Kitabı oku: «Eigensinn und Bindung», sayfa 16
Der Intellektuelle und die Politik
Bernhart war zeit seines Lebens ein kritischer Begleiter der zeitgeschichtlichen Ereignisse, der gesellschaftlichen Entwicklungen. Fundamental und zentral ist ihm die Bedeutung des Gewissens: Der Mensch muss anders werden, damit die Welt anders wird. Auf dem Hintergrund dieser Grundaussage – für Bernhart ein Kern der Botschaft Jesu von der notwendigen Umkehr, der Sinnesänderung – müssen auch seine Texte zu den politischen Ereignissen gelesen werden.
In den ersten Tagen des Freistaates Bayern im Februar 1919 hat er in der „Süddeutschen Freiheit“ einen Artikel publiziert („Der Katholizismus und die neue Gesellschaft“), der ihn in den Augen einiger seiner konservativen Freunde als verkappten Sympathisanten linker Sozialisten erscheinen ließ. Er wollte die Aufgabe der Kirche in der künftigen Gesellschaft, die er als eine vom Sozialismus geprägte voraussah, skizzieren. Die Kirche werde sich in dieser neuen Situation auf vieles besinnen müssen, was sie bisher versäumt habe; sie werde mit dem Geist ihres Stifters voll ernst machen müssen, nämlich die sittliche Gleichberechtigung aller Menschen zu verwirklichen, einen gerechten Ausgleich herbeizuführen und die Sendung und Aufgabe an der ganzen Menschheit ernst zu nehmen. Andererseits müsse der Sozialismus durch die geistige Tradition der Kirche eine ideelle Vertiefung erfahren, er müsse lernen, dass eine bloße Reform der Einrichtungen nicht genüge, die Reform müsse vielmehr den Menschen selbst ergreifen. Bernhart fordert dort wie in einem vorangegangenen Artikel und einem Vortrag vor Frauen eine gemäßigte Trennung von Staat und Kirche und die Rückbesinnung der Kirche auf die ihr eigentliche Aufgabe, die Idee der Entsagung, des Kreuzes der Welt vor Augen zu stellen.
„Ihre [= der Kirche] politische Verkettung mit den Staaten hat es ihr verwehrt, mit einem ,Quos ego‘ aufzutreten und im Namen dessen, der gesagt hat, daß durch das Schwert umkommen müsse, wer zum Schwert greife, die katholische Christenheit vom Menschenmord zurückzuhalten. Von Rom her ist kein Wort über die himmelschreiende Schuld des Krieges überhaupt gefallen, statt dessen wehten larmoyante Ermahnungen und Gebetsversprüche daher, die sang- und klanglos untergingen. So hat das Kirchenregiment heute ein moralisches Defizit zu buchen, das vor der Majestät des Bergpredigers schlechthin nicht mehr zu verantworten ist.“9
Freunde zogen sich nach diesem Artikel zurück, Bernhart stellte seine politische Schriftstellerei umgehend ein, um nicht weitere Missverständnisse zu provozieren. Die Reaktion des Freundeskreises dürfte als wichtige Zäsur, als ein Schlüsselerlebnis für die künftige Orientierung Bernharts angesehen werden. Er kann sich, was kirchlich-dogmatische, aber auch was Fragen gesellschaftlicher Verfasstheit anlangt, nicht so progressiv, so biblisch radikal äußern, wie er sich offensichtlich gelegentlich vorwagen wollte. Denn er will nicht auf seinen Freundeskreis verzichten; er braucht diesen, weil ihm als verheiratetem Priester die Zustimmung der Kirche nicht sicher sein kann. Auf diese aber will er keinesfalls verzichten.
Der unbestechliche Mahner gegen den Nationalsozialismus
Der bedächtige, vorsichtige Unruhestifter reformkatholischer Kreise wurde unter den nach 1933 veränderten politischen Verhältnissen zum klaren Kritiker: Am Vorabend der Märzwahlen 1933 formulierte er: „Was da vorgeht, brauchte niemand zu erschrecken, wenn es nicht auf eine Anbetung des Familienklotzes hinausliefe, auf die Einsetzung des Blutes zum Sakrament, die Apotheose der unteren Natur, in der man bolschewistisch oder faschistisch den Herrn und Schöpfer des Ganzen ersticken möchte. Wenn jemand ein Recht hat, den neuen Herolden des Nationalismus die Posaune vom Munde zu schlagen, so ist es der Christ, dem sein Glaube mehr ist als die Programmnummer des vielberufenen positiven Christentums in politischen Plakaten und rhetorischen Massenfängen. Denn von Anbeginn hat dieser Glaube, diese Kirche das Individuelle, auch das Blut, den Stamm und die Volkschaft mit der denkbar erhabensten Sanktion versehen (...). Ein jeder steht mit gleichem Recht wie der andere, keiner ist wie der andere, aber – und das macht den Gegensatz des christlichen Nationalismus gegen die Selbstvergötzung der Nationen an Stelle der abgedankten oder in politische Schutzhaft erklärten Gottheit – aber sie stehen und dienen vor dem Throne des Einen, der über alle zugleich der Herr ist.“10
Im Dezemberheft 1939 des „Hochland“ wurde ein weiterer Artikel gedruckt (danach durfte die Zeitschrift nicht mehr erscheinen). Bernhart geißelte dort die nunmehr bedrohlich gewachsene Sintflut. Dieser Beitrag mit dem Titel „Hodie“ ist einmal mehr eine prophetische Kritik. Im Zentrum stehen der biblische Messias und die Botschaft vom Reich Gottes. Beide halten der „Unseligkeit der Gegenwart“ den Spiegel vor, damit die „Fratzen des Fürsten dieser Welt“ deutlich werden. Gemäß seiner präsentischen Eschatologie unterstreicht Bernhart jeden Augenblick als entscheidend vor dem Gericht des ewigen Nun. Steht es aber in jedem Augenblick der geschöpflichen Geschichte so kritisch, dann ist auch der ganze Einsatz des ganzen Menschen für das Reich Gottes erforderlich. „Das heißt nun auch, daß Gottes Reich, also der Sinn der Geschichte, dem Verständnis erst durch den Schlüssel erschließbar ist, der uns im Wort von Gottes Offenbarung gereicht wird. Gegenüber allen anderen Anschauungen des Geschichtsgeschehens und ihren Folgen für das politische Handeln gilt dem Christen auch in diesem Betracht die Warnung: ,Sehet zu, daß da keiner euch verführt durch die Weltanschauung (philosophia) und hohlen Trug nach menschlich herkommender Lehrmeinung, nach den elementischen Wesenheiten und nicht nach Christus‘ (Kol 2, 8).“11
Bernhart benennt Unglück und Unrecht, er klagt die Vergewaltigung guter Völker durch schlechte an, indem er den Völkern das ordnende Gericht des Herrn der Geschichte prophezeit, ein erschütterndes Gericht. Er will das Gerede von der Rasse ad absurdum führen, indem er den Begriff auf eine andere, auf die theologische Ebene hebt und mit Bernhard von Clairvaux von der „generatio quaerentium faciem dei“ spricht, dem Gottesvolk, das aus allen Völkern gesammelt wird und die Prägung der acht Seligkeiten und des „Vater Unser“ annimmt. Bernhart spricht damit auch eine versteckte Anklage der Mitläufer im Christentum aus und weist hier einmal mehr auf die Bedeutung der ethischen Dimension für die Realisierung christlicher Botschaft durch die Menschen hin.
Theologie und Geschichtsdeutung sind zuinnerst charakterisiert durch Bernharts Blick auf den mystischen Menschen – gegen Parolen wie: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“
Welche Erfahrungen sind vorausgegangen, dass er so hartnäckig ablehnend blieb und sich nicht etwa einer Reichstheologie wie der Ildefons Herwegens, des Abtes von Maria Laach, anschloss? Warum verfiel er nicht der Lebenstheologie Karl Adams, des einflussreichen Tübinger Dogmatikers, der mit seinen Reflexionen über das Wesen des Katholizismus hohe Auflagen erzielte? Was hielt Bernhart davon ab, 1933 zu schreiben: „Man hatte im Lärm des Parteihaders (...) weithin das feine Organ für das Lebendige und seine zeugenden Kräfte eingebüßt. Man verkannte, daß ein erkrankter Volkskörper nicht durch äußere Heilmittel allein (...) geheilt werden kann, sondern entscheidend (...) ein lebendiger Mensch [ist], der zu jenen verborgenen Kräften, zu jenen geheimen Lebensquellen des Volkes Zugang hatte und der sie erwecken konnte, ein Mensch also, in dem die ganze Wesensart des Volkes, seine Ängste und seine Hoffnungen, sein Zorn und sein Trotz, sein Hochsinn und sein Heldenmut Fleisch und Blut geworden war, in dem das Volk sich selbst, sein Bestes wieder erkannte und erlebte (...). Ein solcher Mensch, der ganz und gar Volk und nichts als Volk war (...) mußte kommen, wenn anders das deutsche Volk in seinem Innersten berührt und zu neuem Lebenswillen erweckt werden sollte – und er kam.“12
Gibt es in Bernharts Theologie, in seiner Biographie Hinweise für eine Erklärung seiner vielschichtig dem Mainstream gegenläufigen Positionen? Den Mainstream hat Thomas Ruster in seiner Arbeit über katholische Theologen in der Weimarer Republik13 so charakterisiert: Nach dem Ersten Weltkrieg sei der Katholizismus in Deutschland auf eine Gesellschaft getroffen, die sich geradezu ruckartig modernisierte. Diese Transformation habe katholische Theologie tiefgreifend geprägt. Die Auseinandersetzung mit der modernen Welt sei überall dort prägend geworden, wo Theologen über den engeren fachwissenschaftlichen Diskurs hinausgingen. Ruster konstatiert ein breites Spektrum von Deutungsversuchen und Lösungsansätzen. Alle aber seien sie geprägt von der konstanten Grundfrage nach der Nützlichkeit der katholischen Religion in den veränderten Zeitumständen. Die Absicht, die eigenen Anliegen in der Transformation plausibel zu machen, barg die deutliche Gefahr der Adaptation in sich. Es ist bei Bernhart nicht zu vermuten, dass er sich den Veränderungs- und Auflösungsprozessen einfach nur widersetzte. Auch aus eigener biographischer Betroffenheit durch eine starre Praxis überkommener Vorschriften setzte er sich mit der jeweils neuen Situation und ihren Impulsen und Intentionen intensiv auseinander. Dabei wollte er den Katholizismus oder die Katholiken nicht funktionalisieren.
Woher nährte sich Bernharts Resistenz gegen den NS-Totalitarismus? War es seine konservative Grundhaltung, die ihn das pöbelhaft Revolutionäre des Nationalsozialismus abstoßend erscheinen ließ, wie Lorenz Wachinger vermutet, also ein restaurativer Widerstand? Die Erklärung greift zu kurz, hat Bernhart doch nicht nur 1918/19, sondern ebenfalls in dem angeführten Zitat von 1945 auch Sympathien für den „Linkskatholizismus“ erkennen lassen. Verankert in der Moderne und vertraut mit vielen Positionen der Geistesgeschichte der Neuzeit, mit Literatur und Kunst, leitet ihn sein Interesse für den Einzelnen.
Hauptsächlich die mystische Tradition der Theologie des Mittelalters faszinierte Bernhart und gab ihm vielfältige Impulse für seine eigenen Ansätze und Positionen, vor allem in der Hochschätzung des einzelnen Gläubigen und seines Gewissens wie auch in der Frage nach dem Austarieren von Zeit und Ewigkeit: der Ewigkeit, die das Zeitliche nicht aufsaugt, sondern jeden Augenblick zur Krisis werden lässt.
Bernharts Frage nach dem Sinn der Geschichte bringt ihn zu der nach den Bedingungen des Menschseins, seiner „Zwiemöglichkeit“ und der Verantwortung durch die Gabe des Gewissens. Die Würde des Einzelnen wird enorm aufgewertet. Die Gemeinschaft steht im Dienst des Einzelnen, nicht umgekehrt: Gegen die Hypostasierung der Gemeinschaft muss er aufstehen. Überhaupt wird Bernhart zunehmend skeptisch gegenüber abstrahierten Größen wie „Reich“ oder „Leben“.
Bei ihm wird die christliche Botschaft selbst zur Krisis, zur prophetischen Scheidung der Geister – damit wendet er sich gegen jede Funktionalisierung. Die Bergpredigt ist für Bernhart das Zentrum; er hatte die protestantische Bibelkritik seiner Zeit rezipiert. An den Propheten nimmt er Maß. So konnte bei ihm keine Begeisterung für den „Führer des Volkes“ aufkommen. „In der folgenden Zeit der Restauration und Reformation, des Festefeierns und des immer höher schwellenden religiös-nationalen Fanatismus lässt sich ein tief und weitaus schauender Mann wie Jeremias nicht beirren, ein Führer seines Volkes gegen dieses Volk zu sein. Von ihm und seinen Heilspropheten verhöhnt, verspottet, von seinen Nächsten verfolgt und am Leben bedroht, ein verzweifelnder Patriot in schauerlicher Einsamkeit, schleudert er aus der Qual eines heißen Herzens den Auftrag seines Gottes gegen Stadt und Staat und Tempel. Jahwes Wort haben sie verworfen: was für Weisheit ist ihnen geblieben? (...) Den Schaden meiner Volksgenossen möchten sie auf schnellfertige Weise heilen, indem sie rufen: Heil! Heil!, wo doch kein Heil ist. Schämen werden sie sich müssen, dass sie Greuel verübt haben. Aber für sie gibt es kein Erröten mehr, noch wissen sie mehr, was sich schämen heißt (...). Israel verwarf diesen bittern Führer, es folgte seinen Heilspropheten in das Unheil, das Babylon, wie Jeremias es vorausgesagt, an ihm erfüllte.“14
Bereits in der Frühphase des Dritten Reiches wurde Bernhart in der Verteidigung des Alten Testamentes mit dieser alttestamentlich-prophetischen Vision zu einem unbestechlichen, ja visionären Mahner seiner Zeit, der in seiner geistigen Distanz, gewonnen aus der profunden Kenntnis der reichen Traditionen europäischer Geistesgeschichte, nie in der Gefahr stand, sich anzubiedern, und dessen Gesichte sich so schrecklich erfüllen sollten.
Der katholische Intellektuelle nach Auschwitz
Wie versuchte Bernhart auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen und dem seiner theologischen Erkenntnisse die in Nationalsozialismus und Krieg angehäufte Schuld der Menschen, vor allem der Deutschen, zu erklären? Bereits 1944 konzipierte er dazu drei Reden: „Geschichtstheologischer Vortrag“, „Geheimnis der Bosheit“ und „Die Frohbotschaft vom Kreuz“. Bernhart spricht dort von der Unvergleichlichkeit der Entwicklung, von Finsternissen von einer solchen Intensität, wie es sie seit Menschengedenken noch nicht gegeben habe. Zusammengefasst und verdichtet sind diese Überlegungen in dem 1950 erschienenen Bändchen „Chaos und Dämonie“, das die unterschiedlichen Themenfelder Bernharts wie in einem Brennglas bündelt, die Wucht der Fragen der Zeitgeschichte aufnimmt und im Dialog mit zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen interpretiert. In diesem Kontext wählt Bernhart nicht mehr den Begriff der Tragik zur Umschreibung des gott-menschlichen Miteinanders, des Mit- und Nebeneinanders von Ewigkeit und Zeit. Er ist vom Ansatzpunkt her noch stärker schöpfungsorientiert und wählt wohl nicht zuletzt aus dieser Perspektive die Begriffe „Chaos“ und „Dämonie“ zur Beschreibung der Schöpfungswirklichkeit.
Die einleitenden umfänglichen Reflexionen weisen zudem darauf hin, dass er, dessen Sprache von der Kondensierung der Gedanken in zahlreiche Substantivierungen geprägt war, stärker auf die prädikative Ebene wechselt. Die neue Priorität zeigt sich schon in der Übersetzung der „Theologischen Summe“ des Thomas von Aquin (1934 ff.). Auch hier wurde die einengende und festgefahrene Terminologie der Substantive semantisch aufgesprengt und damit letztlich ein Beitrag zur Öffnung scholastischer Selbstverständlichkeiten geleistet.
Der Blick auf die Geschichte des Christentums, insbesondere auf die Erfahrungen der Schrecken des 20. Jahrhunderts bewegt ihn zu einer sehr kritischen Position: Aus tiefer Betroffenheit stellt Bernhart das Unvergleichliche der Schrecken des Dritten Reiches heraus. Sein Denkansatz lässt ihn aber mit einer nur moralischen Kritik von Kirche und Christen, dem bei vielen zeitgenössischen Theologen so geläufigen Argument eines Abfalls vom Christentum oder einer praktischen Lauheit nicht zufrieden sein. Dass es zu diesem Versagen kommen konnte, hängt – und darin wird die Traditionslinie seines Denkens deutlich – mit der Grundstruktur der Schöpfung zusammen, die eine antagonistische, eine dämonische ist – im ständigen Kampf zwischen der Tendenz zum Nichts und derjenigen zum Vollkommensein. Nach Christus hat dieser Antagonismus nicht an Spannung verloren, sondern neue Extrema gewonnen – insofern steht Bernhart hier durchaus in einer Nähe zu apokalyptischem Denken. Die dadurch verschärfte Theodizee-Frage verweist den Menschen auf die Ambivalenz seiner Freiheit, die in einem geheimnisvollen Zusammenwirken mit Gottes Willen steht. Der Mensch ist nicht nur eine Episode in der Geschichte, sondern der Tragende und Getragene einer höheren Geschichte. Nicht die Erkenntnisebene abstrahiert und überhebt den Menschen über den Fluss der Dinge und Geschehnisse, sondern das Gewissen, das nur theologisch begründbar ist. Dieser Mensch mit seinem Gewissen aber ist wie die Natur ein dämonischer, mit „Zwiemöglichkeit“ geladen, wobei „dämonisch“ nicht per se etwas Böses meint, sondern gemäß dem griechischen Ursprung etwas Ungeschiedenes und Unentschiedenes, das also jenseits von Gut und Böse liegt. Es ist potenziell fähig zu beidem. Damit stehen menschliches Handeln und Geschichte immer in der Krisis.
Bernhart erkennt – sensibel und weitblickend im Vergleich zu theologischen Zeitgenossen – die Erfahrungen des Dritten Reiches als Zäsur, bei der das Sosein des Menschen auf dem Spiel steht. Seine Antwort geht in eine Richtung, die gegenwärtige Alteritätsphilosophien einzubringen suchen.
Der Intellektuelle wird zum Seismographen
Lange bevor die ökologischen Probleme breiter in der Gesellschaft und Politik diskutiert wurden, hatte Bernhart gegen die Naturfremde seiner theologischen Zeitgenossen sein Gegensatzdenken auch auf die Tierwelt und das Leiden der Tiere angewandt. Der Theologe, der die Ordnung der Schöpfung gefährdet und gestört sah, der bedrängt wurde durch das Wissen, dass in dieser Schöpfung Gottes von Anfang an nicht alles in der Harmonie ablief, wie die Menschen sich dies wünschen, vollzog hier nicht nur eine anthropologische Wende, sondern eine Hinwendung seiner Theologie zur gesamten Schöpfung. 1961 erschienen seine Reflexionen über die „unbeweinte Kreatur“, theologische Essays als Antwortversuche auf die Fragen eines Pfarrers, den das Leiden der Tiere im alpenländischen Winter bedrückte. Zugleich öffnen sie die Perspektive hin auf eine mögliche Sinnhaftigkeit dieses Leidens, nach der Erlösung der Tierwelt. In einer Zeit, da die Fortschrittsgläubigkeit noch nicht erschüttert war, verweist Bernhart auf die Gefahren, die die wachsende Beherrschung der Natur durch den Menschen bringt, und auf die Ambivalenz des technischen Fortschritts. „Indem er [= der Mensch] die Dinge sich erobert, wächst ihm auch die Gefahr, daß er unter die Dinge gerät, weil er die Macht, die ihm zuwächst, als Versuchung, die Schlüsselgewalt über das Dasein in die Hand zu bekommen, nur dann bestehen könnte, wenn er, je mächtiger er wird, um so mehr auch besser würde, reiner, großgemuter, wachsamer über sein Herz, aus dem von je auch alles Arge kommt.“15
Das Deuten der Geschichte versteht Bernhart als seelsorgerische Aufgabe. Christsein und Kirche-Sein bedeuten ihm zutiefst ein Verwobensein in Göttliches und Weltliches. So verweist er die Kirche, die er in ihren Schönheiten wie in ihren Falten und Runzeln wahrnimmt und darstellt, immer wieder auf ihre eigentliche Aufgabe, nämlich den Menschen zu seiner ewigkeitlichen Dimension hinzuführen. Dies geschieht nicht zuletzt in seinem Erfolgswerk „Der Vatikan als Weltmacht“ (1930). Der Titel darf freilich nicht den Eindruck erwecken, als habe sich Bernhart in erster Linie dem Institutionellen in der Kirche zugewandt. Kirche ist für ihn – in enger Anlehnung an Platons Vorstellung vom Staat – zuvorderst eine Gemeinschaft, die den Charakter der Seligpreisungen trägt, die nach dem Reich Gottes in der Geschichte verlangt. Nicht dürfe sie sich als Fremdkörper in dieser Schöpfung und der Geschichte betrachten, noch sich resigniert oder vorwurfsvoll aus dem Weltgeschehen zurückziehen. Die Christen seien vielmehr dafür zu öffnen, dass sie die enge Verquickung von Schöpfung und Kirche anerkennen und damit das Geschöpfliche und das Ereignishafte aufwerten.
Das ist der Stachel, der dem Intellektuellen, der Gott nicht nur mit dem Intellekt, sondern mit allen Fasern seines Gemütes, mit all seinen Kräften lieben will, nicht erlaubt, in irgendeinem Elfenbeinturm zu verbleiben; der ihn antreibt, immer wieder Einsprüche zu formulieren; der um den Stellenwert der Wandlung in der Schöpfung weiß und daher ständig Umlernen einfordert; der die Menschen vom Wissen zur Bildung führen will. Bildung, „verstanden als Habe und Bereitschaft des Intellekts wie als Reife des sittlichen Bewußtseins“,16 ein Bewusstsein dafür, dass nicht nur wir Menschen Fragen stellen, sondern uns als Gefragte erkennen. Verstanden als Schöpfung, die die Geschöpfe zurückbezieht auf den Bildner; die die Transzendenz auch in einer Zeit offenhält, da viele glaubten, sich bequem auf die innerweltlichen Erklärungen und Machbarkeiten beschränken zu können. Bernhart wusste auch in der Fortschrittseuphorie der 50er-Jahre um die Tragweite des intuitiven Wissens und plädierte in Vorträgen und Kleinschriften wiederholt dafür, das spirituelle Verhältnis des Menschen zur Allwirklichkeit als Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. „Das Unsägliche ist offenbar die echte Heimat des Menschen. Das weiß der Liebende, der verstummt in seinem Glück; das weiß der Erkennende, dem im Verstehen die Sprache versagt.“17 Damit war Bernhart einmal mehr seiner Zeit weit voraus – 1910, nach seiner Rede auf dem Augsburger Katholikentag, hatte Carl Sonnenschein ihm bereits zugerufen: „Herrlich, mein Lieber, herrlich – nur 20 Jahre zu früh!“
Was blieb und bleibt von Bernharts Impulsen? Die Joseph-Bernhart-Gesellschaft hat unter ihrem langjährigen Ersten Vorsitzenden Manfred Weitlauff in den letzten zwanzig Jahren einen Großteil auch der unveröffentlichten Werke in hervorragenden Editionen vorgelegt. Die Rezeption in der zünftigen Theologie darf jedoch eher spärlich genannt werden.
Bernhart ist in mehrfacher Hinsicht eine atypische Gestalt der Theologenzunft seiner Zeit. Er ist durch die neuscholastische Schule gegangen, deren Antworten auf die Grundprobleme des Lebens und Seins ihn aber nicht befriedigen konnten. Durch eigene historische Forschungen in der Theologie und Philosophie des Mittelalters wollte er die neuscholastische Theologie in ihrem Problembewusstsein und ihren Lösungsansätzen weiten, aktualisieren, und musste sie so letztlich aufsprengen. Mehrfach wurde ihm eine mystische „Erlebnistheologie“ bescheinigt.18 Er hat damit zu einem subtilen Aufbruch beigetragen, der zwar nie die Breite und zunächst weite und begeisterte Resonanz eines Romano Guardini gefunden hat, wegen seines Ringens um den Menschen in Gott und Gott im Menschen und wegen seines Dialoges mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften jedoch auch heute noch aktuell ist.
Am Beispiel Bernharts zeigt sich: Historisches Forschen kann zu kritischer Distanz befähigen, ein Sensorium für das jeweils Erforderliche, für die Würde und Aufgabe des „Augenblicks“ schaffen. Das Marginale schärft den Blick. Die Spannung von „einzeln“ und „allgemein“, induktiv und deduktiv gilt es auszuhalten. Man möchte wünschen, dass vor allem sein Schöpfungsdenken, die creatio continua und sein Gegensatzdenken bis in den Schöpfer hinein, weitergeführt und in den unterschiedlichsten Bereichen der theologischen Disziplinen die entsprechenden Konsequenzen durchdacht werden, etwa seine Aussage, dass das malum bereits in Gottes Schöpfergedanken ist, in Hinsicht auf die Rede von der Notwendigkeit der satisfactio.
Schriften von Joseph Bernhart: Bernhardische und Eckhartische Mystik in ihren Beziehungen und Gegensätzen. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung. Kempten/München 1912 – (Hg.:) Gebete großer Seelen (1915). Neu hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1999 – Tragik im Weltlauf (1917). Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1990 – Der Kaplan. Aufzeichnungen aus einem Leben (1919). Mit Schriften u. Beiträgen zum Thema aus den Jahren 1912 – 1969 neu hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1986 – (Hg.:) Der Frankfurter. Eine deutsche Theologie. Leipzig 1920 – Die philosophische Mystik des Mittelalters von ihren antiken Ursprüngen bis zur Renaissance (1922). Mit Schriften und Beiträgen zum Thema aus den Jahren 1912 – 1969 neu hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 2000 – Der Vatikan als Thron der Welt. (Ab 1930 u. d. T.: Der Vatikan als Weltmacht. Geschichte und Gestalt des Papsttums.) Leipzig 1929 – Sinn der Geschichte (1931). Mit Vorträgen u. Aufsätzen zum Thema aus den Jahren 1918 bis 1961. Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1994 – Meister Eckhart und Nietzsche. Ein Vergleich für die Gegenwart. Berlin 1934 – (Hg.:) Thomas von Aquino. Summe der Theologie. 3 Bde. Stuttgart 1934/38 – De profundis (1935). Weißenhorn 51985 – (Hg.:) Der stumme Jubel. Ein mystischer Chor. Salzburg/Leipzig 1936 – (Hg.:) Heilige und Tiere (1937). Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1997 – Totengedächtnis. München 1940 – Vom Mysterium der Geschichte. Kolmar i. E. 1944 – Chaos und Dämonie. Von den göttlichen Schatten der Schöpfung (1950). Neu hg. v. Georg Schwaiger. Weißenhorn 1988 – Bonifatius, 672/75 – 754. Apostel der Deutschen (1950). Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 2004 – Gestalten christlicher Mystik und Spiritualität. Mit einem Anhang: Schriften und Beiträge zur christlichen Spiritualität aus den Jahren 1908 – 1954. Hg. von Manfred Weitlauff. Weißenhorn 2004 – Wissen und Bildung. Zwei Vorträge. München 1955 – Die unbeweinte Kreatur. Reflexionen über das Tier (1961). Neu hg. v. Georg Schwaiger. Weißenhorn 1987 – Zeit-Deutungen. Schriften, Beiträge und bislang unveröffentlichte Vorträge zu Problemen der Politik und Kultur aus den Jahren 1918 – 1962. Hg. v. Manfred Weitlauff u. Thomas Groll. Weißenhorn 2007 – Thomas Morus. Roman. Weißenhorn 1979 – Erinnerungen. 1881 – 1930. 2 Bde. Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1992 – Tagebücher und Notizen 1935 – 1947. Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1997.
Sekundärliteratur: Rainer Bendel: Das Kirchenbild Joseph Bernharts. St. Ottilien 1993 – Ders.: Joseph Bernhart (1881 – 1969). In: Manfred Weitlauff (Hg.): Lebensbilder aus dem Bistum Augsburg. Vom Mittelalter bis in die neueste Zeit. Augsburg 2005, 507 – 525 – Ders./Lydia Bendel-Maidl: Mystik oder Scholastik als Wege zu Nietzsche. Joseph Bernhart und Theodor Steinbüchel im Vergleich. In: Gotthard Fuchs/Ulrich Willers (Hg.): Theodizee im Zeichen von Dionysos. Friedrich Nietzsches Fragen jenseits von Moral und Religion. Münster 2002 – Diess./Andreas Goldschmidt: Dämonisierung des Nationalsozialismus. Vergangenheitsbewältigung in theologischen Schriften Joseph Bernharts, Romano Guardinis und Alois Winklhofers. In: Kirchliche Zeitgeschichte 13 (2000) 138 – 177 – Lorenz Wachinger (Hg.): Joseph Bernhart. Leben und Werk in Selbstzeugnissen. Weißenhorn 1981 – Manfred Weitlauff (Hg.): Joseph Bernhart (1881 – 1969), ein bedeutender Repräsentant katholischen Geisteslebens im 20. Jahrhundert. Augsburg 2000.