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Kitabı oku: «Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1», sayfa 99

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CLVIII.
Das Kind ohne Vater

Der Tag der Schmerzen, der Tag der Schmach nahte endlich heran. Trotz der immer häufigeren Besuche des Doctor Louis, trotz der liebevollen Sorgfalt und der Tröstungen von Philipp wurde Andrée von Stunde zu Stunde düsterer, wie die Verurtheilten, welche ihre letzte Stunde bedroht.

Der unglückliche Bruder fand zuweilen Andrée träumerisch und schauernd; ihre Augen waren trocken; ganze Tage kam kein Wort über ihre Lippen; dann stand sie oft plötzlich auf, ging zwei oder dreimal mit hastigen Schritten in ihrem Zimmer auf und ab, und versuchte es, wie Dido, sich aus sich selbst, das heißt, aus ihrem Schmerzen herauszuwerfen.

Eines Abends, als er sie bleicher, unruhiger sah, als er bemerkte, daß ihre Nerven mehr als gewöhnlich angegriffen waren, schickte Philipp zum Doctor und ließ ihn bitten, noch in der Nacht zu kommen.

Dies war am 29. November, Philipp hatte die Kunst geübt, das Wachen von Andrée sehr zu verlängern; er hatte sich mit ihr in die traurigsten, in die geheimsten Gegenstände des Gesprächs eingelassen, in diejenigen, welche das Mädchen fürchtete, wie der Verwundete die Annäherung einer rohen und schweren Hand für seine Wunde fürchtet.

Sie saßen beim Feuer, die Magd hatte, als sie nach Versailles ging, um den Doctor zu holen, die Läden zu schließen vergessen, so daß der Widerschein der Lampe sanft den Schneeteppich beleuchtete, den die erste Winterkälte auf dem Sand des Gartens ausgebreitet hatte.

Philipp ließ den Augenblick kommen, wo der Geist von Andrée sich zu beschwichtigen anfing; dann sagte er ohne Eingang:

»Liebe Schwester, hast Du endlich Deinen Entschluß gefaßt?«

»Worüber?« erwiederte Andrée mit einem schmerzlichen Seufzer.

»Ueber  . . . Dein Kind, meine Schwester.«

Andrée bebte.

»Der Augenblick naht heran,« fuhr Philipp fort.

»Mein Gott!«

»Und ich würde mich nicht wundern, wenn morgen  . . .«

»Morgen!«

»Heute sogar, liebe Schwester.«

Andrée wurde so bleich, daß Philipp erschrocken ihre Hand nahm und sie küßte.

Doch sie faßte sich sogleich wieder und sprach:

»Mein Bruder, ich werde gegen Dich nicht mit jener Heuchelei zu Werke gehen, welche gemeine Seelen entehrt. Das Vorurtheil des Guten ist bei mir mit dem Vorurtheil des Bösen vermischt. Was böse ist, kenne ich nicht mehr, seitdem ich dem, was gut ist, mißtraue. Beurtheile mich also nicht strenger, als man eine Tolle beurtheilt, wofern Du nicht lieber im Ernst die Philosophie nehmen willst, die ich Dir skizziren werde, und die der vollkommene, einzige Ausdruck meiner Gefühle, sowie der Inbegriff meiner Empfindungen ist.«

»Was Du auch sagen, was Du auch thun magst, Andrée, Du wirst immer für mich die theuerste, die geehrteste der Frauen sein.«

»Ich danke, mein einziger Freund. Ich darf wohl behaupten, daß ich dessen, was Du mir versprichst, nicht unwürdig bin. Philipp, ich bin Mutter; doch Gott hat gewollt, ich glaube es wenigstens,« fügte sie erröthend bei, »daß die Mutterschaft bei dem Geschöpf ein dem der Befruchtung bei der Pflanze ähnlicher Zustand sein soll. Die Frucht kommt erst nach der Blüthe. Während des Blühens hat sich die Pflanze vorbereitet, umwandelt; denn die Blüthe ist nach meiner Ansicht die Liebe.«

»Du hast Recht, Andrée.«

»Ich!« fuhr das Mädchen lebhaft fort  . . . »ich habe weder Vorbereitung, noch Umwandlung gekannt; ich bin eine Abweichung von der Regel; ich habe nicht geliebt, ich habe nicht gewünscht; bei mir sind Geist und Herz so jungfräulich als der Körper  . . . Und dennoch!  . . . trauriges Wunder  . . . was ich nicht gewünscht was ich nicht einmal geträumt habe, schickt mir Gott, er, der nie Früchte dem Baum gegeben hat, der unfruchbar zu bleiben geschaffen war  . . . Wo sind bei mir die Fähigkeiten, die Instincte, wo sind sogar die Mittel?  . . . Die Mutter, welche Geburtsschmerzen leidet, kennt und würdigt ihr Loos; ich weiß nichts, ich zittere, zu denken, ich gehe diesem letzten Tag entgegen, als ob ich auf’s Schaffot ginge  . . . Philipp, ich bin verdammt! …«

»Andrer, meine Schwester!«

»Philipp,« fuhr sie mit unbeschreiblicher Heftigkeit fort, »fühle ich nicht, daß ich dieses Kind hasse?  . . . Oh! ja, ich hasse es; mein ganzes Leben, wenn ich fortlebe, Philipp, werde ich mich des Tages erinnern, wo unter meinem Herzen zum ersten Mal der Todfeind erwachte, den ich in mir trage; ich schauere noch, wenn ich mich erinnere, daß das, den Müttern so süße, Leben dieses unschuldigen Geschöpfes in meinem Blut ein Fieber des Zorns entzündete und die Gotteslästerung auf meine bis dahin so reinen Lippen steigen machte. Philipp, ich bin eine schlechte Mutter! Philipp, ich bin verflucht!«

»Im Namen des Himmels, gute Andrée, beruhige Dich; verwirre Dein Herz nicht durch Deinen Geist. Dieses Kind ist Dein Leben und das Blut Deines Herzens; dieses Kind, ich liebe es, denn es kommt von Dir.«

»Du liebst es!« rief sie wüthend und leichenbleich  . . . »Du wagst es, mir zu sagen, Du liebest meine Schande und die Deinige; Du wagst es, mir zu erklären, Du liebest diese Erinnerung an ein Verbrechen, diese Darstellung des feigen Verbrechens  . . . Wohl! Philipp, ich habe es Dir gesagt, ich bin nicht feig, ich bin nicht falsch; ich hasse das Kind, weil es nicht mein Kind ist und ich es nicht gerufen habe! Ich verwünsche es, weil es vielleicht seinem Vater gleichen wird  . . . Sein Vater! oh! ich werde eines Tags sterben, während ich diesen gräßlichen Namen ausspreche! Mein Gott!« rief sie, indem sie sich auf die Kniee warf, »ich kann dieses Kind nicht bei seiner Geburt tödten, denn Du hast ihm Leben gegeben  . . . Ich konnte mich nicht selbst tödten, während ich es unter dem Herzen trug, denn Du hast den Selbstmord wie den Mord verpönt; doch ich bitte Dich, ich flehe Dich an, ich beschwöre Dich, wenn Du gerecht bist, mein Gott, wenn Du Dich des Jammers dieser Welt erbarmst, wenn Du nicht beschlossen hast, daß ich vor Verzweiflung sterben soll, nachdem ich von Schmach und Thränen gelebt habe, mein Gott! nimm dieses Kind wieder zu Dir, mein Gott! tödte dieses Kind! mein Gott! befreie mich! räche mich!«

Schrecklich in ihrem Zorn und erhaben in ihrem Aufschwung zu Gott, schlug sie ihre Stirne an das marmorne Gesimse, trotz des Widerstrebens von Philipp, der sie in seine Arme schloß.

Plötzlich öffnete sich die Thüre: die Magd kehrte mit dem Doctor zurück, der mit dem ersten Blick die ganze Scene errieth.

»Madame,« sagte er mit jener Ruhe des Arztes, welche stets den Einen den Zwang, den Anderen die Unterwerfung auferlegt; »Madame, übertreiben Sie sich nicht die Schmerzen der Arbeit, welche bald eintreten muß. Ihr,« sprach er zu der Magd, »haltet Alles bereit, was ich Euch unter Weges genannt habe.«

»Sie,« sagte er zu Philipp, »seien Sie vernünftiger, als Madame, und verbinden Sie, statt ihre Befürchtungen oder Schwächen zu theilen, Ihre Ermahnungen mit den meinigen.«

Andrée erhob sich beinahe beschämt  . . . Philipp setzte sie in einen Lehnstuhl.

Man sah nun die Kranke erröthen und sich mit einem schmerzlichen Zusammenziehen zurückwerfen; ihre Hände klammerten sich krampfhaft an den Fransen des Lehnstuhls an, und die erste Klage ging über ihre bleichen Lippen.

»Dieser Schmerz, dieser Fall, dieser Zorn haben die Krise beschleunigt,« sagte der Doctor. »Begeben Sie sich in Ihr Zimmer, Herr von Taverney, und Muth gefaßt!«

Das Herz angeschwollen, stürzte Philipp auf Andrée zu, welche gehört hatte, zitterte und sich trotz ihres Schmerzes erhob, um ihre Arme um den Hals ihres Bruders zu schlingen.

Sie umschlang ihn kräftig, drückte ihre Lippen auf die kalte Wange des jungen Mannes und sagte ganz leise:

»Lebe wohl!  . . . lebe wohl!  . . . lebe wohl! …

»Doctor! Doctor!« rief Philipp in Verzweiflung, »hören Sie?«

Louis trennte die zwei Unglücklichen mit sanfter Gewalt, setzte Andrée wieder in den Lehnstuhl, führte Philipp in sein Zimmer, schob die Riegel vor, welche das Zimmer von Andrée bewachten, schloß Vorhänge und Thüren und begrub so, sie zusammendrängend, diese ganze Scene, welche vom Arzte zur Frau, von Gott zu Beiden vorgehen sollte.

Um drei Uhr Morgens öffnete der Doctor die Thüre, hinter der Philipp weinte und flehte, und sprach:

»Ihre Schwester hat einen Sohn geboren.«

Philipp faltete die Hände.

»Treten Sie nicht ein,« sagte der Arzt, »sie schläft.«

»Sie schläft . . . oh! Doctor, ist es auch wahr, daß sie schläft?«

»Wenn es anders wäre, mein Herr, würde ich es Ihnen sagen: Ihre Schwester hat einen Sohn geboren; doch dieser Sohn hat seine Mutter nicht verloren  . . . Sehen Sie übrigens selbst.«

Philipp streckte den Kopf vor.

»Hören Sie sie athmen?«

»Oh! ja, ja,« murmelte Philipp, den Arzt umarmend.

»Sie wissen nun, daß wir eine Amme bestellt haben. Ich habe sie, als ich am Point-du-Jour vorbeikam, wo diese Frau wohnt, benachrichtigt, damit sie sich bereit halten sollte  . . . Doch Sie allein können sie hierher bringen  . . . Sie allein darf man sehen.  . . . Benützen Sie den Schlaf der Kranken und gehen Sie mit dem Wagen ab, der mich gebracht hat.«

»Aber Sie, Doctor, Sie?«

»Ich habe auf der Place-Royal einen verzweifelten Kranken und will die Nacht vollends an seinem Bett zubringen, um die Anwendung der Mittel und ihre Wirkung zu überwachen.«

»Die Kälte, Doctor.«

»Ich habe meinen Mantel.«

»Die Stadt ist unsicher.«

»Zwanzigmal hat man mich seit zwanzig Jahren in der Nacht angehalten: ich antwortete stets: ,Mein Freund, ich bin Arzt und begebe mich zu einem Kranken  . . . Wollt Ihr meinen Mantel? nehmt ihn; doch tödtet mich nicht, denn ohne mich wird mein Kranker sterben.’ Und bemerken Sie wohl, dieser Mantel hat zwanzig Dienstjahre. Die Diebe haben mir ihn stets gelassen.«

»Guter Doctor!  . . . Morgen, nicht wahr?«

»Morgen um acht Uhr bin ich hier. Gott befohlen.«

Der Doctor gab der Magd einige Vorschriften und schärfte ihr besonders viel Wachsamkeit bei der Kranken ein. Er wollte das Kind neben seiner Mutter liegen lassen. Philipp, der sich der letzten Kundgebungen seiner Schwester erinnerte, bat ihn, es zu entfernen.

Louis brachte das Kind selbst in das Zimmer der Magd und ging dann durch die Rue Montorgueil weg, während der Fiacre Philipp nach dem Roule brachte.

Die Magd entschlummerte im Lehnstuhl neben ihrer Gebieterin.

CLIX.
Die Entwendung

In den Zwischenräumen des erquickenden Schlafes, der auf große Anstrengungen folgt, scheint der Geist eine doppelte Macht erlangt zu haben: die Fähigkeit, das Wohlbehagen der Lage zu schätzen, und die Fähigkeit, über dem Körper zu wachen, dessen Lähmung dem Tode ähnlich ist.

Zum Gefühl des Lebens zurückgekehrt, öffnete Andrée die Augen und sah an ihrer Seite die schlummernde Magd, Sie hörte das muntere Geknister des Herdes und bewunderte das Stillschweigen des Zimmers, wo Alles wie sie ruhte.

Diese Einsicht war nicht ganz das Wachen und ebenso wenig war es ganz der Schlaf. Andrée fand ein Vergnügen daran, diesen Zustand der Unentschiedenheit, milder Schläfrigkeit zu verlängern; sie ließ die Ideen, eine nach der andern, in ihrem ermüdeten Gehirn wiedererstehen, als hätte sie den raschen Einbruch ihrer vollen Vernunft befürchtet.

Plötzlich gelangte ein entferntes, schwaches, kaum bemerkbares Wimmern durch die dicke Scheidewand an ihr Ohr.

Dieses Wimmern versetzte Andrée wieder in jenes Leben, unter dem sie so sehr gelitten hatte. Es verlieh ihr wieder jene gehässige Bewegung, welche seit einigen Monaten ihre Unschuld und ihre Herzensgüte trübte, wie der Stoß einen Trank in den Gefässen trübt, worin die Hefe schlummert.

Von diesem Augenblick gab es für Andrée keinen Schlaf, keine Ruhe mehr; sie erinnerte sich, sie haßte. Doch die Kraft der Empfindungen entspricht gewöhnlich den körperlichen Kräften. Andrée fand jene Stärke nicht mehr, die sie in der Scene am Abend mit Philipp geoffenbart hatte.

Das Geschrei des Kindes traf Anfangs ihr Gehirn wie ein Schmerz, dann wie eine Beengung. Sie kam dazu, daß sie sich fragte, ob Philipp, indem er das Kind mit seiner gewöhnlichen Zartheit entfernt habe, nicht der Vollstrecker eines etwas grausamen Willens gewesen sei.

Der Gedanke an das Böse, das man einem Geschöpf wünscht, widerstrebt dem Innern nie so sehr, als das Schauspiel des Bösen. Andrée, die dieses unsichtbare Kind, diese Idealität verfluchte, Andrée, welche den Tod des Kleinen wünschte, wurde verletzt, als sie den unglücklichen Knaben schreien hörte.

»Das Kind leidet,« dachte sie; und sogleich antwortete sie sich: »Warum sollte ich mich für seine Leiden interessiren  . . . ich  . . . das unglücklichste der menschlichen Geschöpfe!«

Das Kind stieß abermals einen schärferen, schmerzlicheren Schrei aus. Da bemerkte Andrée, daß diese Stimme in ihr eine unruhige Stimme zu erwecken schien, und sie fühlte ihr Herz wie durch ein unsichtbares Band zu dem verlassenen, seufzenden Wesen hingezogen.

Was Andrée geahnet hatte, verwirklichte sich. Die Natur hatte eine ihrer Vorbereitungen vollbracht; der körperliche Schmerz, dieses mächtige Band, hatte das Herz der Mutter gleichsam an die geringste Bewegung ihres Kindes gelöthet. »Dieses Kind,« dachte Andrée, »diese arme Waise, die in diesem Augenblick schreit, soll nicht um Rache gegen mich zum Himmel schreien. Gott hat in diese kleinen, kaum aus dem Schooße hervorgegangenen Geschöpfe die beredteste der Stimmen gelegt!  . . . Man kann sie tödten, das heißt, man kann sie vom Leiden befreien; aber man hat nicht das Recht, eine Marter über sie zu verhängen  . . . Hätte man das Recht hiezu, so Würde ihnen Gott nicht so zu klagen gestattet haben.«

Andrée erhob den Kopf und wollte ihrer Magd rufen, doch ihre schwache Stimme war nicht im Stande, die robuste Bäuerin zu wecken: schon wimmerte das Kind nicht mehr.

»Ohne Zweifel,« dachte Andrée, »ohne Zweifel ist die Amme gekommen, denn ich höre das Geräusch der ersten Thüre  . . . Ja, man geht im nächsten Zimmer  . . . und das kleine Geschöpf klagt nicht mehr; ein seltsamer Schutz breitet sich schon über ihm aus und beschwichtigt seinen ungestalten Verstand. Oh! diejenige ist also die Mutter, welche für das Kind Sorge trägt  . . . Für einige Thaler wird das Kind, das aus meinem Schooße hervorgegangen ist, eine Mutter finden; und später, wenn es an mir vorübergeht, die ich so viel gelitten, an mir, deren Leben ihm das Leben bereitet hat, wird dieses Kind mich nicht anschauen, und: Meine Mutter! zu einer Lohndienerin sagen, welche edelmüthiger in ihrer eigennützigen Liebe ist, als ich in meinem gerechten Groll.

»Das soll nicht so sein  . . . ich habe gelitten, ich habe das Recht erkauft, diesem Geschöpf in’s Gesicht zu sehen; ich habe das Recht, es zu nöthigen, mich wegen meiner Sorge zu lieben und mich wegen meiner Schmerzen und meines Opfers zu achten.«

Sie machte eine entschiedenere Bewegung, raffte ihre Kräfte zusammen und rief:

»Marguerite! Marguerite!«

Die Magd erwachte schwerfällig und ohne sich von dem Stuhle zu rühren, an den sie eine beinahe lethargische Schlafsucht gefesselt hielt.

»Hört Ihr mich?« sagte Andrée.

»Ja, Madame, ja,« sprach Marguerite, welche nun zu begreifen anfing.

Und sie näherte sich dem Bette.

»Will Madame trinken?«

»Nein.«

»Madame will vielleicht wissen, wie viel Uhr es ist?«

Nein, nein,« erwiederte Andrée, ohne daß ihre Augen die Thüre des anstoßenden Zimmers verließen.

»Ah! ich begreife  . . . Madame will wissen, ob ihr Bruder zurückgekommen ist?«

Man sah Andrée gegen ihren Wunsch mit der ganzen Schwäche einer hoffärtigen Seele, mit der ganzen Energie eines warmen und edlen Herzens kämpfen.

»Ich will,« stammelte sie endlich, »ich will  . . . Oeffnet diese Thüre, Marguerite.«

»Ja, Madame  . . . Ah! wie es da kalt hereinkommt!  . . . Der Wind, Madame!  . . . Welch ein Wind!  . . .«

Der Wind fing sich in der That im Zimmer von Andrée und machte die Flammen der Kerze und der Nachtlampe flackern.

»Die Amme wird eine Thüre oder ein Fenster offen gelassen haben. Seht nach, Marguerite, seht nach  . . . Das Kind muß kalt haben.«

Marguerite wandte sich nach dem anstoßenden Zimmer.

»Ich will es zudecken, Madame,« sagte sie.

»Nein, nein!« murmelte Andrée mit kurzer, stockender Stimme, »bringt es mir.«

Marguerite blieb mitten im Zimmer stehen und entgegnete:

»Madame, Herr Philipp hat befohlen, das Kind dort zu lassen, ohne Zweifel aus Furcht, Madame zu belästigen oder eine Erschütterung bei ihr zu verursachen.«

»Bringt mir mein Kind!« rief die junge Mutter mit einem Erguß, der ihr Herz brechen mußte; denn aus ihren Augen, welche unter den Leiden trocken geblieben waren, stürzten zwei Thränen, über die im Himmel die guten Schutzengel der kleinen Kinder lächeln mußten.

Marguerite eilte ins andere Zimmer. Andrée setzte sich auf und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.

Die Magd kehrte sogleich mit erstauntem Gesicht zurück.

»Nun?« fragte Andrée.

»Madame, es ist also Jemand hier gewesen?«

»Wie, Jemand? . . . Wer? . . .«

»Madame, das Kind ist nicht mehr da.«

»Ich habe allerdings vorhin Geräusch, Tritte gehört,« sagte Andrée  . . . «Die Amme wird gekommen sein, während wir schliefen; sie wollte Euch nicht aufwecken  . . . Aber mein Bruder, wo ist er? Seht in seinem Zimmer nach.«

Marguerite lief in das Zimmer von Philipp. Niemand ! . . .

»Das ist seltsam,« sagte Andrée mit einem Herzklopfen, »sollte mein Bruder schon wieder ausgegangen sein, ohne mich zu sehen?«

»Ah! Madame.« rief plötzlich die Magd.

»Was gibt es?«

»Man hat die Hausthüre geöffnet!«

»Seht nach! seht nach!«

»Herr Philipp kommt zurück. Treten Sie ein, treten Sie ein!«

Philipp kam in der That. Hinter ihm trat eine in einen groben Mantel von gestreiftem Wollenzeug gehüllte Bäuerin mit jenem wohlwollenden Lächeln ein, mit dem der Lohndiener jede neue Herrschaft begrüßt.

»Meine Schwester! meine Schwester! hier bin ich,« sagte Philipp, rasch im Zimmer erscheinend.

»Guter Bruder! . . . wie viel Mühe, wie viel Sorgen verursache ich Dir! Ah! da ist die Amme! Ich befürchtete sehr, sie wäre weggegangen.«

»Weggegangen?  . . . sie kommt erst.«

»Sie kommt zurück, willst Du sagen. Nein  . . . ich habe sie wohl vorhin gehört, so leise und sachte sie auch gegangen ist.«

»Ich weiß nicht, was Du meinst, meine Schwester; Niemand  . . .«

»Oh! ich danke Dir, Philipp,« sprach Andrée, indem sie ihn an sich zog und auf jedes Wort einen besonderen Nachdruck legte; »ich danke Dir, daß Du mich so gut errathen hast und dieses Kind, nicht ohne daß ich es gesehen, geküßt, fortnehmen wolltest!  . . . Philipp, Du kennst mein Herz  . . . Ja, ja, sei unbesorgt, ich werde mein Kind lieben.«

Philipp nahm die Hand von Andrée und bedeckte sie mit Küssen.

»Sage der Amme, sie soll es mir zurückgeben,« fügte die junge Mutter bei.

»Aber, mein Herr,« sprach die Magd, »Sie wissen wohl, daß das Kind nicht mehr da ist.«

»Wie! was sagt Ihr?« rief Philipp.

Andrée schaute ihren Bruder mit erschrockenen Augen an.

Der junge Mann lief nach dem Bett der Magd; er suchte, fand nichts und stieß einen furchtbaren Schrei aus.

Andrée folgte seinen Bewegungen im Spiegel; sie sah ihn bleich, die Arme schlaff, zurückkehren, sie begriff einen Theil der Wahrheit, antwortete wie ein Echo mit einem Seufzer auf den Schrei ihres Bruders und sank bewußtlos auf ihr Kopfkissen zurück.

Philipp war weder auf dieses neue Unglück, noch auf diesen ungeheuren Schmerz gefaßt, doch er raffte seine ganze Energie zusammen und rief Andrée durch Liebkosungen, durch Tröstungen und Thränen in’s Leben zurück.

»Mein Kind!« flüsterte Andrée, »mein Kind!«

»Retten wir die Mutter,« sagte Philipp zu sich selbst. »Meine Schwester, meine gute Schwester, wir sind alle verrückt, wie es scheint; wir vergessen, daß der gute Doctor das Kind mitgenommen hat?«

»Der Doctor!« rief Andrée mit dem Schmerz des Zweifels, mit der Freude der Hoffnung.

»Ja wohl, ja wohl  . . . Ah! man verliert ganz den Kopf hier.«

»Philipp! Du schwörst mir?  . . .«

»Liebe Schwester, Du bist nicht vernünftiger, als ich?  . . . Wie soll denn dieses Kind verschwunden sein?«

Und er heuchelte ein Gelächter, das Amme und Magd ansteckte.

Andrée belebte sich wieder.

»Doch ich hörte  . . .« sagte sie.

Was?«

»Tritte.«

Philipp schauerte.

»Unmöglich, Du schliefst.«

»Nein! nein! ich war sehr wach; ich habe gehört!  . . . ich habe gehört!  . . .«

»Nun? Du hast den guten Doctor gehört, der hinter mir, weil er für die Gesundheit des Kindes befürchtete, zurückgekommen und das Kind mit fortgenommen haben wird  . . . er sprach auch mit mir davon.«

»Du beruhigst mich.«

»Warum sollte ich Dich nicht beruhigen, das ist so einfach.«

»Aber was thue ich hier?« fragte die Amme.

»Es ist richtig  . . . Der Doctor erwartet Euch in Eurem Hause.«

»Oh!«

»Bei sich also.«

»Diese Marguerite schlief so fest, daß sie nichts von dem, was der Doctor gesagt hat, gehört haben wird, oder hat der Doctor nichts sagen wollen.«

Andrée wurde ruhiger nach dieser furchtbaren Erschütterung.

Philipp entließ die Amme und schickte die Magd mit einem Befehle weg.

Dann nahm er eine Lampe, untersuchte sorgfältig die anstoßende Thüre, fand eine Thüre, die nach dem Garten ging, offen, sah Fußstapfen im Schnee und folgte diesen Fußstapfen bis zur Gartenthüre, wo sie ausmündeten.

»Männertritte!« rief er, »das Kind ist entwendet worden! wehe! wehe!«

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06 aralık 2019
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