Kitabı oku: «Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1», sayfa 100
CLX.
Das Dorf Haramont
Diese Fußstapfen im Schnee waren die von Gilbert, der seit seiner legten Zusammenkunft mit Balsamo seinem Spähergeschäft oblag und sich zu seiner Rache vorbereitete.
Es hatte ihn nichts große Mühe gekostet. Durch viele süße Worte und kleine Gefälligkeiten war es ihm gelungen, sich nicht nur eine Aufnahme bei der Haushälterin von Rousseau zu verschaffen, sondern sich sogar bei ihr beliebt zu machen. Das Mittel war einfach. Von den dreißig Sous täglich, welche Rousseau seinem Abschreiber aussetzte, erhob der mäßige Gilbert dreimal wöchentlich einen Livre, den er zum Ankauf eines für Therese bestimmten Geschenkes verwendete. Bald war dies ein Band für ihre Haube, bald irgend ein Naschwerk, oder eine Flasche süßer Wein. Empfänglich für Alles, was ihrem Geschmacke oder ihrer kleinen Eitelkeit schmeichelte, hätte sich die gute Dame am Ende mit den Ausrufungen begnügt, welche Gilbert bei Tische von sich gab, um ihr culinarisches Talent zu loben.
Es war nämlich dem Genfer Philosophen gelungen, seinem jungen Schützling Zulassung bei Tisch zu verschaffen, und seit den zwei letzten Monaten hatte sich Gilbert, so begünstigt, zwei Louis d’or zu seinem Schatz gesammelt, der neben den zwanzigtausend Livres von Balsamo unter dem Strohsack ruhte.
Doch welches Dasein! welche Starrheit in der Richtung des Benehmens und des Willens! Gilbert stand bei Tagesanbruch auf und fing damit an, daß er mit seinem untrüglichen Auge die Lage von Andrée untersuchte, um die geringste Veränderung zu erkennen, welche in der so düsteren und so regelmäßigen Existenz der Klausnerin eingetreten sein könnte.
Nichts entging dann seinem Blick: weder der Sand im Garten, auf dem sein durchdringendes Auge die Eindrücke des Fußes von Andrée maß, noch die Falte der mehr oder minder hermetisch geschlossenen Vorhänge, deren theilweise Oeffnung für Gilbert ein sicheres Anzeichen von der Laune der Gebieterin war; denn in ihren Tagen des Hinschmachtens entzog sich Andrée sogar dem Anblick des Sonnenlichts . . . Auf diese Art wußte Gilbert, was in der Seele und was im Hause vorging.
Er hatte auch Mittel gefunden, sich alle Schritte von Philipp zu erklären, und mir der Berechnung, die er zu machen wußte, täuschte er sich weder über die Absicht beim Ausgang, noch über den Erfolg bei der Rückkehr.
Er trieb sogar seine ängstliche Späherei so weit, daß er Philipp folgte, als er den Doctor Louis in Versailles aufsuchte. Dieser Besuch in Versailles beunruhigte wohl ein wenig in seinen Gedanken den Späher; als er aber zwei Tage nachher den Doctor heimlich durch die Rue Coq-Héron in den Garten schleichen sah, begriff er, was zwei Tage vorher ein Geheimniß für ihn gewesen war.
Gilbert wußte jedes Datum, und es war ihm folglich nicht unbekannt, daß der Augenblick, der alle seine Hoffnungen verwirklichen sollte, herannahte. Er hatte so viel Vorsichtsmaßregeln getroffen, als man braucht, um den Erfolg eines von Schwierigkeiten strotzenden Unternehmens zu sichern. Man höre, wie sein Plan entworfen war.
Die zwei Louis d’or dienten ihm dazu, daß er im Faubourg Saint-Denis ein Cabriolet mit zwei Pferden miethete. Dieser Wagen sollte am Tag, wo er ihn verlangen würde, zu seiner Verfügung stehen.
Gilbert hatte überdies während eines Urlaubs von drei bis vier Tagen, den er genommen, die Umgegend von Paris durchforscht. Während dieses Urlaubs hatte er auch eine kleine Stadt im Soissonnais besucht, die achtzehn Meilen von Paris entfernt und von einem ungeheuren Wald umgeben war.
Dieses Städtchen hieß Villers-Cotterets. Sobald er daselbst ankam, begab er sich zu Meister Niquet, dem einzigen Notar des Ortes.
Gilbert stellte sich dem genannten Notar als der Sohn des Verwalters eines vornehmen Herrn vor. Dieser vornehme Herr war wohlwollend für das Kind von einer seiner Bäuerinnen gesinnt, und hatte Gilbert beauftragt, eine Amme für dieses Kind zu suchen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sich die Freigebigkeit des vornehmen Herrn nicht auf die Monate beschränken, wo das Kind bei der Amme wäre, sondern er würde überdies in die Hände von Meister Niquet noch eine weitere Summe niederlegen.
Da bezeichnete ihm Meister Niquet, der der Besitzer von drei schönen Jungen war, in einem eine Meile von Villers-Cotterets gelegenen Dörfchen, Namens Haramont, die Tochter der Amme seiner drei Söhne, welche, nachdem sie sich gesetzlich in seiner Schreibstube verheirathet hatte, das Gewerbe ihrer Frau Mutter fortführte.
Diese brave Frau hieß Madeleine Pitou und erfreute sich eines Sohnes von vier Jahren, der alle Symtome einer guten Gesundheit bot; sie hatte überdies abermals geboren, und stand so zur Verfügung von Gilbert an dem Tag, wo es ihm ihr den Säugling zu bringen oder zu schicken belieben würde.
Nachdem alle diese Anordnungen getroffen waren, kehrte Gilbert, stets pünktlich, zwei Stunden vor Ablauf des erbetenen Urlaubs nach Paris zurück.
Man wird uns nun fragen, warum Gilbert das Städtchen Villers-Cotterets im Vorzug vor einer andern Stadt gewählt habe. Hiebei, wie unter andern Umständen, handelte Gilbert unter dem Einfluß von Rousseau.
Rousseau nannte eines Tages den Wald von Villers-Cotterets als einen der reichsten in Beziehung auf Vegetation, den es gebe, und in diesem Wald führte er drei bis vier wie Nester im tiefsten Dunkel des Blätterwerk s verborgene Dörfer an.
Es war folglich unmöglich, das Kind von Gilbert in einem dieser Dörfer zu entdecken.
Haramont besonders war Gilbert entsprechend erschienen, obgleich Rousseau, der Menschenfeind, Rousseau der Einsiedler, jeden Augenblick wiederholte:
»Haramont ist das Ende der Welt; Haramont ist die Wüste: man kann dort leben und sterben, wie der Vogel, auf dem Zweig, so lange er lebt, unter dem Blatt wenn er stirbt.«
Gilbert hörte auch den Philosophen die Einzelnheiten vom Innern der Hütte zeichnen und mit jenen Feuerzügen, womit er die Natur belebte, Alles, vom Lächeln der Amme bis zum Blöken der Ziege, von dem Appetit erregenden Geruch der rohen Kohlsuppen bis zu den Düften der wilden Maulbeerbäume und des veilchenartigen Heidekrauts, schildern.
»Dorthin werde ich gehen,« sagte Gilbert zu sich selbst; »mein Kind soll unter dem Schatten groß werden, wo der Meister Wünsche und Seufzer ausgeathmet hat.«
Für Gilbert war eine Phantasie eine unveränderliche Regel, besonders wenn sich diese Phantasie unter dem Anschein moralischer Nothwendigkeit darbot.
Seine Freude war also groß, als Meister Niquet, seinen Wünschen entgegenkommend, ihm Haramont als ein Dorf nannte, das seinen Absichten entspreche.
Sobald Gilbert nach Paris zurückgekehrt war, beschäftigte er sich mit dem Cabriolet.
Das Cabriolet war nicht schön, wohl aber solid, und mehr brauchte es nicht. Die Pferde waren untersetzte Thiere aus dem Perche; der Postillon ein plumper Stalltölpel; doch für Gilbert war es die Hauptsache, ans Ziel zu gelangen und besonders keine Neugierde zu erregen.
Seine Fabel hatte übrigens Meister Niquet durchaus kein Mißtrauen eingeflößt; mit seinen neuen Kleidern sah er gefällig genug aus, um dem Sohn eines Verwalters von gutem Haus zu gleichen, oder einem verkleideten Kammerdiener eines Herzogs oder eines Pair.
Seine Mittheilung flößte ebenso wenig Mißtrauen dem Kutscher ein, denn es war dies die Zeit der Vertraulichkeiten zwischen Volk und Edelmann; man empfing damals das Geld mit einer gewissen Dankbarkeit, und ohne Erkundigungen einzuziehen.
Dabei waren in jener Zeit zwei Louis d’or so viel Werth, als jetzt vier, und vier Louis d’or gewinnt man auch in unsern Tagen immerhin gern.
Der Kutscher machte sich also verbindlich, wenn er zwei Stunden zuvor in Kenntniß gesetzt würde, den Wagen Gilbert zur Verfügung zu stellen.
Dieses Unternehmen hatte für den jungen Mann alle die Reize, welche die Einbildungskraft der Dichter und die Phantasie der Philosophen den schönen Dingen und den schönen Entschlüssen leihen. Das Kind einer grausamen Mutter entziehen, das heißt, Schmach und Trauer im Lager der Feinde ausstreuen; dann mit verändertem Gesicht in eine Hütte bei tugendhaften Landleuten, wie sie Rousseau schilderte, eintreten und auf eine Wiege eine bedeutende Summe niederlegen; wie ein Schutzgott von diesen armen Leuten betrachtet werden; für einen vornehmen Mann gelten . . . das war mehr, als es brauchte, um den Stolz, den Groll, die Nächstenliebe, den Haß gegen die Feinde zu befriedigen.
Endlich kam der unselige Tag. Er folgte auf zehn andere Tage, welche Gilbert in Bangigkeiten, auf zehn Nächte, die er schlaflos zugebracht hatte. Trotz der strengen Kälte lag er bei offenem Fenster im Bett, und jede Bewegung von Andrée oder von Philipp correspondirte mit seinem Ohr, wie mit der Klingel die Hand, welche an der Schnur zieht.
Er sah an diesem Tag Philipp und Andrée am Kamin mit einander reden: er sah die Magd, welche die Läden zu schließen vergaß, hastig nach Versailles gehen. Er lief sogleich zu seinem Kutscher, um ihn zu benachrichtigen, blieb vor dem Stall während der ganzen Zeit, da man anspannte, biß sich in die Hände und preßte seine Füße krampfhaft auf das Pflaster, um die Ungeduld zu unterdrücken. Endlich bestieg der Postillon sein Pferd und Gilbert sprang in das Cabriolet, das er an der Ecke einer öden Gasse, in der Nähe der Halle, halten ließ.
Dann kehrte er zu Rousseau zurück, schrieb einen Brief des Abschieds an den guten Philosophen, einen des Dankes an Therese, und meldete Beiden, eine kleine Erbschaft rufe ihn nach dem Süden, doch er würde wieder kommen . . . Alles ohne bestimmte Anzeige. Sein Geld in seiner Tasche, sein langes Messer in seinem Aermel, wollte er sich hierauf an der Röhre in den Garten hinablassen, als ihn ein Gedanke zurückhielt. Der Schnee! . . . Seit drei Tagen zu sehr umhergetrieben, hatte Gilbert nicht hieran gedacht. Auf dem Schnee würde man seine Spuren sehen . . .. Da diese Spuren nach dem Hause von Rousseau zuliefen, so würden Philipp und Andrée ohne allen Zweifel Nachforschungen anstellen lassen, und da die Entwendung des Kindes mit dem Verschwinden von Gilbert zusammenträfe, so müßte dieses ganze Geheimniß entdeckt werden.
Es war also durchaus nothwendig, den Weg durch die Rue Coq-Héron zu machen und durch die kleine Gartenthüre hineinzugehen, für welche Gilbert seit einem Monat einen Hauptschlüssel besaß, eine Thüre, von der ein gebahnter Pfad ausging, wo folglich seine Füße keine Spuren zurücklassen würden.
Er verlor keinen Augenblick und kam gerade in der Stunde an, wo der Fiacre, der den Doctor Louis brachte, vor dem Haupteingang des kleinen Hotels hielt.
Gilbert öffnete vorsichtig die Thüre, sah Niemand und verbarg sich an der Ecke des Pavillon beim Treibhaus.
Es war eine furchtbare Nacht; er konnte Alles hören; Seufzen, Stöhnen, durch die Qualen entrissenes Geschrei; er hörte sogar das erste Gewimmer des Sohnes, der ihm geboren worden war.
Auf den kahlen Stein gelehnt, empfing er, ohne es zu fühlen, allen Schnee, der klein und dicht vom schwarzen Himmel fiel. Sein Herz klopfte am Heft des Messers, das er verzweiflungsvoll an seine Brust preßte. Sein starres Auge hatte die Farbe des Bluts, das Licht des Feuers.
Endlich kam der Doctor heraus; endlich wechselte Philipp die letzten Worte mit dem Doctor.
Da näherte sich Gilbert dem Laden, seine Spur auf dem Schneeteppich bezeichnend, der unter seinen Füßen bis an die Knöchel krachte. Er sah Andrée in ihrem Bett schlummern. Marguerite im Lehnstuhl eingeschlafen; er suchte das Kind bei seiner Mutter, erblickte es aber nicht.
Er begriff sogleich, wandte sich nach der Thüre der Freitreppe, öffnete sie nicht ohne ein Geräusch, das ihn erschreckte, drang bis zum Bett, das Nicole als Lager gedient hatte, und legte tappend seine eisigen Finger auf das Gesicht des armen Kindes, dem der Schmerz die Schreie entriß, welche Andrée hörte.
Dann wickelte er das neugeborene Kind in eine wollene Decke und trug es fort, wobei er die Thüre halb offen ließ, um das so gefährliche Geräusch nicht zu wiederholen.
Eine Minute nachher erreichte er die Straße durch den Garten; er lief nach seinem Cabriolet, jagte den Postillon heraus, der unter dem Verdeck eingeschlafen war, schloß den ledernen Vorhang, während jener zu Pferde stieg, und rief:
»Einen halben Louis d’or für Dich, wenn wir in einer Viertelstunde vor der Barrière sind.«
Gut gegrifft, schlugen die Pferde sogleich einen Galopp an.
CLXI.
Die Familie Pitou
Auf dem Weg erschreckte Gilbert Alles. Das Knarren der Wagen, welche dem seinigen folgten, oder ihm voranfuhren, das Stöhnen des Windes in den dürren Bäumen, alle Geräusche kamen ihm wie eine organisirte Verfolgung, oder wie Schreie vor, von denjenigen ausgestoßen, welchen das Kind genommen worden war.
Nichts war indessen bedrohlich. Der Postillon that muthig seine Pflicht, und die zwei Pferde kamen dampfend in Dammartin zu der von Gilbert bestimmten Stunde, nämlich vor Tagesanbruch an.
Gilbert gab seinen halben Louis d’or, wechselte Pferde und Postillon, und die rasche Fahrt wurde fortgesetzt.
Während des ganzen ersten Theiles der Reise fühlte das Kind, sorgfältig in die Decke gehüllt und von Gilbert selbst beschützt, die Wirkung der Kälte nicht und gab nicht einen einzigen Schrei von sich. Sobald, der Tag erschien und Gilbert in der Ferne das Land erblickte, wurde er muthiger und stimmte, um die Klagen zu übertönen, welche das Kind hören zu lassen anfing, eines von jenen ewigen Liedern an, wie er sie in Taverney bei der Rückkehr von den Jagden sang.
Das Knarren der Achse, das Aechzen der Hängriemen, das Eisenwerk des ganzen Wagens, die Schellen der Pferde bildeten ihm ein teuflisches Accompagnement, dessen Gewalt der Postillon dadurch erhöhte, daß er mit dem Liede von Gilbert die Töne einer durchaus nicht verführerischen Bourbonnaise vermischte.
Daraus ging hervor, daß der letzte Führer entfernt nicht vermuthete, Gilbert habe ein Kind in seinem Cabriolet bei sich. Er hielt seine Pferde vor Villers-Cotterets an und empfing, wie dies verabredet war, den Preis für die Fahrt, nebst einem Sechs-Livres-Thaler; dann nahm Gilbert seine sorgfältig in die Decke gehüllte Bürde, stimmte sein Lied so ernst als möglich an, entfernte sich rasch, sprang über einen Graben und verschwand auf einem mit Blättern bestreuten Fußpfad, der sich rechts von der Straße abwandte und nach dem Dorfe Haramont hinablief.
Das Wetter war kälter geworden. Seit einigen Stunden fiel kein Schnee mehr; der Boden vor ihm war mit Gebüsch und dornigem Gestrüppe bedeckt. Darüber hoben sich ohne Blätter und traurigen Anblicks die Bäume des Waldes hervor, durch deren Astwerk das bleiche Azur eines noch nebeligen Himmels glänzte.
Die so frische Luft, die Düfte der Eichen, die Eisperlen, welche an den Enden der Zweige hingen, diese ganze Freiheit, diese ganze Poesie berührten auf das Lebhafteste die Einbildungskraft des jungen Mannes.
Er ging raschen und stolzen Schrittes durch die kleine Schlucht, ohne zu straucheln, ohne zu suchen, denn er befragte mitten unter den Baumgruppen den Glockenthurm des Fleckens und den blauen Rauch der Kamine, der durch das gräuliche Gitterwerk der Zweige zog. Nach Verlauf einer kleinen halben Stunde sprang er über einen von Epheu und vergelbter Kresse begrenzten Bach, und ersuchte an der ersten Hütte die Kinder eines Feldarbeiters, ihn zu Madeleine Pitou zu führen.
Stumm und aufmerksam, ohne verdutzt oder unbeweglich zu sein, wie andere Bauern, standen die Kinder auf, schauten dem Fremden in die Augen und führten ihn, sich an der Hand haltend, bis zu einem ziemlich großen Bauernhaus von gutem Aussehen, das am Rande des Baches lag, der an den meisten Häusern des Dorfes hinlief.
Dieser Bach hatte sehr durchsichtiges und durch das erste Schmelzen des Schnees etwas angelaufenes Wasser. Eine hölzerne Brücke, das heißt, ein breites Brett verband die Straße mit den aus Erde gemachten Stufen, welche nach dem Hause führten.
Eines von den Kindern, die ihm den Weg zeigten, bedeutete Gilbert mit dem Kopf, hier wohne Madeleine Pitou.
..Hier?« wiederholte Gilbert. Das Kind senkte sein Kinn ohne ein Wort zu artikuliren.
»Madeleine Pitou?« fragte Gilbert das Kind abermals.
Und als dieses seine stumme Bejahung wiederholt hatte, ging Gilbert über die kleine Brücke und öffnete die Thüre der Hütte, während die Kinder, die sich wieder bei der Hand genommen, aus Leibeskräften schauten, was bei Madeleine dieser schöne Herr mit dem braunen Frack und den Schnallenschuhen machen dürfte.
Gilbert hatte übrigens im Dorf noch keine andere lebendige Geschöpfe gesehen, als diese Kinder . . . Haramont war wirklich die so sehr gewünschte Einöde.
Sobald die Thüre geöffnet war, traf ein Schauspiel voll Zauber, für die ganze Welt im Allgemeinen und für einen Philosophenlehrling insbesondere, die Blicke von Gilbert.
Eine kräftige Bäuerin stillte ein hübsches Kind von einigen Monaten, während vor ihr knieend ein anderes Kind, ein starker Junge von vier bis fünf Jahren, mit lauter Stimme ein Gebet sprach.
An einer Ecke des Kamins bei einem Fenster, oder vielmehr bei einem Loch, das in einer Mauer angebracht und mit einer Scheibe geschlossen war, spann eine Bäuerin von fünfunddreißig bis sechsunddreißig Jahren Flachs; sie hatte ihr Rädchen auf ihrer Rechten, einen hölzernen Schemel unter ihren Füßen, und auf diesem Schemel lag ein guter fetter Pudel.
Als dieser Hund Gilbert erblickte, bellte er auf eine ziemlich gastfreundschaftliche Weise, und nur gerade so viel, als er brauchte, um seine Wachsamkeit darzuthun. Das betende Kind wandte sich um, brach den Satz des Pater kurz ab, und die zwei Frauen gaben eine Art von Ausruf von sich, der zwischen dem Erstaunen und der Freude die Mitte hielt.
Gilbert fing damit an, daß er der Amme zulächelte.
»Gute Frau Madeleine,« sagte er, »ich grüße Euch.«
Die Bäuerin machte einen Sprung und erwiederte:
»Der Herr kennt meinen Namen?«
»Wie Ihr seht; doch ich bitte, laßt Euch nicht stören. Statt eines Säuglings, den Ihr da habt, werdet Ihr zwei haben?«
Und er legte auf die plumpe Wiege des Bauernkindes das kleine Städterkind, das er mitgebracht hatte.
»Oh! wie hübsch es ist!« «rief die spinnende Bäuerin.
»Ja, Schwägerin Angelique, sehr hübsch,« sagte Madeleine.
»Diese Frau ist Eure Schwägerin?« fragte Gilbert, indem er die Spinnerin bezeichnete.
»Ja, meine Muhme, meine Muhme Gelique,« murmelte der kleine Bursche, der sich, ohne aufgefordert zu sein, in das Gespräch mischte.
»Schweige, mein Engel, schweige,« sagte die Mutter, »Du unterbrichst den Herrn.«’
»Was ich Euch vorzuschlagen habe, ist sehr einfach, gute Frau. Das Kind, das Ihr hier seht, ist der Sohn eines Pächters meines Herrn . . . eines zu Grunde gerichteten Pächters . . . Mein Herr, der Pathe dieses Kindes, will, daß es auf dem Land aufgezogen und zu einem guten Feldarbeiter gebildet werden soll; . . . gute Gesundheit . . . gute Sitten . . . Wollt Ihr das Kind übernehmen?«
»Aber, Herr . . .«
»Gestern geboren, hat es noch keine Nahrung bekommen,« unterbrach sie Gilbert. »Es ist übrigens der Säugling, von dem Meister Niquet, der Notar von Villers-Cotterets, mit Euch sprechen mußte.«
Madeleine ergriff sogleich das Kind und gab ihm die Brust mit einem edlen Ungestüm, das Gilbert tief rührte.
»Man hat mich nicht getäuscht,« sagte er, »Ihr seid eine brave Frau. Ich vertraue Euch also dieses Kind im Namen meines Herrn. Ich sehe, daß es hier glücklich sein wird, und es soll in diese Hütte einen Glückstraum für den bringen, den es hier findet. Wie viel habt Ihr monatlich für die Kinder von Meister Niquet von Villers-Cotterets genommen?«
»Zwölf Livres, Herr; doch Herr Niquet ist reich, und er fügte wohl hie und da einige Livres für den Zucker und den Unterhalt bei.«
»Mutter Madeleine,« sprach Gilbert stolz, »für dieses Kind hier werden Euch zwanzig Livres monatlich bezahlt, und das macht jährlich zweihundert und vierzig Livres.«
»Jesus!« rief Madeleine, »oh! ich danke, Herr!«
»Hier für das erste Jahr,« sagte Gilbert, und er breitete auf dem Tisch zehn schöne Louis d’or aus, worüber die zwei Weiber ihre Augen weit aufsperrten, während der kleine Engel Pitou rasch seine verwüstende Hand danach ausstreckte.
»Aber, mein Herr, wenn das Kind nicht am Leben bliebe?« fragte schüchtern die Amme.
»Das wäre ein großes Unglück, ein Unglück, das sich nicht ereignen wird,« erwiederte Gilbert. »Hiemit sind also die Ammenmonate abgemacht, seid Ihr zufrieden?«
»Oh! ja, Herr.«
»Gehen wir zur Bezahlung eines Kostgeldes für die anderen Jahre über.«
»Das Kind würde bei uns bleiben?«
»Wahrscheinlich.«
»Dann würden wir ihm Vater und Mutter sein?«
Gilbert erbleichte.
»Ja,« sprach er mit erstickter Stimme.
»Der arme Kleine ist also verlassen, Herr?«
Gilbert war auf diese Gemüthsbewegung, auf diese Fragen nicht gefaßt. Er erholte sich indessen und antwortete:
»Ich habe Euch nicht Alles gesagt; der arme Vater ist vor Schmerz gestorben.«
Die zwei Weiber falteten ausdrucksvoll die Hände.
»Und die Mutter?« fragte Angelique.
»Oh! die Mutter . . . die Mutter,« erwiederte Gilbert, mühsam athmend, »nie durfte ihr Kind, das geboren war oder das geboren werden sollte, auf sie zählen.«
Sie sprachen so, als der Vater Pitou mit ruhigem, freudigem Gesicht vom Felde nach Hause kam. Es war eine von den biederen, von Gesundheit und Freundlichkeit strotzenden Naturen, wie sie Greuze bei seinen guten Bildern gemalt hat.
Mit einigen Worten war er auf dem Laufenden. Er begriff übrigens aus Eitelkeit die Dinge, besonders diejenigen, welche er nicht begriff . . .
Gilbert setzte auseinander, das Kostgeld des Kindes sollte bezahlt werden, bis es ein Mann geworden und fähig wäre, allein mit Hülfe seiner Vernunft und seiner Arme zu leben.
»Gut,« sprach Pitou; »ich glaube, wir werden dieses Kind lieben, denn es ist niedlich.«
»Er auch!« riefen Angelique und Madeleine, »er findet es wie wir.«
»Ich bitte, kommt mit mir zu Meister Niquet; ich werde bei ihm das erforderliche Geld hinterlegen, uni Euch zufrieden zu stellen, und damit das Kind glücklich sein kann.«
»Sogleich, Herr,« erwiederte der Vater Pitou. Und er stand auf.
Da nahm Gilbert von den guten Weibern Abschied und näherte sich der Wiege, in welche man den Ankömmling zum Nachtheil des Kindes vom Hause gelegt hatte.
Er bückte sich mit düsterer Miene über die Wiege und bemerkte, zum ersten Mal seinem Sohn in’s Gesicht schauend, daß dieser Andrée glich.
Dieser Anblick brach sein Herz; er war genöthigt, sich die Nägel in’s Fleisch zu pressen, um eine Thräne zurückzudrängen, welche von diesem Herzen zum Augenlid aufstieg.
Er drückte, selbst zitternd, einen schüchternen Kuß auf die Wange des Neugeborenen, und trat schwankend zurück.
Der Vater Pitou stand schon auf der Schwelle, seinen mit Eisen beschlagenen Stock in der Hand und sein schönes Wamms über den Rücken geworfen.
Gilbert gab dem dicken Engel Pitou, der ihm unter den Beinen umherkroch, einen halben Louis d’or, und die zwei Weiber erbaten sich, mit der rührenden Vertraulichkeit der Landleute die Ehre, ihn umarmen zu dürfen.
So viele Gemüthsbewegungen griffen diesen achtzehnjährigen Vater so sehr an, daß er in Kurzem unterlegen wäre. Bleich, zitternd, fing er an den Kopf zu verlieren.
»Gehen wir,« sagte er zu Pitou.
»Wie Sie wünschen, Herr,« erwiederte der Bauer voranschreitend.
Und sie entfernten sich.
Plötzlich schrie Madeleine von der Schwelle aus: »Herr! Herr!«
»Was gibt es?« fragte Gilbert.
»Sein Name! sein Name! Wie sollen wir den Knaben nennen?«
»Er heißt Gilbert!« antwortete der junge Vater mit männlichem Stolz.