Sie auch . . . so jung! gut! gut!«
Gilbert verbeugte sich nur.
»Sie wollen? . . .
»Nach Amerika.«
»Sie reisen ab?«
»Wann Sie selbst reisen werden.«
»Gut. In acht Tagen also.«
»Was werde ich während dieser acht Tage machen, Kapitän?«
»Haben Sie einen Paß?«
»Nein.«
»Dann kommen Sie diesen Abend an Bord zurück, nachdem Sie den ganzen Tag außerhalb der Stadt, in Saint-Adresse zum Beispiel, spazieren gegangen sind.«
»Ich muß essen und habe kein Geld mehr.«
»Sie werden hier zu Mittag und zu Nacht speisen.«
»Und hernach?«
»Sind Sie einmal eingeschifft, so kehren Sie nicht mehr an’s Land zurück; sie bleiben hier verborgen; Sie reisen ab, ohne den Himmel wieder gesehen zu haben . . . Sobald Sie zwanzig Meilen weit von hier in See sind, steht es Ihnen frei, zu thun, was Sie wollen.«
»Gut.«
»Thun Sie also Alles, was Ihnen zu thun übrig bleibt.«
»Ich habe einen Brief zu schreiben.«
»Schreiben Sie ihn.«
»Wo?«
»Auf diesem Tisch . . . Hier haben Sie Federn, Tinte und Papier; die Post ist in der Vorstadt. Der Schiffsjunge wird Sie führen.«
»Ich danke, Kapitän!«
Als Gilbert allein war, schrieb er einen kurzen Brief, auf den er die Aufschrift setzte:
»Fräulein Andrée von Taverney; Paris, Rue Coq-Héron, N. 9, beim ersten Thorweg von der Rue Plastrière an.«
Dann schob er diesen Brief in seine Tasche, aß, was ihm der Kapitän selbst vorsetzte, und folgte dem Schiffsjungen, der ihn nach der Post führte, wo er den Brief abgab.
Den ganzen Tag schaute Gilbert vom steilen Ufer aus nach dem Meer hinaus.
Als die Nacht einbrach kehrte er zurück. Der Kapitän wartete auf ihn und ließ ihn in das Schiff eintreten.
CLXIII.
Der letzte Abschied von Gilbert
Philipp hatte eine furchtbare Nacht zugebracht: die Tritte auf dem Schnee bewiesen ihm auf das Augenscheinlichste, daß sich Jemand in das Haus eingeschlichen hatte, um das Kind zu entwenden; aber wen anklagen? Kein anderes Merkmal gab ihm Licht in seinem Verdacht.
Philipp kannte seinen Vater so genau, daß er nicht an einer Mitschuld von seiner Seite bei dieser Angelegenheit zweifelte. Herr von Taverney hielt Ludwig XV. für den Vater dieses Kindes; er mußte einen großen Werth auf dieses lebendige Zeugniß einer vom König an Madame Dubarry begangenen Untreue legen. Der Baron mußte ebenfalls glauben, Andrée würde früher oder später ihre Zuflucht zur Gunst nehmen, und sie würde dann sehr theuer das Hauptmittel ihres zukünftigen Glückes wieder an sich kaufen.
Auf eine ganz frische Offenbarung des väterlichen Charakters gegründet, trösteten diese Betrachtungen einigermaßen Philipp, der das Kind wiederzuerlangen für möglich hielt, da er die Räuber kannte.
Er lauerte daher um acht Uhr auf die Ankunft des Doctor Louis, dem er, auf der Straße auf- und abgehend, das furchtbare Ereigniß der Nacht erzählte.
Der Doctor war ein Mann von gutem Rath; er untersuchte die Spuren im Garten und trat, nach einiger Ueberlegung, den Vermuthungen von Philipp bei.
»Der Baron ist mir hinreichend bekannt, daß ich ihn nicht dennoch ein anderes Interesse, ein unmittelbares Interesse zu der Entwendung des Kindes bestimmt haben?«
»Welches Interesse, Doctor?«
»Das des wahren Vaters.«
»Oh!« rief Philipp, »ich hatte einen Augenblick diesen Gedanken; doch der Unglückliche hat nicht einmal Brod für sich selbst: er ist ein Narr, ein Exaltirter, zu dieser Stunde ein Flüchtling, der vor meinem Schatten bange haben muß . . . Täuschen wir uns nicht, Doctor, der Elende hat dieses Verbrechen begangen, weil sich ihm Gelegenheit geboten; doch nun, da ich vom Zorn mehr entfernt bin, obgleich ich dieses Verbrechen hasse, glaube ich, daß ich ein Zusammentreffen mit ihm vermeiden würde, um ihn nicht zu tödten. Ich glaube, er muß Gewissensbisse fühlen, die ihn bestrafen; ich glaube, daß der Hunger und die Landstreicherei mich eben so wirksam an ihm rächen, als mein Degen.«
»Sprechen wir nicht mehr davon,« sagte der Doctor.
»Theurer, vortrefflicher Freund, wollen Sie nur die Güte haben, noch zu einer Lüge einzuwilligen: denn vor Allem müssen wir Andrée beruhigen; Sie werden ihr sagen, Sie seien gestern über die Gesundheit des Kindes unruhig gewesen, Sie seien in der Nacht zurückgekommen, um es zu holen und zu seiner Amme zu bringen. Das ist die erste Fabel, die mir in den Kopf gekommen, und die ich für Andrée improvisirt habe.«
»Ich will das sagen; doch Sie werden das Kind suchen.«
»Ich habe ein Mittel, es aufzufinden. Ich bin entschlossen, Frankreich zu verlassen; Andrée tritt in das Kloster von Saint-Denis; ich gehe zu Herrn von Taverney; ich sage ihm, ich wisse Alles; ich nöthige ihn, als ob er ein Fremder wäre, mir den Ort zu entdecken, wo das Kind verborgen ist. Seinen Widerstand überwinde ich durch die Drohung einer öffentlichen Bekanntmachung, durch die Drohung mit dem Beistand der Frau Dauphine.«
»Und was werden Sie mit dem Kind machen, wenn Ihre Schwester im Kloster ist?«
»Ich thue es zu einer Amme, die Sie mir empfehlen . . . dann ins Colleg, und wenn es groß ist, nehme ich es zu mir, wenn ich lebe.«
»Und Sie glauben, die Mutter werde einwilligen, Sie zu verlassen, ihr Kind zu verlassen?«
»Andrée wird fortan ihre Einwilligung zu Allem geben, was mir genehm ist. Sie weiß, daß ich einen Schritt bei der Frau Dauphine gemacht habe, die mir ihr Wort gegeben, und wird mich nicht dem aussetzen, daß ich mich gegen die unserer Beschützerin schuldige Achtung verfehle.«
»Ich bitte, lassen Sie uns zu der armen Mutter gehen,« sagte der Doctor.
Und er ging in der That zu Andrée hinein, welche, getröstet durch die Bemühungen von Philipp, sanft schlief.
Ihr erstes Wort war eine Frage an den Doctor, der schon durch eine lachende Miene geantwortet hatte.
Andrée gewann von da an eine vollkommene Ruhe, was ihre Wiedergenesung so sehr beschleunigte, daß sie zehn Tage nachher aufstand und zur Stunde, wo die Sonne auf die Scheiben fiel, im Gewächshause auf- und abgehen konnte.
Zur Zeit dieses ersten Spazierganges kam Philipp, der sich auf einige Tage entfernt hatte, nach dem Hause der Rue Coq-Héron mit einem so düstern Gesicht zurück, daß der Doctor, der ihm die Thüre öffnete, ein großes Unglück ahnete.
»Wie ist es?« fragte er, »weigert sich der Vater, das Kind zurückzugeben?«
»Der Vater,« antwortete Philipp, »ist von einem heftigen Fieber befallen worden, das ihn drei Tage nach seiner Abreise von Paris an sein Bett fesselte, und der Vater schwebte in der äußersten Gefahr, als ich ankam; ich hielt diese ganze Krankheit für eine List, für eine Finte, für einen Beweis seiner Theilnahme an der Entwendung. Ich drang in ihn, ich drohte, Herr von Taverney schwor mir bei Christus, er verstehe nicht, was ich wolle.«
»Somit kommen Sie ohne Nachricht zurück?«
»Ja, Doctor.«
»Und überzeugt von der Wahrhaftigkeit des Barons?«
»Beinahe überzeugt.«
»Schlauer als Sie, hat er sein Geheimniß nicht preisgegeben?«
»Ich drohte ihm, die Hülfe der Dauphine anzurufen, und der Baron erbleichte. ,Richte mich zu Grunde, wenn Du willst,’ sagte er; ,entehre Deinen Vater und Dich, das wird eine Tollheit sein, die zu keinem Resultat führt. Ich weiß nicht, was Du meinst.’ «
»Und so . . .«
»So komme ich in Verzweiflung zurück.«
In diesem Augenblick hörte Philipp die Stimme seiner Schwester rufen:
»Ist nicht Philipp gekommen?«
»Großer Gott! hier ist sie . . . Was soll ich sagen?« flüsterte Philipp.
»Stille!« erwiederte der Doctor.
Andrée trat in das Zimmer und küßte ihren Bruder mit einer freudigen Zärtlichkeit, welche das Herz des jungen Mannes in Eis verwandelte.
»Nun!« fragte sie, »woher kommst Du?«
»Ich komme vor Allem von meinem Vater, wie ich Dir vorher gesagt habe.«
»Befindet sich der Herr Baron wohl?«
»Ja, Andrée; doch das ist nicht der einzige Besuch, den ich gemacht habe . . . Ich habe auch mehrere Personen wegen Deines Eintritts in Saint-Denis besucht. Gott sei Dank, es ist nun Alles vorbereitet, Du bist gerettet, und Du kannst Dich nun auf eine verständige und entschiedene Weise mit Deiner Zukunft beschäftigen.«
Andrée näherte sich ihrem Bruder und sagte mit einem zärtlichen Lächeln:
»Theurer Freund, meine Zukunft beschäftigt mich nicht mehr, und meine Zukunft soll überhaupt Niemand beschäftigen . . . Die Zukunft meines Kindes ist Alles für mich, und ich werde mich einzig und allein dem Sohn widmen, den mir Gott geschenkt hat. Dies ist mein Entschluß, den ich unwiderruflich gefaßt habe, seitdem ich nach der Rückkehr meiner Kräfte nicht mehr an der Festigkeit meines Geistes zweifeln konnte. Für meinen Sohn leben, durch Entbehrungen leben, arbeiten sogar, wenn es nöthig ist; aber ihn Tag und Nacht nicht verlassen, das ist die Zukunft, die Ich mir vorgezeichnet habe. Kein Kloster, keine Selbstsucht mehr; ich gehöre Jemand: Gott will nichts mehr von mir!«
Der Doctor schaute Philipp an, als wollte er ihn fragen:
»Nun, was habe ich vorhergesehen?«
»Meine Schwester!« rief der junge Mann, »meine Schwester, was sagst Du?«
»Klage mich nicht an, Philipp, das ist nicht eine Laune einer schwachen und eitlen Frau; ich werde Dich nicht belästigen, ich werde Dir keinen Zwang auferlegen.«
»Aber . . . Andrée, ich kann nicht in Frankreich bleiben; ich habe kein Vermögen, keine Zukunft mehr; ich kann wohl einwilligen, Dich am Fuß eines Altars zurückzulassen, aber in der Welt, in der Armuth, bei der Arbeit, Andrée . . . gib wohl Acht.«
»Ich habe Alles vorhergesehen . . . ich liebe Dich aufrichtig, Philipp; doch wenn Du mich verlässest, verschlucke ich meine Thränen und flüchte mich zu der Wiege meines Sohnes.«
Der Doctor näherte sich und sagte: »Das ist Uebertreibung, das ist Wahnsinn.«
»Ah! Doctor, was wollen Sie? . . . Mutter sein ist ein Zustand des Wahnsinns . . . Doch diesen Wahnsinn hat mir Gott geschickt. So lange das Kind meiner bedarf, beharre ich bei meinem Entschluß.«
Philipp und der Doctor wechselten plötzlich einen Blick.
»Mein Kind,« sagte der Doctor zuerst, »ich bin kein sehr beredter Prediger, aber ich glaube mich zu erinnern, daß Gott zu lebhafte Anhänglichkeit an das Geschöpf verbietet.«
»Ja, meine Schwester,« fügte Philipp bei.
»Doctor, Gott verbietet einer Mutter nicht, ihren Sohn lebhaft zu lieben, wie ich glaube.«
»Verzeihen Sie mir, meine Tochter, der Philosoph, der Arzt versucht es, den Abgrund zu ermessen, den der Theolog für die menschlichen Leidenschaften gräbt. Bei jeder Vorschrift, welche von Gott kommt, suchen Sie die Ursache, nicht die moralische, denn das ist zuweilen eine Subtilität der Vervollkommnung, suchen Sie den materiellen Grund. Gott verbietet einer Mutter, ihr Kind übermäßig zu lieben, weil das Kind eine schwächliche, zarte, allen Uebeln, allen Leiden ausgesetzte Pflanze ist, und weil ein ephemeres Geschöpf lebhaft lieben sich der Verzweiflung aussetzen heißt.«
»Doctor, warum sagen Sie mir das? Und Du, Philipp , warum schaust Du mich mit diesem Mitleid, mit dieser Blässe an?«
»Liebe Andrée,« erwiederte der junge Mann, »befolge meinen Rath, den Rath eines zärtlichen Freundes; Deine Gesundheit ist wiederhergestellt, tritt sobald als möglich in das Kloster von Saint-Denis ein.«
»Ich! . . . Ich habe Dir gesagt, daß ich meinen Sohn nicht verlassen werde.«
»So lang er Ihrer bedürfe,« sprach der Doctor mit sanftem Ton.
»Mein Gott!« rief Andrée, »was ist es? sprechen Sie; etwas Trauriges . . . Grausames?«
»Nehmen Sie sich in Acht,« flüsterte der Doctor Philipp zu; »sie ist noch zu schwach, um einen entscheidenden Schlag zu ertragen.«
»Mein Bruder, Du antwortest nicht; erkläre Dich.«
»Liebe Schwester, Du weißt, daß ich auf der Rückkehr durch Point-du-Jour gekommen bin, wo Dein Sohn bei einer Amme ist.«
»Ja . . . und?«
»Das Kind ist ein wenig krank.«
»Krank . . . das liebe Kind! Geschwinde, Marguerite, . . . einen Wagen! ich will mein Kind sehen.«
»Unmöglich!« rief der Doctor; »Sie sind nicht im Stand, auszugehen oder eine Fahrt zu ertragen.«
»Sie haben mir noch diesen Morgen gesagt, es wäre dies möglich; Sie sagten mir morgen, nach der Ankunft von Philipp, könnte ich den armen Kleinen besuchen . . .«
»Ich hatte eine bessere Ansicht von Ihrem Gesundheitszustand.«
»Sie täuschen mich.«
Der Doctor schwieg.
»Marguerite!« wiederholte Andrée, »man gehorche mir . . . einen Wagen!«
»Aber das kann Dir den Tod bringen,« unterbrach sie Philipp.
»Nun, so werde ich sterben! . . . es liegt mir nicht so viel am Leben! . . .«
Marguerite wartete und schaute abwechselnd ihre Gebieterin, ihren Herrn und den Doctor an.
»Wenn ich befehle . . .« rief Andrée, deren Wangen sich mit einer plötzlichen Röthe bedeckten.
»Theure Schwester!«
»Ich höre nichts mehr, und wenn man mir einen Wagen verweigert, gehe ich zu Fuß.«
»Andrée,« sagte Philipp, indem er sie in seine Arme nahm, »Du wirst nicht gehen, nein, Du brauchst nicht dahin zu gehen.«
»Mein Kind ist todt!« stammelte Andrée kalt und ließ ihre Arme an dem Lehnstuhl hinabfallen, in den Philipp und der Doctor sie gesetzt hatten.
Philipp antwortete nur dadurch, daß er eine von ihren kalten, trägen Händen küßte . . . Allmälig verlor der Hals von Andrée seine Starrheit; sie ließ ihren Kopf auf ihren Busen fallen und vergoß reichliche Thränen.
»Gott hat gewollt, daß wir dieses neue Unglück erfahren; Gott, der so gerecht, so groß ist; Gott, der vielleicht andere Absichten mit Dir hatte; Gott, der ohne Zweifel urtheilte, die Gegenwart dieses Kindes an Deiner Seite wäre eine unverdiente Strafe . . .«
»Aber . . .« seufzte die arme Mutter, »aber warum hat Gott dieses unschuldige Geschöpf leiden lassen?«
»Gott hat es nicht leiden lassen, mein Kind,« erwiederte der Doctor; »es ist in der Nacht seiner Geburt gestorben . . . Beklagen Sie es nicht mehr, als den Schatten, der vorüberzieht und verschwindet.«
»Seine Schreie, die ich hörte? . . .«
»Waren sein Abschied vom Leben.«
Andrée verbarg ihr Gesicht in ihren Händen, während die zwei Männer, ihre Gedanken in einen beredten Blick vermengend, ihrer frommen List Beifall spendeten.
Plötzlich kehrte Marguerite, einen Brief in der Hand, zurück . . . Dieser Brief war an Andrée gerichtet, und die Aufschrift lautete wie folgt:
»An Fräulein Andrée von Taverney, Rue Coq-Héron, die erste Thüre nach Rue Plastrière.«
Philipp zeigte ihn dem Doctor über dem Kopf von Andrée, welche nicht mehr weinte, aber in ihre Schmerzen versunken war.
»Wer kann ihr hierher schreiben,« dachte Philipp; »Niemand kennt ihre Adresse, und die Handschrift ist nicht die unseres Vaters.«
»Geben Sie ihr den Brief,« unterbrach ihn der Doctor, »das wird eine Zerstreuung für die tiefe Träumerei sein, die mich beunruhigt.«
»Hier ist ein Brief für Dich, Andrée,« sagte Philipp.
Ohne zu überlegen. ohne zu widerstehen, ohne sich zu wundern, zerriß Andrée den Umschlag und entfaltete, nachdem sie ihre Augen getrocknet, das Papier, um zu lesen; doch kaum hatte sie die drei Zeilen durchlaufen, aus denen der Brief bestand, als sie einen gewaltigen Schrei ausstieß, wie eine Wüthende auffuhr und, während ihre Arme und ihre Füße in einem furchtbaren Krampf erstarrten, schwer wie eine Bildsäule in die Hände von Marguerite fiel, die ihr zusprang.
Philipp hob den Brief auf und las:
Auf der See, am 15. Dec. 17 . . .
»Ich reise! vertrieben durch Sie, und Sie werden mich nicht mehr sehen; doch ich nehme mein Kind mit, das Sie nie seine Mutter nennen wird.
Gilbert.«
Philipp zerknitterte das Papier mit einem Gebrüll! der Wuth.
»Oh!« rief er mit den Zähnen knirschend, »ich hatte das Verbrechen des Zufalls beinahe verziehen; doch dieses Verbrechen des Willens soll bestraft werden . . . Bei Deinem leblosen Haupte, Andrée, schwöre ich, den Elenden zu tödten, sobald er sich vor mir zeigt. Es wird Gottes Wille sein, daß ich ihn treffe, denn sein Maß ist voll. Doctor, wird Andrée zu sich kommen?«
»Ja, ja!«
»Doctor, Andrée muß morgen in das Kloster von Saint-Denis eintreten; übermorgen muß ich im nächsten Seehafen sein . . . Der Feige ist entflohen . . . ich weite ihn verfolgen . . . Ich muß dieses Kind haben . . . Doctor, was ist der nächste Seehafen?«
»Das Havre.«
»In sechs und dreißig Stunden bin ich im Havre,« rief Philipp.