Kitabı oku: «Katharine Blum», sayfa 4
Fünftes Kapitel
Katharine Blum
Schon die Berührung dieses Papieres, schon das Lesen dieser Adresse trieb einen Schauer durch alle Glieder Bernhards, als errate er, daß dieser Brief für ihn eine ganz neue Lebensperiode, eine ganze Reihe unbekannter Unglücksfälle enthalte.
Das Mädchen, an welches der Brief gerichtet und von dem wir schon einige Worte gesprochen, war die Schwestertochter Vater Watrins und folglich Geschwisterkind mit Bernhard.
Wie aber kam das Mädchen zu dem deutschen Namen? Warum war sie nicht bei ihren Eltern erzogen worden? Warum befand sie sich in Paris? Das wollen wir jetzt erzählen.
Im Jahre 1808 zog eine Kolonne deutscher Gefangener von den Schlachtfeldern von Friedland und Eylau durch Frankreich, und wurde, wie die französischen Soldaten, in den Privathäusern einquartirt.
Ein junger Soldat, der in der ersten jener Schlachten schwer verwundet worden war, wurde durch sein Quartierbillet zu Wilhelm Watrin gewiesen, der seit vier oder fünf Jahren verheiratet war und in dessen Hause sich Rosa Watrin, seine Schwester, ein Mädchen von siebzehn oder achtzehn Jahren, befand.
Die Wunde des Fremden hatte sich auf dem Marsche in Folge der Anstrengung und des Mangels an Pflege so verschlimmert, daß er, auf ein ärztliches Zeugnis, in der Geburtsstadt dessen zurückgelassen werden mußte, welcher diese Geschichte erzählt.
Man wollte ihn in das Hospital bringen, aber er äußerte so großen Widerwillen gegen diese Fortschaffung, daß Vater Watrin, der damals ein Mann von achtundzwanzig bis dreißig Jahren war und Watrin geradeweg hieß, selbst zuerst den Vorschlag machte, bei ihm zu bleiben in der Fasanerie.
So hieß 1808 die Wohnung Watrins, kaum ein Viertelstündchen vor der Stadt unter den schönsten und größten Bäumen jenes Teiles des Waldes, welcher der Park heißt.
Die starke Abneigung Friedrich Blums – so hieß der junge Soldat – gegen das Hospital wurde nicht bloß durch die Freundlichkeit seiner Wirte, die Reinlichkeit in dem Hause, die vortreffliche Luft bei demselben und der hübschen Aussicht auf den Garten und die grünen Bäume des Waldes, sondern auch und vorzugsweise durch den Anblick der lebendigen reizenden Blume dieses Gartens, Rosa Watrin, veranlaßt.
Auch diese hatte, als der so schöne, so blasse und so leidende Fremde in das Hospital gebracht werden sollte, eine so tiefe schmerzliche Empfindung in ihrem Herzen gefühlt, daß sie zu ihrem Bruder gegangen war, mit gefalteten Händen und Thränen in dem Auge, ohne daß sie ein Wort auszusprechen wagte; aber ihr Schweigen war um vieles beredter gewesen, als es die dringendsten Worte hätten sein können.
Watrin hatte alsbald erraten, was in dem Herzen seiner Schwester vorging und, weniger wegen des Wunsches des Mädchens, als aus dem tiefen Mitleide, das man stets bei einsam und abgeschlossen lebenden Menschen findet, seine Einwilligung für das Verbleiben des jungen Deutschen in der Fasanerie gegeben.
Von diesem Augenblicke an hatte, nach einem still« schweigenden Übereinkommen, Frau Watrin die Arbeiten ihrer Wirtschaft und die Aufsicht über ihren damals drei« jährigen Sohn Bernhard ganz und gar wieder übernommen, während Rosa, die schöne Waldblume, sich ausschließlich der Pflege des Verwundeten widmete.
Die Wunde war dadurch entstanden, daß eine Kugel am Hals des Schenkelknochens getroffen hatte, durch die breite Sehne hindurch und in die Fleischteile hineingegangen war, in denen sie saß und einen heftigen Reiz hervorbrachte. Anfangs hatten die Ärzte geglaubt, der Schenkelknochen sei gebrochen und deshalb ihn aus dem Gelenk nehmen wollen; aber der Verwundete hatte sich vor dieser Operation gefürchtet, nicht sowohl wegen des Schmerzes, von dem sie begleitet sein müßte, als wegen des Gedankens an lebenslängliche Verkrüppelung. Er hatte deshalb erklärt, er ziehe den Tod vor, und da er es mit französischen Chirurgen zu tun hatte, denen es ziemlich gleichgültig war, ob er sterbe oder nicht, hatten sie ihn im Feldlazarett gelassen, so daß die Kugel allmählich im Fleisch einwuchs.
Unterdes war der. Befehl eingegangen, die Gefangenen nach Frankreich zu bringen. Alle, Verwundete und Nicht verwundete, waren auf Wagen an den Ort ihrer Bestimmung abgegangen – Friedrich Blum mit den Andern. In solcher Weise hatte er eine Strecke von zweihundert Stunden zurückgelegt; als er aber in Villers-Cotterets ankam, waren, wie erwähnt, seine Schmerzen so bedeutend geworden, daß er die Reise nicht weiter hatte fortsetzen können.
Zum Glück war das, was als Verschlimmerung aussah, ein Anfang der Genesung. Die Kugel hatte, vielleicht in Folge ihrer eigenen Schwere, in Verbindung mit der fortdauernden Reisebewegung, die Hülle zerrissen, die sich um sie gebildet hatte, und war tiefer gesunken.
Natürlich geht ein solches Wunder, das die Natur für sich selbst zur Heilung unternimmt, nicht in einem Augenblicke und nicht ohne heftige Schmerzen von statten. Der Verwundete lag drei Monate auf seinem Schmerzenslager; dann trat allmählich Besserung ein; er konnte aufstehen, bis an das Fenster, dann bis an die Türe gehen, dann hinaus und am Arme Rosa's unter den großen Bäumen umher, die ganz nahe an der Fasanerie standen. Eines Tages endlich fühlte er deutlich zwischen den Muskeln einen Körper sich bewegen; er ließ den Chirurgen rufen; dieser machte einen ganz kleinen Einschnitt und die Kugel, die ihm beinahe den Tod gegeben hätte, fiel ihm in die Hand.
Friedrich Blum war geheilt; aber nach dieser Heilung zeigte es sich, daß sich in dem Hause Watrin zwei Verwundete, statt des Einen, befanden.
Zum Glück kam der Friede von Tilsit. Im Jahre 1807 war ein neues Reich gegründet worden, welches Westfalen hieß. Nachdem es im Zustande der Mythe geblieben, so lange die große Frage, um die mit den Waffen gehandelt wurde, durch die Siege von Friedland und Eylau nicht gelöst wurden, wurde es in dem Frieden von Tilsit durch den Kaiser Alexander anerkannt und gehörte nun zu den europäischen Reichen, unter denen es freilich nur sechs Jahre figurieren sollte.
Eines Morgens erwachte auch Friedrich Blum als Westfale und folglich als Bundesgenosse, nicht mehr Feind, Frankreichs.
Da war denn ernstlich die Rede von der Ausführung des Gedankens, welcher die beiden jungen Leute seit fast sechs Monaten beschäftigte, nämlich von der Heirat.
Die Hauptschwierigkeit war beseitigt. Wilhelm Watrin war ein viel zu guter Franzose, als daß er seine Schwester einem Manne gegeben hätte, der in die Notwendigkeit kommen konnte, gegen Frankreich zu dienen und wohl gar ein Mal auf Bernhard zu schießen, den Watrin im Geiste schon in der Uniform und gegen die Feinde seines Vaterlandes marschieren sah; jetzt war Friedrich Blum Westfale – folglich fast Franzose – und die Heirath der bei den jungen Leute konnte ohne Weiteres erfolgen.
Friedrich Blum gab sein Wort als ehrlicher Deutscher, vor drei Monaten wiederzukommen und reiste ab.
Viele Thänen flossen bei dem Abschiede, aber die Ehrlichkeit stand dem Fremden so unverkennbar und deutlich im Gesicht, daß Niemand an seinem Wiederkommen zweifelte.
Er hatte sich einen Plan ausgedacht, aber Niemanden etwas davon gesagt; er wollte nämlich geradenwegs zu dem neuen Könige nach Kassel gehen, ihm ein Bittschreiben übergeben, in demselben seine Geschichte erzählen und um eine Jäger- oder Försterstelle bitten.
Der Plan war einfach und zeugte von gutem Glauben; vielleicht gerade deshalb gelang er.
Der König stand eines Tages auf dein Balkon seines Schlosses und sah einen Soldaten, der ein Papier in der Hand hielt und eine Gnade zu erbitten schien; er war guter Laune, wie es die Könige sind, die eben auf den Thron stiegen, und statt dem Soldaten das Schreiben abnehmen zu lassen, ließ er den Mann selbst kommen der dann in ziemlich gutem Französisch berichtete, was das Schreiben enthielt. Der König schrieb »Genehmigt« unter das Gesuch und Friedrich Blum war Förster. Auch erhielt er die Erlaubnis, seine Braut zu holen und fünfhundert Gulden Gratifikation als Reisegeld und Einrichtungskosten.
Blum hatte nach drei Monaten zurückzukehren versprochen und kam schon nach sechs Wochen wieder, ein Beweis seiner Liebe, die so laut sprach, daß Wilhelm Watrin keine Einwendung zu machen wußte.
Wohl aber machte seine Frau eine Einwendung, und zwar eine recht ernste.
Sie war eine gute Katholikin, die alle Sonntage die Messe in der Kirche zu Villers-Cotterets hörte und an den vier großen Festen des Jahres zum Abendmahl ging. Friedrich Blum aber war Protestant und, der Frau Watrins nach, seine Seele sowohl verloren, als die ihrer Schwägerin schwer gefährdet.
Man ließ den Abbé Gregoire rufen.
Der Abbé war ein vortrefflicher Mann, körperlich kurzsichtig wie ein Maulwurf, aber mit dem Geistesauge sah er um so schärfer. Unmöglich konnte Jemand die irdischen, wie die himmlischen Angelegenheiten richtiger beurteilen, als der würdige Abbé, und kein Priester, dafür verbürge ich mich, ist seinem Gelübde treuer geblieben, als er.
Abbé Gregoire antwortete, die Religion, die vor allen Dingen zu befolgen, sei die der Herzen, und da die Herzen der beiden jungen Leute sich gegenseitig Liebe geschworen, so möge Friedrich Blum bei seinem Glauben, Rosa Watrin bei dem ihrigen bleiben, die Kinder aber sollten sie in dem Glauben ihrer Heimat erziehen lassen und am Tage des letzten Gerichts würde Gott, der vor allem ein Gott der Liebe und Barmherzigkeit, nicht sowohl die Protestanten von den Katholiken, als die Guten von den Schlechten scheiden.
Da dieser Vorschlag des Abbé Gregoire von den beiden Verlobten und von Wilhelm Watrin unterstützt wurde, also drei Stimmen für sich erhalten hatte, während nur eine einzige dagegen war, die der Frau Watrin, so kam man überein, daß die Verheiratung erfolgen solle, sobald die bürgerlichen und kirchlichen Formalitäten erfüllt wären.
Diese Formalitäten nahmen drei Wochen in Anspruch, worauf Rosa Watrin und Friedrich Blum in der Maine zu Villers-Cotterets – wo man es in dem Register unter dem 12. September 1809 noch sehen kann – und !n der Stadtkirche getraut wurden.
Einen Monat später wurden sie auch nach dem protestantischen Ritus in Deutschland getraut.
Nach zehn Monaten kam ein Kind, ein Mädchen, zur Welt, welches in der Taufe den Namen Katharine erhielt, und nach dem in der Gegend herrschenden Glauben, in dem protestantischen, erzogen wurde.
Es vergingen drei und ein halbes Jahr ungetrübten Glückes für das junge Paar; dann kam der Feldzug von 1812, aus welchem der nicht minder unglückliche von 1813 hervorging.
Die große Armee verschwand im Schnee Rußlands und unter dem Eis der Beresina, Eine neue mußte geschaffen werden und alle, die bereits gedient hatten und noch nicht über dreißig Jahre zählten, wurden wiederum einberufen.
Friedrich Blum war nach diesem Decret zweifach Soldat; ein Mal, weil er schon gedient hatte, und zweitens, weil er erst vier Monate über neunundzwanzig Jahre zählte.
Vielleicht hätte er, um sich frei zu machen, bei dem Könige von Westfalen angeben können, daß er in Folge seiner alten Wunde noch heftige Schmerzen erleide, aber das fiel ihm gar nicht ein. Er ging nach Kassel, um wiederum, wie früher, in der Reiterei dienen zu dürfen, empfahl dem Könige seine Frau und sein Kind, und brach als Wachtmeister auf.
Er war bei Lützen und bei Bautzen; er war auch bei Leipzig und da unter den Toten.
Eine Kugel war ihm dies Mal durch die Brust gegangen und hatte ihn unter den sechzigtausend Verstümmelten niedergestreckt – zum Nimmerwiederaufstehen. Bei Leipzig waren hundersiebzehntausend Kanonenschüsse gefallen, hundert-elftausend mehr als bei Malplaquét – ein Beweis von dem Fortschreiten.
Der König von Westfalen vergaß sein gegebenes Versprechen nicht; die Witwe Friedrich Blums erhielt eine Pension von dreihundert Gulden, aber schon im Anfange des Jahres 1814 gab es kein Königreich Westfalen mehr, und der König Jerome hatte aufgehört unter die gekrönten Häupter gezahlt zu werden.
Friedrich Blum war auf französischer Seite gefallen und das reichte damals hin, daß man seine Witwe scheel ansah in Deutschland, welches sich ganz gegen Frankreich erhoben halte, Sie machte sich darum mit den Trümmern des französischen Heeres auf, ging mit denselben über die Grenze und klopfte eines Tages an die Türe ihres Bruders Wilhelm.
Mutter und Kind wurden von dem braven Manne als Gottgesandte aufgenommen.
Das kleine Mädchen – damals drei Jahre alt – wurde die Schwester des neunjährigen Bernhard, und die Mutter nahm auf dem Schmerzenslager Blum, in dem Stübchen, von wo aus man die großen Bäume des Waldes und den Garten des Häuschens sah, den Platz Blums ein.
Ach, die arme Frau war kränker, als es ihr Mann gewesen. Die Anstrengung und der Kummer hatten eine Brustkrankheit ausgebildet, die in Auszehrung überging und, trotz der besten Pflege, den Tod herbeiführte.
So kam es, daß gegen Ende 1814, das heißt im vierten Jahre, die kleine Katharine Blum Waise war, Waise dem Namen nach, wohlverstanden, denn in Watrin und dessen Frau hatte sie einen Vater und eine Mutter gefunden, wenn ein verlorener Vater und eine verlorene Mutter je wieder gefunden würden. Gewiß aber fand sie in Bernhard einen so liebevollen Bruder, als hätten sie gleiche Eltern gehabt.
Die beiden Kinder wuchsen heran, ohne sich im mindesten um die politischen Wechselfälle zu kümmern, welche Frankreich beunruhigten und ein Paarmal die materielle Existenz ihrer Eltern in Frage stellten.
Napoleon dankte ab in Fontainebleau, kam nach einem Jahre nach Paris zurück, fiel zum zweiten Male zu Waterloo, schiffte sich in Rochefort ein, wurde auf den Felsen Helena gefesselt und starb da, ohne daß alle diese großen Katastrophen in ihren Augen die Bedeutung hatten, welche ihnen einst die Geschichte geben sollte.
Das Wichtigste für die Familie im Walde, wo der Tod der Mächtigen dieser Erde ein so schwaches Echo fand, war, daß der Herzog von Orleans, dem der Wald von Villers-Cotterets wiederum zufiel, Wilhelm Watrin in seiner Stelle beließ.
Diese Stelle wurde sogar verbessert. Nach dem tragischen Tode Chorons wurde Watrin versetzt; er mußte die Fasanerie verlassen und das neue Haus an der Straße nach Soissons beziehen.
Hundert Franes mehr waren eine ansehnliche Verbesserung in dem Gehalte des Alten.
Bernhard seinerseits war herangewachsen, seinem Vater mit dem achtzehnten Jahre als Gehilfe beigegeben worden und hatte am Tage seiner Mündigkeit eine Stelle mit fünfhundert Francs erhalten. So bezog man in dem Hause vierzehnhundert Francs nebst freier Wohnung und Schießgelde, so daß ein gewisser Wohlstand in der Familie herrschte.
Dieser Wohlstand kam Allen zu Gute; Katharine Blum war in eine Pension in Villers-Cotterets gegeben worden und hatte da eine Erziehung erhalten, die sie zu einer Städterin machte. Gleichzeitig mit ihrer Bildung erblühte ihre Schönheit, und im sechzehnten Jahre war Katharine eines der reizendsten Mädchen in Cotterets und der Umgegend.
Da wandelte sich die Bruderliebe, welche Bernhard stets für Katharine gehegt hatte, allmählich und unmerklich in die Liebe eines Liebhabers um.
Freilich erkannten Beide dies nicht so recht genau; sie wußten nur, daß eins das andere mehr und mehr liebe, je älter sie wurden, aber keins von Beiden gab sich genaue Rechenschaft von dem Zustande seines Herzens, bis ein Umstand eintrat, der ihnen bewies, daß ihr Leben eine einzige Quelle habe, wie zwei Blumen auf einem Stengel.
Als Katharine die Pension verließ, kam sie zu Mlle. Rigolot, um bei dieser ersten Putzmacherin in Villers-Cotterets zu lernen. Bei ihr blieb sie zwei Jahre, und sie gab in dieser Zeit so viele Beweise von Geschicklichkeit und Geschmack, daß Mlle. Rigolot erklärte, wenn Katharine ein oder anderthalbes Jahr nach Paris gehe und sich in ihrer Kunst vervollkommne, werde sie sich nicht bedenken, ihr – selbst ohne bare Anzahlung, sondern gegen jährliche Zahlung von zweitausend Francs sechs Jahre lang – ihr Geschäft und ihre Kundschaft abzutreten und zwar ihr lieber, als jeder andern.
Diese Mitteilung war zu wichtig, als daß sie von Wilhelm Watrin und dessen Frau nicht hätte in reifliche Überlegung genommen werden sollen.
Es wurde dann beschlossen, daß Katharine, mit einem Schreiben der Mlle. Rigolot an ihre Geschäftsfreundin in Paris, Villers-Cotterets verlasse und ein oder anderthalb Jahr in der Hauptstadt bleibe.
Die Straße Bourg-l'Abbé war nun vielleicht diejenige nicht, in welcher die Moden in den neuesten und elegantesten Formen entstanden, aber in ihr wohnte die Geschäftsfreundin der Mlle Rigolot.
Da, als Bernhard und Katharine sich trennen sollten, erkannten sie genau, wie es mit ihrer Liebe stand und bemerkten, daß dieselbe keineswegs die Elastizität der Geschwisterliebe mehr besitze.
Es wurden Versprechungen, ewig an einander zu denken, wenigstens drei Mal wöchentlich zu schreiben, und unerschütterliche Treue zu bewahren, zwischen den jungen Leuten gewechselt, die, stumm wie ächte Liebende, in ihren Herzen das Geheimnis ihrer Liebe verschlossen.
In der anderthalbjährigen Abwesenheit Katharinens hatte Bernhard zwei Mal auf vier Tage Urlaub erhalten und ihn beide Male zu einer Reise nach Paris benutzt, welche das Band nur noch enger zog, das Beide vereinigte.
Endlich war die Zeit der Rückkehr gekommen, und zur Feier derselben hatte der Inspektor ein Wildschwein zu schießen erlaubt. Zu diesem Zwecke war Franz um drei Uhr früh aufgestanden, hatte das Wildschwein aufgesucht und Bericht an Vater Watrin erstattet, der dann selbst ging, um sich zu überzeugen; zu diesem Zweck versammelten sich die Freunde und Bekannten bei dem Hirschsprunge; zu diesem Zwecke war Bernhard, vollständig geputzt, aus seiner Kammer heruntergekommen – um von Mathias den Brief zu erhalten, welcher mit einem Male sein freudiges Lächeln in Stirnrunzeln, seine Hoffnung in Unruhe und Besorgniß umwandelte.
Sechstes Kapitel
Der Pariser
In der Adresse dieses Briefes hatte Bernhard sogleich die Hand eines jungen Mannes, Louis Chollet, erkannt, des Sohnes eines Holzhändlers in Paris, der sich seit zwei Jahren bei Raisin, dem ersten Holzhändler in Villers-Cotterets und Maire der Stadt befand. Er erlernte da das Praktische seines Geschäftes, das heißt, er führte die Aufsicht über die Holzverkäufe, wie in Deutschland, namentlich am Rhein, die Söhne der größten Hotelbesitzer bei dm Kollegen ihrer Väter die Stelle des ersten Kellners vertreten. Der alte Chollet war sehr reich und gab seinem Sohne monatlich fünfhundert Franes Taschengeld. Für eine solche Summe kann man sich in Villers-Cotterets ein Reitpferd und einen eleganten Einspänner halten; überdies ist man, wenn man namentlich seine Kleidungsstücke aus Paris bezieht, und die Schneiderrechnung durch seinen Vater bezahlen lassen kann, König der Mode.
Das war denn mich bei Louis Chollet der Fall.
Als reicher hübscher junger Mann, an das Leben in Paris gewöhnt, wo er im Umgange mit leichtfertigen Frauen, von dem weiblichen Geschlechte jene Vorstellung sich gebildet hatte, welche alle jungen Männer hegen, die nur Grisetten und Mädchen von leichter Tugend kennen gelernt haben, hatte Louis Chollet geglaubt, keine könne ihm widerstehen, und er werde, wenn sich in Villers-Cotterets die fünfzig Töchter des Königs Danaus befänden, in einer mehr oder minder langen Zeit die dreizehnte Arbeit des Herkules mit ihnen verrichten.
Gleich am ersten Sonntag nach seiner Ankunft erschien er in dem Tanzsaal mit dem Glauben, er brauche wegen seines Frackes nach dem neuesten Schnitt, wegen seiner zartfarbigen Beinkleider, seines gestickten Hemds und seiner Uhrkette mit zahlreichem Gehänge, wie ein zweiter Soliman, nur sein Taschentuch fallen zu lassen. Nach erfolgter Musterung der anwesenden Mädchen bestimmte er sein Taschentuch der Katharine Blum.
Leider widerfuhr ihm, was vor drei Jahrhunderten dem großen Sultan widerfahren war, mit dem wir ihn zu vergleichen wagten; das Taschentuch wurde von der modernen Roxelane so wenig aufgehoben, wie von der Roxelane des Mittelalters, und der Pariser – so hatte man den jungen Herrn aus Paris sogleich benannt – hatte sich umsonst bemüht.
Und nicht blos dies; da sich der Pariser auffallend mit Katharinen beschäftigt hatte, war diese am nächsten Sonntage nicht zum Tanze erschienen. Aus einem ganz einfachen Grunde: sie hatte in den Augen Bernhards die Unruhe und Besorgnis gelesen, welche der Eifer des jungen Holzhändlers in ihm geweckt, und deshalb ihrem Vetter vorgeschlagen – was dieser mit großer Freude angenommen – den nächsten Sonntag im »neuen Hause« zuzubringen, statt daß der Vetter den Sonntag in Villers-Cotterets zubrachte, seit Katharine sich in der Stadt befand.
Der Pariser aber hatte sich nicht für besiegt gehalten; er bestellte Hemden, Taschentücher, Halskragen bei Mamsell Rigolot, und verschaffte sich so vielfache Gelegenheit Katharinen zu sehen, welche als erste Arbeiterin in dem Geschäft ihn mit großer Artigkeit behandeln mußte, wenn sie ihm auch als Mädchen sehr kalt begegnete.
Diese Besuche des Parisers bei Mamsell Rigolot, über deren Absicht er sich nicht täuschen konnte, beunruhigten Bernhard sehr, aber wie konnte er sie verhindern? Der künftige Holzhändler hatte doch sicherlich ganz allein und ausschließlich die Zahl der Hemden, Taschentücher und Kragen zu bestimmen, welche er zu brauchen glaubte, und wenn er sich achtzig Dutzend Hemden, achtundvierzig Dutzend Taschentücher und sechshundert »Vatermörder« machen ließ, ging das Bernhard Watrin durchaus Nichts an.
Es stand ihm überdies unbestritten frei, die Hemden, die Taschentücher, die Kragen einzeln, ein Stück nach dem andern, zu bestellen, und so nach jährlich dreihundert-fünfundsechzig Mal zu Mamsell Rigolot zu gehen.
Von diesen Tagen müssen wir freilich die Sonntage abziehen; nicht etwa, weil Mamsell Rigolot am Sonntage ihr Geschäft geschlossen hätte, sondern weil Bernhard alle Sonnabende Abends acht Uhr seine Cousin abholte und sie erst den Montag früh um acht Uhr zurückbrachte. Sobald der Pariser diese Gewohnheit erfuhr, fiel es ihm nicht ein, am Sonntage bei der Rigolot etwas zu bestellen, ja nicht einmal sich zu erkundigen, ob die Gegenstände, die er die Woche über bestellt, fertig wären.
Mittlerweile hatte also die Rigolot den Vorschlag gemacht. Katharinen nach Paris zu schicken. Wie wir gesagt, war dieser Vorschlag von Wilhelm und der Mutter Watrin beifällig aufgenommen worden, obgleich Bernhard einen andern Widerstand geleistet haben würde, wenn er nicht daran gedacht hätte, daß in dieser Weise die Entfernung zwischen dem verabscheuten Louis Chollet und seiner geliebten Katharine um ein Ansehnliches vergrößert werde.
Bei Bernhard war also der Schmerz der Trennung durch diesen Gedanken etwas gemildert worden.
Obgleich es damals noch keine Eisenbahnen gab, war doch jene Entfernung kein Hindernis für einen Verliebten, vorzüglich da dieser Verliebte, der nur aus Liebhaberei den Aufseher bei Holzverkäufen machte, keinen Herrn um Urlaub zu bitten brauchte, und monatlich fünfhundert Francs Taschengeld hatte.
Es ergab sich also, daß statt der zwei Reisen, die Bernhard in einer Zeit von achtzehn Monaten nach Paris gemacht hatte. Chollet, der in seinen Handlungen ganz ungebunden war, und jeden 30. eines Monats dieselbe Summe empfing, die Bernhard nur den 365. Tag eines Jahres erhielt, oder vielmehr erhalten hatte, zwölf Mal in Paris gewesen war.
Bemerkenswert war dabei noch, daß Chollet seit der Abreise Katharinens nach Paris aufgehört hatte, Hemden bei der Rigolot am Brunnenplatz in Villers-Cotterets machen zu lassen, und sich dergleichen bei Madame Cretté und Compagnie, Straße Bourg-l'Abbé Nr. 15 in Paris bestellte.
Es versteht sich, daß Bernhard unverzüglich durch Katharine von diesem Umstände benachrichtigt war, der für die Rigolot eine große Wichtigkeit hatte, für ihn aber noch Viel wichtiger war.
Das menschliche Herz ist einmal so. Obgleich er dessen ganz sicher war, was seine Cousine für ihn empfand, beunruhigte ihn doch diese Nachstellung des Parisers sehr.
Zwanzig Mal hatte er daran gedacht, mit Louis Chollet einen Streit von jener Art anzufangen, die gewöhnlich mit einem Degenstoß oder Pistolenschuß enden, und da, Dank seinen besonderen Übungen, Bernhard ausgezeichnet schoß, da er, Dank einem seiner Gefährten, der in einem Regimente Vorfechter gewesen war, und ihm aus nachbarlicher Gefälligkeit, so viel Fechtstunden gegeben, als er hatte nehmen wollen, den Degen ganz gut handhabt, so würde ihn die Sache, wenn sie auch aufs Äußerste getrieben worden wäre, nicht gerade sehr beunruhigt haben; aber wie konnte er mit einem Manne Streit anfangen, über den er sich durchaus nicht zu beklagen hatte, der gegen alle Leute höflich war, vielleicht gegen ihn mehr, als gegen jeden Andern? Die Sache war rein unmöglich!
Er mußte also auf eine Gelegenheit warten. Er hatte achtzehn Monate gewartet, und während dieser achtzehn Monate war sie nicht ein Mal erschienen. Erst an dem Tage, da Katharine Blum zurück erwartet wurde, übergab man Bernhard einen Brief an das Mädchen, und erkannte er, daß die Aufschrift des Briefs von der Hand seines Nebenbuhlers geschrieben sei.
Man kann sich denken, wie bewegt und bleich Bernhard schon beim Anblick dieses Briefes wurde.
Wie wir schon erzählt haben, drehte er ihn in seiner Hand hin und her, zog das Tuch aus der Tasche und trocknete sich die Stirne ab.
Als glaube er, das Taschentuch noch öfters brauchen zu müssen, behielt er dasselbe unter dem linken Arme, anstatt es in die Tasche zu stecken, und brach mit der Miene eines Mannes, der einen großen Entschluß faßt, den Brief auf.
Mathias sah ihm mit seinem boshaften Lächeln zu, und sagte, da er bemerkte, daß jener bleicher und bewegter wurde, je weiter er las:
»Sehen Sie, Herr Bernhard, das dachte ich mir, als ich den Brief aus der Tasche Peters nahm, und ich sagte mir: ich werde Herrn Bernhard über den Pariser aufklären, und zugleich Petern von seiner Stelle bringen. Ich habe mich auch nicht getäuscht; als Peter sagte, er habe den Brief verloren, . . . der Dummkopf! Ich frage Sie um Gotteswillen, ob er nicht sagen konnte, er habe ihn auf die Post getragen? Das hätte den Vortheil gehabt, daß der Pariser geglaubt, der erste Brief sei abgegangen, und darum keinen zweiten geschrieben. Dann hätte Mamsell Katharine ihn nicht erhalten, und wenn sie ihn nicht erhalten, hätte sie auch nicht geantwortet.
Bei diesem Worte fuhr Bernhard, der den Brief zum zweiten Male las, plötzlich auf, und sagte heftig:
»Was, geantwortet? Unglücklicher, Du sagst, Katharine habe dem Pariser geantwortet?«
Mathias bedeckte seine Wange, aus Furcht vor einer zweiten Ohrfeige, mit der Hand, und antwortete: »Das sage ich gerade nicht.«
»Was sagst Du sonst?«
»Ich sage, Katharine ist ein Frauenzimmer, und alle Eva'stöchter werden von der Sünde versucht.«
»Ich will eine bestimmte Antwort haben, ob Katharine geantwortet hat, oder nicht; hörst Du?«
»Vielleicht nicht . . . Aber Sie wissen ja, wer nichts sagt, stimmt bei.«
»Mathias!« rief der junge Mann und machte eine drohende Bewegung.
»In jedem Falle wollte er heute Morgen ihr mit dem Tilbury entgegenfahren.«
»Und ist er fort?«
»Ob er fort ist? Weiß ich das?« sagte Mathias. »Ich habe ja hier in der Backstube geschlafen. Wollen Sie es wissen?«
»Gewiß will ich es.«
»Das ist leicht zu erfahren. Wenn Sie sich in Villers-Cotterets erkundigen, wird Ihnen der erste Beste, den Sie fragen, ob man Louis Chollet in seinem Tilbury nach Gondreville habe fahren sehen, antworten: Ja.«
»Ich, ich bin, wie Sie recht gut wissen, ein dummer Teufel und sage wohl, daß er fahren wollte; ob er wirklich gefahren ist, weiß ich nicht.«
»Wie kannst Du wissen, daß er fahren wollte? – Der Brief war freilich erbrochen und wieder versiegelt.«
»Das weiß ich nicht. – Vielleicht hat ihn der Pariser wieder aufgemacht, um ein Postscriptum, wie man es nennt, dazu zu schreiben.«
»Du hast ihn nicht erbrochen, und wieder versiegelt?«
»Warum das? frage ich Sie, kann ich denn lesen? Ich bin ja ein unvernünftiges Vieh, dem man das A, B, C nicht in den Kopf bringen konnte.«
»Das ist wahr,« murmelte Bernhard, »aber woher wußtest Du, daß er ihr entgegen fahren wollte?«
»Weil er sagte Mathias, Du mußt das Pferd frühzeitig striegeln, weil ich um sechs Uhr mit dem Tilbury Katharinen entgegen fahre.«
»Er sagte kurzweg, Katharine?
»Glauben Sie, daß er große Umstände gemacht?«
»Ach!« flüsterte Bernhard, »wenn ich da gewesen wäre, wenn ich das Glück gehabt hätte, ihn zu hören!«
»Sie hätten ihn doch nicht geohrfeigt, wie mich.«
»Und warum nicht?«
»Es ist wahr, Sie schießen ganz gut mit dem Pistole; aber in dem Holzhofe des Herrn Raisin sieht man an genug Bäumen, daß auch er nicht schlecht schießt . . . Es ist wahr, Sie wissen mit dem Degen gut umzugehen, er aber hat vor einigen Tagen mit dem Unterinspektor, der bei den Soldaten stand, mit dem Rappiere gefochten und ihn, wie man sagt, schön zugerichtet.«
»Und das,« sagte Bernhard, »würde mich zurückgehalten haben?«
»Das meine ich nicht; aber Sie hätten sich vielleicht etwas länger besonnen, dem Pariser eine Ohrfeige zu geben, als dem armen Mathias Goguelue, der sich nicht besser als ein Kind verteidigen kann.«
Ein Gefühl des Mitleidens und fast der Scham zog durch das Herz Bernhards, und er sagte zu Mathias, indem er ihm die Hand reichte:
»Ich hatte Unrecht, nimm's nicht übel.«
Mathias gab ihm schüchtern seine kalte und zitternde Hand.
»Obgleich . . . obgleich,« fuhr Bernhard fort, »Du mich nicht liebst, Mathias!«
»Ah, heiliger Gott!« rief der Landstreicher aus, »was sagen Sie, Herr Bernhard?«
»Und, daß Du lügst, so oft Du den Mund auftust.«
»Gut,« erwiderte Mathias, »wir wollen annehmen, ich habe gelogen. Was liegt mir daran, ob der Pariser der gute Freund der Mamsell Katharine ist, oder nicht, ob er ihr in seinem Tilbury entgegen fährt, oder nicht, da Herr Raisin, der tut, was Herr Chollet will, weil er hofft, er werde seine Tochter Euphrosine heiraten, Petern entlassen, und mich an die Stelle angenommen hat . . . Ich muß selbst sagen, daß es besser für mich ist, wenn man nicht weiß, daß ich, aus Freundschaft gegen Sie, den Brief aus der Tasche des Alten genommen habe. Der Peter ist ein Duckmäuser; und wenn der Eber gereizt wird, das wissen Sie, Herr Bernhard, dann muß man sich vor den Hauern in Acht nehmen.«