Kitabı oku: «Eigensinn und Bindung», sayfa 7
Am Ufer des Sees Genezareth
Bei aller wachsenden In-sich-Gekehrtheit im Alter verbindet sich mit Annette Kolbs letzten Lebensjahren eine wichtige Aktivität: der Höhepunkt ihrer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem „jüdischen Problem“ (F 67), das sie wiederholt „ein christliches“ genannt hat. Gerade weil sie dabei zuweilen nicht frei von Vorurteilen oder ambivalenten Bemerkungen ist,32 muss ihre spätere Haltung desto höher eingeschätzt werden.
In der 1934 noch in Berlin erschienenen „Schaukel“ ist im Zusammenhang mit einer Dame und dem für ihre Herkunft typischen „Qualitätsgefühl“ eine Anmerkung beigegeben: „wir sind heute in Deutschland eine kleine Schar [!] von Christen, die sich ihrer Dankesschuld dem Judentum gegenüber bewußt bleibt“ (S 135). Um das Erscheinen des Romans weiter zu gewährleisten, musste die Fußnote im Einvernehmen mit der Autorin ab der zweiten Auflage gestrichen werden.
Der Essay „Gelobtes Land – Gelobte Länder“ ist 1951 zunächst im „Hochland“ erschienen. Anhand persönlicher Begegnungen verfolgt Annette Kolb hier ihr jüdisches Interesse seit der Kindheit zurück. Frühere Vorstellungen vom Aufgehen der Juden in der deutschen Gesellschaft werden nun kritisch bewertet: „so war unsere Philosemitie eine antisemitische Sache“ (SB 133). Auch im Exil bleibt es bei „Sympathie, Parteinahme, Solidarität“ für die Juden, innerhalb derer sie freilich Unterscheidungen des geistigen Ranges vornimmt. Die „Unabhängigkeitserklärung eines jüdischen Staates“ am 14. Mai 1948 (die sie in ihrem Buch „Glückliche Reise“ acht Jahre zuvor hypothetisch antizipiert hatte) sieht sie als „Heimkehr (...) für einen so schwer geprüften Stamm“, welche „die gesamte Christenheit (...) ihm gönnte“, mit „Freude“ sogar (SB 148): „Wenn ihr aber meint, es habe eine höhere Fügung über eurer Heimkehr gewaltet, so sind auch wir dieses Glaubens.“ (SB 150)
Anfang 1963 lernt Annette Kolb den jungen jüdischen Autor Elazar Benyoëtz kennen. Rasch entwickelt sich eine Freundschaft. Sie schreibt ihm als seine „christliche Schwester“,33 er wird nach ihrem Tod das erste Buch über sie veröffentlichen („Annette Kolb und Israel“, 1970). Mit Blick auf den „letzten“ und „sehnlichsten Wunsch“ ihres Lebens34 schmiedet Annette Kolb Pläne, das Heilige Land zu sehen. 1967 tritt die 97-Jährige diese ihr so wichtige Reise an. Sie besucht das vermeintliche Grab des Königs David am Berg Zion, steht lange allein am Ufer des Sees Genezareth. „Dein Land“, lautet viereinhalb Monate vor ihrem Tod der letzte Satz in ihrem letzten Brief an Elazar Benyoëtz, es „ist schon mein Land geworden!!“35 Und sie setzt zwei Ausrufezeichen dahinter.
Schriften von Annette Kolb: Kurze Aufsätze. München 1899 – Sieben Studien. L’ âme aux deux patries. München 1906 – (Hg.:) Die Briefe der heiligen Catarina von Siena. Leipzig 1906 – (Übers., zus. m. Franz Blei:) Gilbert Keith Chesterton: Orthodoxie. München 1909 – Das Exemplar. Roman. Berlin 1913 – Wege und Umwege. Leipzig 1914 – Briefe einer Deutsch-Französin. Berlin 1916 – Die Last. Zürich 1918 – Zarastro. Westliche Tage. Berlin 1921 – Wera Njedin. Erzählungen und Skizzen. Berlin 1925 – Spitzbögen. Berlin 1925 – Daphne Herbst. Roman. Berlin 1928 – Versuch über Briand. Berlin 1929 – Kleine Fanfare. Berlin 1930 – Beschwerdebuch. Berlin 1932 – Die Schaukel. Roman. Berlin 1934 – Festspieltage in Salzburg und Abschied von Österreich. Amsterdam 1938 – Mozart. Wien 1937 – Glückliche Reise. Stockholm 1940 – Franz Schubert. Sein Leben. Stockholm 1941 – König Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner. Amsterdam 1947 – Blätter in den Wind. Frankfurt a. M. 1954 – (Übers.:) Valéry Larbaud: Sankt Hieronymus, Schutzpatron der Übersetzer. München 1956 – Memento. Frankfurt a. M. 1960 – 1907 – 1964. Zeitbilder. Frankfurt a. M. 1964 – Annette Kolb/René Schickele: Briefe im Exil 1933 – 1940. In Zus.arb. m. Heidemarie Gruppe hrsg. v. Hans Bender. Mainz 1987 – La vraie patrie, c’est la lumière. Correspondance entre Annette Kolb et Romain Rolland (1915 – 1936). Documents réunis par Anne-Marie Saint-Gille. Bern u. a. 1994.
Nachlassverzeichnis und Bibliographie in: Richard Lemp: Annette Kolb. Leben und Werk. Mainz 1970, 33 – 67 u. 114 – 117.
Sekundärliteratur: Sigrid Bauschinger (Hg.): Ich habe etwas zu sagen. Annette Kolb. 1870 – 1967. Ausstellung der Münchener Stadtbibliothek. München 1993 – Annette Bühler-Dietrich: Das entpersönlichte Antlitz des Abtes. Religiosität, Ästhetik und Geschlecht bei Annette Kolb. In: Ruth Albrecht/dies./Florentine Strzelczyk (Hg.): Glaube und Geschlecht. Fromme Frauen – Spirituelle Erfahrungen – Religiöse Traditionen. Köln/Weimar/Wien 2008, 80 – 98 – Jutta Kayser: Tochter zweier Vaterländer – Tochter der Kirche. Zum Leben und Denken von Annette Kolb. In: Internationale katholische Zeitschrift „Communio“ 24 (1995), 259 – 274 – Charlotte Marlo Werner: Annette Kolb. Eine literarische Stimme Europas. Königstein/Ts. 2000 – Doris Rauenhorst: Annette Kolb. Ihr Leben und ihr Werk. Freiburg/Schweiz 1969 – Jürgen Schwalm: „Ich mußte es auf meine Weise sagen“. Annette Kolb (1870 – 1967). Leben und Werk. Bad Schwartau 2006 – Armin Strohmeyr: Annette Kolb. Dichterin zwischen den Völkern. München 2002.
Max Scheler (1874 – 1928)
Max Scheler: der katholische Nietzsche?
Angelika Sander
Wer war Max Scheler? Sicherlich ein großer deutscher Philosoph des 20. Jahrhunderts. Doch kennt man ihn wirklich? Heute selbst in philosophisch interessierten Kreisen wenig.
Unglaublich für Menschen, die Scheler noch persönlich erlebt hatten, wie z. B. Hans-Georg Gadamer. Denn in der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts besaß Schelers Name Glamour und einen Nimbus, der weit über die akademische Welt, weit über Deutschland hinaus reichte. Für Heidegger, so in einem Nachruf, den dieser spontan nach der Nachricht von Schelers Tod 1928 in einer Vorlesung hielt, stellte er die stärkste Kraft der zeitgenössischen europäischen Philosophie dar.
Bewunderer wie Kritiker Schelers waren gleichermaßen von ihm beeindruckt, nicht nur durch sein Werk, sondern auch durch die Begegnung mit seiner intensiven und leidenschaftlichen Persönlichkeit. Sein vulkanisches Denken hat kaum einen Zeitgenossen kalt gelassen, wobei die Bandbreite von höchstem Enthusiasmus bis zu tiefstem Hass reichte. Nie wieder, so Edith Stein, sei ihr an einem Menschen so rein das Phänomen der Genialität entgegengetreten. Kurt Hiller schreibt hingegen, er verdiene „totgeschlagen zu werden, wie die Ratten“.1
Schelers Einfluss auf die intellektuelle Öffentlichkeit seiner Zeit war nachhaltig. Schnell erreichten seine Bücher, ungewöhnlich für philosophische Schriften, mehrere Auflagen. Auch von seinen Philosophenkollegen wurde er geschätzt, selbst von denen, die ihm skeptisch gegenüberstanden. Er besaß einen Blick für neue, lohnenswerte Ideen und Autoren, für die perspektivische Zusammenschau unterschiedlichster Wissensgebiete, für die Grenzüberschreitung der Philosophie in andere Wissenswelten. Dabei nahm er mit seinen Untersuchungen nicht selten eine Vorreiterrolle ein.
Max Scheler ist heute in erster Linie durch sein Hauptwerk „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ (1913/16) bekannt, in dem er als Kritiker einer formalistischen Ethik nach dem Modell Kants und als Vertreter eines ethischen Personalismus auftritt, sowie durch den kurz vor seinem Lebensende verfassten programmatischen Aufsatz „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (1928), heute ein klassischer Text der Philosophischen Anthropologie. Diese beiden Werke allein reichten aus, ihm einen unbestrittenen Platz im Kanon philosophischer Autoren zu sichern. Doch Scheler hatte prägenden Einfluss weit darüber hinaus: Er war eine Leitfigur der aufkeimenden phänomenologischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und hat diese entscheidend mitgeprägt. Auch auf dem Feld der damals jungen Wissenschaft der Soziologie hat Scheler mit seinen Schriften zur Wissenssoziologie wichtige Beiträge geleistet. Er befasste sich ausführlich mit Metaphysik, Erkenntnistheorie und Logik. Sozialkritisch setzte sich Scheler mit dem kapitalistischen Geist und der bürgerlichen Kultur seiner Zeit auseinander und trat für einen christlichen Sozialismus ein. Seine Untersuchungen zur philosophischen Bedeutung des Fühlens, die heute besonders an Aktualität wiedergewonnen haben, sind vor allem hervorzuheben. Dazu gehören seine Studie „Wesen und Formen der Sympathie“ (1923) und kleinere, zum Teil erst im Nachlass veröffentlichte Schriften wie „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ (1912), „Reue und Wiedergeburt“ (1917), „Über Scham und Schamgefühl“ (1913) und „Ordo Amoris“ (1914 – 16).
Schließlich erschloss er mit seinen Schriften zur Religion den durch den Kulturkampf nach der Reichsgründung geprägten Katholizismus, der seit Jahrzehnten einem engen Neuthomismus und Lagerdenken verhaftet war und den Anschluss an die aktuellen geistigen Diskussionen verloren hatte, der philosophischen Avantgarde. Diese Zeit seines Wirkens, die mit turbulenten Entwicklungen in seinem Privatleben zusammenfällt, wird als Schelers „katholische Phase“ betrachtet und soll im Zentrum dieses Aufsatzes stehen.
Zuvor jedoch noch ein Blick auf die Frage, warum man Scheler heutzutage trotz seines unbestrittenen Einflusses auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts wenig und oft nur oberflächlich kennt.
Ein beschwiegener Philosoph
Dass Schelers Philosophie im Unterschied zu derjenigen seiner Zeitgenossen Husserl und Heidegger, mit denen zusammen er das Dreigestirn der deutschen Philosophie der Zwischenkriegsjahre gebildet hatte, verblasste, lag nicht zuletzt an den politischen Zeitläuften.
Scheler erlitt gewissermaßen ein Emigrantenschicksal, ohne selbst Emigrant gewesen zu sein. Als er 1928 starb, war ein großer Teil seiner Schriften unveröffentlicht, und die Erwartungen an den Nachlass waren hoch, vor allem, da Scheler selbst immer wieder das baldige Erscheinen umfangreicher Werke angekündigt hatte. Unter der Führung Martin Heideggers fand sich ein Kreis von Kollegen und Freunden zusammen, um die Herausgabe der Nachlassschriften einzuleiten, darunter Paul Landsberg, Walter Otto, Adhemar Gelb, Alexander Koyré und Richard Oehler. Anfang 1933 konnte ein erster Band nachgelassener Aufsätze erscheinen. Nach der Machtübernahme der Nazi-Regierung jedoch gab es einen Einschnitt: Scheler war Halbjude. Seine Werke durften nicht neu aufgelegt werden, Forschungen zu Scheler wurden unterbunden, der Herausgeberkreis zersprengt: Sowohl Gelb als auch Landsberg, der zunächst nach Frankreich flüchtete, kamen in Konzentrationslagern um.2
Scheler konnte in Deutschland nur noch ohne Namensnennung zitiert werden, was zur Folge hatte, dass sein Werk anonymisiert wurde. Seine Ideen wurden in breiten Kreisen zwar weiterhin tradiert und rezipiert, doch geriet er in die Rolle eines verschwiegenen Philosophen, dessen Ideen als Steinbruch dienten, ohne dass ihre Herkunft offengelegt war.
Nach dem Krieg gelangte Schelers Werk im aktuellen philosophischen Diskurs der Nachkriegszeit nie mehr nachhaltig zur Geltung. Zudem gestaltete sich die Neuherausgabe seiner Werke schwierig, und das oft angekündigte Opus magnum,3 auf das seine Verehrer lange gewartet hatten, fand sich im Nachlass nicht.
Es gab schon zu Schelers Lebzeiten die Tendenz, seine philosophische Qualität zu unterschätzen und die für seine Texte typischen Merkmale, wie aphoristischer Schreibstil, plötzlicher Abbruch von Gedankengängen, Unvollständigkeit der Schriften, Abschweifungen, Mangel an exakten Definitionen, seine diversen philosophischen Kehrtwendungen, als Ausweis des Feuilletonismus seines Denkens zu interpretieren. Aus heutiger Sicht könnten diese Schwächen jedoch auch als Zeichen von dessen Aktualität gelesen werden – weniger als Indizien mangelnder Wissenschaftlichkeit, sondern als Spiegelungen der Fragmentierung der modernen Welt, als Dokument des geistigen Aufbruchs der Zwischenkriegszeit, von der man zu behaupten geneigt ist, sie sei überhaupt die einzig moderne Zeit des vergangenen Jahrhunderts gewesen.
Vieles spricht dafür, dass ein neugieriger Blick auf Scheler sich lohnt. Nicht nur, weil seine Werke nun komplett zugänglich sind – die Herausgabe der Gesammelten Werke inklusive der Nachlassschriften ist vollendet –, sondern weil auch seine Themen – Philosophische Anthropologie, Auseinandersetzung mit Wertfragen, Fragen nach dem Stellenwert des Fühlens für das menschliche Denken und Verhalten – an Aktualität gewonnen haben. Hier hat Scheler in vielen Punkten immer noch einen Denkvorsprung, der von der aktuellen Diskussion erst noch eingeholt werden muss.
„Ganz erfüllt von katholischen Ideen“
War Max Scheler ein katholischer Intellektueller? Er selbst hätte diese Etikettierung für sich vermutlich abgelehnt. In einem Brief an Ernst Troeltsch vom 6. Juli 1917, in dem es um die Frage eines möglichen „katholischen“ Lehrstuhls für ihn geht, distanziert er sich von diesem Gedanken: „Denn ich pflege, wie meine rein philosophischen Bücher klar zeigen, auf schärfste [!] den rein philosophischen und voraussetzungsfreien Standort der Vernunft von dem des Glaubens und Bekennens in meinen methodischen Intentionen und meist schon in der Form meiner Publikationen zu unterscheiden. Ich darf daher freundlich bitten, meine rein philosophischen und meine mehr oder weniger publizistisch gefärbten Veröffentlichungen auch in Lektüre und Aufnahme ebenso scharf zu scheiden, als ich es in der Produktion zu tun pflege.“4
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese strenge Trennung von den Rezipienten seiner Schriften nachvollzogen wurde. Fest steht, dass Scheler während der Kriegsjahre, spätestens ab 1915, nach der Veröffentlichung des Aufsatzes „Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Krieg“ in der Zeitschrift „Hochland“ als Exponent des Katholizismus galt. Nicht zuletzt aufgrund dieser Rolle wurde er von Kölns Bürgermeister Konrad Adenauer 1919 als Direktor an das Institut für Sozialwissenschaften geholt und erhielt endlich seine ersehnte Professur an der jungen Kölner Universität in Philosophie und Soziologie. Wenige Zeit später jedoch schon, um das Jahr 1923, erfolgte der Bruch Max Schelers mit der katholischen Kirche.
Von seinen Kritikern war Scheler immer wieder unterstellt worden, seine Identifikation mit der katholischen Kirche sei nur äußerlich und erfolge aus taktischen Gründen, um eine Professur zu erhalten. Tatsächlich war Max Scheler, obwohl getauft, nur kurze Zeit praktizierender Katholik. Doch schon vorher, so schreibt Edith Stein, die ihn um das Jahr 1910 im Phänomenologenkreis um Husserl in Göttingen kennenlernte, war er „ganz erfüllt (...) von katholischen Ideen“ und verstand es, „mit allem Glanz seines Geistes und seiner Sprachgewalt für sie zu werben (...) Die Schranken der rationalistischen Vorurteile fielen (...) und die Welt des Glaubens stand plötzlich vor mir“.5 Nicht nur Edith Stein, auch andere Personen seines Bekanntenkreises wie seine zweite Frau Märit Furtwängler, Dietrich von Hildebrand, Peter Wust und Otto Klemperer haben durch Scheler den Anstoß bekommen, zum katholischen Glauben zu konvertieren.
Wie ist dies nun vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Scheler selbst 1923 behauptete, dass er sich nach den „strengen Maßen der Theologie der römischen Kirche (...) einen ,gläubigen Katholiken‘ zu keiner Zeit seines Lebens und seiner Entwicklung nennen durfte“?6 Sein engster Freund, Dietrich von Hildebrand, urteilte, Scheler sei selbst in seinen gläubigsten Phasen stets ein „Outsider“ geblieben, obwohl das „katholische Gedankengut, soweit es sich auf natürliche Fragen erstreckt“, stets der Angelpunkt seines Lebens und Denkens gewesen sei.7 Diese Befunde müssen vor dem Hintergrund von Schelers Biographie und seiner persönlichen und philosophischen Entwicklungen gelesen werden, stehen aber auch im Zusammenhang der politischen Ereignisse im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts.
Frühe Erfahrungen
Max Scheler stammte nicht aus einem katholischen Elternhaus, sondern besaß eine gemischt konfessionelle Herkunft. Er wurde am 22. August 1874 in München geboren. Sein Vater Gottlieb (1831 – 1900) war evangelisch, seine Mutter Sofie (1844 – 1915) orthodox jüdisch. Sie stammte aus der in München alteingesessenen jüdischen Familie Fürther. Auf ihr Drängen gab der als charakterschwach geschilderte Vater seine Stelle als Gutsverwalter auf Gut Hörlasreuth bei Bayreuth auf, um in die bayerische Hauptstadt zu ziehen. Dort wurde Max streng orthodox erzogen, im Sinne seines reichen Onkels Hermann Fürther, dessen Erbe er nach dem Willen seiner Mutter antreten sollte. Sie soll eine sehr schöne, aber auch strenge und gefühlskalte Frau gewesen sein.
Claire Goll, die Cousine Schelers, schildert in ihren autobiographischen Texten „Der gestohlene Himmel“ und „Ich verzeihe keinem“ das Familienklima der Fürthers als dominiert von Angst. Die kleinste Kleinigkeit genügte, um übermäßigen Strafen ausgesetzt zu werden. Sie berichtet von einer krankhaften Versessenheit ihrer Mutter auf körperliche Misshandlungen, was von der Familie gebilligt wurde. Sie selbst entfloh dieser Familie so bald wie möglich durch eine frühe Heirat.
Von Max Scheler weiß man, dass er als verwöhnter Sohn und Erbe erzogen wurde. Seiner von ihm heiß geliebten jüngeren Schwester Hermine jedoch stand seine Mutter abweisend gegenüber: Aufgrund der Familiengeschichte ist es gut möglich, dass sie eine ähnliche Kindheit zu erdulden hatte wie Claire Goll. Mit sechzehn Jahren nahm sie sich 1903 zusammen mit ihrem Verlobten das Leben. Wenngleich Scheler selbst wohl keinen Misshandlungen ausgesetzt war, so gibt es doch eine Art Missbrauch, der in der Luft liegt, der ihm sicher nicht entgangen ist, dem er aber als Kind wohl hilflos gegenüber stand. Die Schuld- und Unwertgefühle, die Scheler sein Leben lang verfolgten, deuten darauf hin. Dies könnte jedenfalls eine Erklärung für Schelers frühe Abwendung von seiner Mutter und seiner Familie und der in ihr praktizierten Religion bilden.
Offiziell wurde Scheler erst 1899 katholisch getauft, stand dem katholischen Glauben, der in seiner barocken bayerischen Ausprägung im damaligen München allgegenwärtig war, jedoch schon seit seiner Schulzeit nahe. Angeblich waren es Erfahrungen mit Maiandachten, in die ihn Dienstmädchen als Junge mitgenommen hatten, und das dort empfundene warme Gemeinschaftsgefühl, das ihn am katholischen Glaubensleben faszinierte. Dies mochte ihn vor dem Hintergrund der kühlen Familienatmosphäre besonders angezogen haben.
Er galt als begabter, aber fauler Schüler und schaffte mit Mühe 1894 das Abitur am Münchener Ludwigsgymnasium. Kurz danach lernte er auf einer Reise nach Tirol seine spätere Frau kennen, Amélie von Dewitz-Krebs. Sie war sieben Jahre älter als er, hatte eine siebenjährige Tochter und lebte schon längere Zeit von ihrem Mann getrennt. So studierte Scheler zwei Semester Medizin in München, folgte dann aber Amélie 1895 nach Berlin. Dort belegte er hauptsächlich Kurse bei Wilhelm Dilthey und Georg Simmel. Die Idee, Medizin zu studieren, entstammte wohl einem echten Interesse: Er befasste sich sein ganzes Leben lang vor allem mit Fragen der Psychopathologie, kannte viele Mediziner und Naturwissenschaftler persönlich und war gut über den Stand der biologischen und physikalischen Forschung seiner Zeit informiert.
1896 verließ Scheler Berlin, um in Jena bei Rudolf Eucken Philosophie zu studieren.8 Hier erfolgte eine erste produktive Phase seines philosophischen Schaffens. 1899 erschien in der „Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik“ (Bd. 11, 4/2) Schelers erste selbstständige Veröffentlichung, der Aufsatz „Arbeit und Ethik“. 1899 wurde seine Dissertation „Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien“ veröffentlicht, 1900 seine Habilitationsschrift „Die transzendentale und psychologische Methode“. Zentrale Problemkreise der Philosophie Schelers, die dazu führten, dass seine in der frühen Jugend begonnene Annäherung an die katholische Kirche für etliche Jahre mit seiner philosophischen Entwicklung zusammenfloss, lassen sich bis in diese Phase der Frühschriften zurückverfolgen.