Kitabı oku: «Macht und Wort», sayfa 6
Doppelstunde Deutsch, Mittelstufe, Balladen, heute Herder. Einzelstunde Philosophie, Unterstufe, Freundschaft, heute Aristoteles. Vertretungsstunde Oberstufe: »Macht eure Hausaufgaben oder verhaltet euch still, damit ich keinen Ärger bekomme. Und das Fenster bleibt die ganze Zeit offen!«
Zu Hause zog ich die Thrombosestrümpfe aus, legte mich ins Bett und las vorm Einschlafen vermutlich zum ersten Mal in meinem Leben das Märchen von Frau Holle, das sich als unerwartet kurz erwies. Herr Aurels Gerede mit im Mythos verborgenen Zugängen zum Reich der Frau Holle ließ mir keine Ruhe. Nach dem Mittagsschlaf recherchierte ich deshalb bei Wikipedia. Die Heimat des Märchens sei nicht eindeutig festzustellen, da es mehrere Regionen gebe, wo man behauptete, Frau Holle sei in einem der dortigen Hügel oder Berge zu Hause. Danach werden der Hohe Meißner, die Hörselberge sowie die Orte Hörselberg und Hollerich genannt. An solchen Orten müsste man dann wohl nach einem Brunnen Ausschau halten, dachte ich. Nach einem Brunnen in der Nähe eines Holunderbuschs? Plötzlich wusste ich, wo ich das Wort »Krompribb« zum ersten Mal gehört hatte, und erschrak.
Frau Doktor Bishorst: Nicht so schnell, bitte! Wir können gleich weiter über dieses merkwürdige Wort reden, das Sie heute über Gebühr beschäftigt, doch eigentlich hatten wir die Vereinbarung getroffen, in der heutigen Sitzung über Ihre Eltern zu sprechen, um die Erkenntnisse aus diesem Gespräch mit der Tatsache in Verbindung zu bringen, weshalb sie nie, Zitat, »Interesse an zwischenmenschlichen Kontakten« gehabt haben.
Ich: Einverstanden. Ich bin, wie Sie wissen, anfangs bei meinem Vater aufgewachsen. Das war keine schöne Zeit. Entweder hat er mich ignoriert oder wie einen Sklaven behandelt. Meine Mutter? Fehlanzeige. Ich habe keine Erinnerungen an sie. Vater erzählte immer, sie sei kurz nach meiner Geburt verstorben, doch nach seinem Verschwinden fanden Beamte …
Frau Doktor Bishorst: Halten wir kurz inne! Sie haben kürzlich einmal gesagt, dass Ihre Kindheitserinnerungen erst sehr spät einsetzen.
Ich: Stimmt. Erst mit acht oder neun. Ich besuchte schon die Grundschule. Vorhin ist mir im Zusammenhang mit dem Wort »Krompribb« jedoch etwas eingefallen, das sich früher ereignet haben muss. Viel früher!
Frau Doktor Bishorst: Wir wollen gleich wieder auf dieses Wort zurückkommen. Ihre Mutter ist also kurz nach Ihrer Geburt gestorben?
Ich: Hat Vater zumindest behauptet.
Frau Doktor Bishorst: Und Ihr Vater ist wann verschwunden?
Ich: Als ich elf war. Bitteres Lachen. Eigentlich war er nicht weg oder blieb nicht verschwunden, weil ich ihm schon damals erschreckend zu ähneln begann. Sie müssen wissen, dass ich von ihm die großen Zähne und den Hang zur Korpulenz geerbt habe. Ohne das Tennis und die lästige Joggerei wäre ich so beleibt wie er. Mein Vater war so kolossal fett, dass er sich aus seiner Schreibtischplatte eine halbmondförmige Stelle herausfräsen lassen musste, damit er bequem sitzen konnte. Er arbeitete nicht nur am Schreibtisch, sondern aß auch da. Ich musste immer für uns kochen, was ein Euphemismus ist, denn damals war ich nur in der Lage, Fertiggerichte aufzuwärmen, die ich zu allem Verdruss auch noch einkaufen musste.
Frau Doktor Bishorst: Was genau fanden Beamte nach seinem Verschwinden heraus? Welche Beamten waren das überhaupt?
Ich: Sie fanden Papiere, die belegten, dass ich adoptiert war. Und zur zweiten Frage: Ich weiß nicht, um welche Beamten es sich handelte. Ich vermute, welche vom Jugendamt. Aber der Witz ist, was sich bald darauf herausstellte: Die Papiere waren allesamt falsch! Wieso sollte Vater gefälschte Adoptionspapiere aufbewahren? So – jetzt aber! Wissen Sie, was mir vorhin eingefallen ist? Ich muss etwas weiter ausholen. Mein Vater rief mich oft zu sich ins Arbeitszimmer, um mir eine Geschichte vorzulesen. Es war immer dieselbe Geschichte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich ihn mit seiner dröhnenden Stimme meinen Namen rufen hörte und sofort nach oben ins Arbeitszimmer trabte, das ich ansonsten nicht betreten durfte. Dort erwartete er mich, hielt eine blaue Mappe in der Hand und las mir eine Geschichte vor. Eine Science-Fiction-Geschichte. Ich weiß nicht, ob er sie irgendwo abgetippt oder sie selbst geschrieben hat. Ich erinnere mich deutlich, dass es mir sehr wichtig schien, zuzuhören und nicht durch Zwischenfragen zu stören. Da dies das Einzige war, das Vater mit mir zusammen machte, zog ich sogar fast so etwas wie familiäre Normalität daraus. Ich saß auf einem Kissen ans Bücherregal gelehnt, versuchte ein interessiertes Gesicht zu machen und hörte ihm zu, bis er die Mappe zuklappte und in kränkender Beiläufigkeit sagte, während er sich wieder seiner Schreibmaschine zuwandte: »Du kannst jetzt gehen.«
Frau Doktor Bishorst: Und es war immer dieselbe Geschichte?
Ich: Immer. Ich vermute heute, dass es sich um eine Geschichte aus dem sogenannten Goldenen Zeitalter der Science Fiction handelte. Sie hatte nämlich den hemdsärmelig-ruralen Charme, den man etwa von Eric Frank Russell kennt. Extrem vernünftige Fünfzigerjahre-Charaktere und eine in der Regel basale und immer rein männliche Raumschiffbesatzung: Captain, Erster Offizier, Zweiter Offizier, Cheffunker, Bordarzt, Schiffskoch und vielleicht noch der eine oder andere Naturwissenschaftler. Langweile ich Sie? Mir kommt es irgendwie falsch vor, dass wir hier ohne Masken sitzen?
Frau Doktor Bishorst: Das ist in Ordnung. Ich dachte, das hätten wir geklärt. Wir halten Abstand und das Fenster ist geöffnet. Sie haben doch sicher als Erwachsener nach dieser Geschichte Ausschau gehalten?
Ich: Natürlich! Aber ich habe sie nirgends gefunden. Weder bei Russell, noch bei Simak, noch bei van Vogt. Wahrscheinlich hat Vater sie wirklich selbst geschrieben. Aber weshalb? Es passt nicht zu ihm, dass er eine derartige Geschichte schreibt. Seinem Sohn überhaupt etwas vorzulesen, passt allerdings genauso wenig zu ihm. Tiefes Luftholen. Interplanetarische Schatzsucher sind auf der Suche nach einem schweren Kreuzer, der vor über 2.000 Erdjahren in einem wenig beflogenen Sektor am Rande des kartographierten Raums verlorenging. Der Kreuzer unter Befehl eines gefeierten Kriegshelden namens Holberg hatte Waren unfassbaren Wertes an Bord, die Aussteuer einer Seeprinzessin von Sirius etwa, und würde die Schatzsucher zu gemachten Männern machen. Buchstabierend: Ä-n-n-d-ä-w-w-e-r. So hätte ich als Kind den Namen des Raumschiffs geschrieben. Inzwischen weiß ich natürlich, dass das Schiff der Glückspiraten Endeavour hieß. Damals konnte ich ja noch kein Englisch! Sehen Sie, wie tief sich diese Geschichte in meine Gehirnwindungen gegraben hat? Unsere Schatzsucher landen auf einem unbekannten Planeten, wo die Bewohner, die beinahe menschenähnlich sind, eine Gottheit namens Ollback verehren. Als die Schatzsucher eine Statue dieses Gottes gezeigt bekommen, vor der ein eingeborener Hohepriester behutsame, wischende, fast kratzende Handbewegungen macht, platzt es aus dem Ersten Offizier heraus: »Jungs, haltet euch fest! Wir haben tatsächlich die Welt gefunden, auf der Admiral Holberg gestrandet ist. Seht her! Ihr Gott Ollback trägt einen Raumhelm, er hält einen Nadelstrahler in einer Hand und in der anderen einen antiken Kommunikator. Versteht ihr, was hier los ist? Holberg? Ollback? Der Knilch war ein As! Er hat uns eine Spur aus Brotkrumen gelegt. Wir müssen nur rausfinden, wo er sich mit seinem Raumschiff eingeigelt hat.«
Frau Doktor Bishorst: Was meinen Sie mit »eingeigelt«?
Ich: Der Erste Offizier geht davon aus, dass sich der havarierte Holberg, dessen Funkgerät offenbar beschädigt war, in die Kühlkammer seines Raumers gelegt hat, um auf zukünftige Retter zu warten. Und damit diese ihn finden, hat er eine unübersehbare Spur gelegt: eine ganze Religion. Ist das nicht genial? Manchmal habe ich das Gefühl, dass man mich nicht versteht. Nicht weil ich schlauer wäre als alle anderen, sondern weil ich, wie soll ich es ausdrücken, äh … weil ich … äh … andere Dinge weiß. Präastronautik. Cargokult. Eric Frank Russell. Sogleich machen sich unsere Schatzsucher daran, das zentrale Heiligtum des Ollback-Kults aufzuspüren, und in der Tat finden sie nach vielen aberwitzigen Abenteuern –
Frau Doktor Bishorst: Entschuldigen Sie die Zwischenfrage. Was hat das alles mit diesem Wort zu tun, das Sie über Gebühr beschäftigt?
Ich: Mit »Krompripp«? Nicht anders heißt der Planet in der Geschichte. Krompripp. Der Name wird unentwegt erwähnt. Nach vielen Abenteuern, mit denen ich Sie hier nicht langweilen will, obwohl sie mich als Kind begeisterten – und wenn ich ehrlich bin, tun sie es noch heute –, stoßen sie im Dschungel auf das zentrale Heiligtum des Kultes und dort finden sie unter einer romanischen Kuppel aus poliertem Holz den verschollenen Kreuzer, einen spindelförmigen Raumer mit arg zerschrammter Außenhaut, moosüberwuchert und mit bunten Tüchern geschmückt. Nun ja … Am Ende der Geschichte erreichen die Helden die Kühlkammer, wo auf einem Podest altargleich eine einzige Tiefschlaftruhe steht, und darin liegt Admiral Holberg höchstpersönlich, wie der Bordarzt mit einem Aufschrei des Entzückens feststellt, nachdem er – wie Generationen von Priestern des Ollback-Kultes vor ihm – auf Kopfhöhe das Eis vom Sichtfenster gewischt hat …
Die maskierten Menschen auf den Bürgersteigen, an den Fahrbahnübergängen, den Bushaltestellen, bildeten einen schmerzhaft verstörenden Kontrast zur Farbenpracht des Oktobertages. Noch trugen die meisten Bäume ihr Kleid, kaum buntes Laub bedeckte den Boden, und die Stadt überwölbte ein aus sich selbst heraus strahlender hellblauer Kinderbuchhimmel. Auf der Heimfahrt von der Sitzung kam mir ein naheliegender Gedanke und zu Hause setzte ich mich gleich an den Rechner, gab – wieso war ich nicht vorher darauf gekommen? – Krompripp ein und wurde tatsächlich fündig. Und zwar, was mich nur gelinde erstaunte, auf der Homepage eines Heimatforschers, der in erbsenzählerischer Manier Wüstungen in Schleswig-Holstein auflistete und mit Erklärungen versah: Ollerloh, Wüstenfelde, Bunebutle, Ekenhorst und, mir stockte der Atem, Krompripp. Ehe ich den Eintrag zu Krompripp las, recherchierte ich erst einmal, was genau ich unter Wüstungen zu verstehen hatte, und fand heraus, dass es sich bei einer Wüstung um eine ehemalige Siedlung oder Nutzfläche (Weide, Feld, Acker) handelt, an die nur noch »Urkunden, Flurnamen, Relikte im Boden, sichtbare Ruinen oder örtliche mündliche Überlieferungen erinnern«. Ich klickte zurück auf die Seite des Heimatforschers, wohl einem Oberstudienrat im Ruhestand, und las halblaut, denn nun war ich doch aufgeregt: Krompripp ist eine spätmittelalterliche Ortswüstung im Dänischen Wohld, der früh besiedelten fruchtbaren Halbinsel zwischen der Eckernförder Bucht und der Kieler Förde. Der Ort Krompripp befand sich wenige hundert Meter südlich des heutigen Krusendorf (Schwedeneck). Der Ortsname deutet auf eine sehr frühe, vermutlich vorslawische Entstehung hin. 1231 ist erstmals bezeugt, dass der Ort Krompripp als dem verrufenen Kirchenspiel Flidarhöh zugehörig betrachtet wird. Plötzlich und wie üblich ohne Vorwarnung kündigte sich eine meiner üblichen Unpässlichkeiten an (Taubheitsgefühle in Finger- und Zehenspitzen) und ehe ich mir eine Kanne Kräutertee kochte, recherchierte ich noch, einem vagen Impuls folgend, zu Frau Holle (Taubheitsgefühle in Händen und Füßen) und stieß auf Hel, eine altnordische Göttin, die Herrscherin der Unterwelt, Helheim genannt … hell (englisch) … Hölle (deutsch) … taube Arme … Holle … taube Beine … Holunder … Kanne Tee, heißes Schaumbad, Weinkrampf, Bett.
Die nächsten Tage hatte ich mit diversen Problemen zu kämpfen (einige körperlich, andere psychisch) und es begann windig zu werden und die Temperaturen sanken und die Bäume warfen ihre Blätter ab und die plötzlich kahlen Äste verrenkten sich in bedrohlicher Nacktheit vor einem Licht, das schon die tiefe Klarheit des Winters ahnen ließ. Ich schlief viel. Manchmal legte ich mich nach der Schule zu einem Mittagsschlaf hin und stand erst am nächsten Tag wieder auf. Einmal bettete ich mich in einer Freistunde zu einem Nickerchen im Kartenraum der Geographen und erwachte erst am folgenden Tag vom Gong der Großen Pause.
Ich: Er hat mir das Wort »Krompripp« regelrecht eingeimpft.
Frau Doktor Bishorst: Das scheint so. Durch diese Geschichte, die er Ihnen immerzu vorlas. Haben Sie sich deshalb vor einigen Wochen als, ich zitiere Ihre eigenen Worte, »Automaten meines Vaters« bezeichnet?
Ich: Das müssen Sie bitte als Metapher verstehen. Ich musste einkaufen, kochen, die Hausarbeit verrichten, wie einen Sklaven hat er mich behandelt, einen Sklaven, dem er, wenn er seinen Zorn auf alle Welt zügeln konnte, immer wieder die ein und dieselbe Geschichte vorlas. Das bedrückt mich natürlich. Und mich bedrückt, wenn wir gerade dabei sind, der derzeitige Zustand der Welt, dieses Kulissenhafte, das plötzlich überall Einzug hält. Einem Kollegen habe ich gestern gesagt, Schulbetrieb zu Pandemiezeiten sei, als würden die Monty Pythons Camus’ Pest verfilmen, aber er, mein Kollege, kannte die Monty Pythons nicht. Und Camus, so wie der Kollege mich ansah, auch nicht. Im Mythos von Sisyphos heißt es, ich zitiere aus dem Gedächtnis: Alle großen Taten und alle großen Gedanken haben einen lächerlichen Anfang. Ich stehe, was dieses Zitat von Camus mehr als nur perfekt bebildert, im Unterricht, denke mir ein Wort aus, denke mir nur scheinbar ein Wort aus, denn ich kenne es seit meiner Kindheit, kenne es nämlich aus einer Geschichte, mit der mich Vater malträtierte, das Wort, ich kenne es längst, denke es mir demnach nur scheinbar aus, in Wahrheit erinnere ich mich an ein Wort, das es gibt und das sich sogar googlen lässt, um sich als Name einer verschwundenen Siedlung nicht unweit von der Stadt zu erweisen, wo ich lebe. Ich habe im Waisenhaus oft an Krompripp gedacht. Das ist mir gestern in der Badewanne eingefallen. Nicht an das Wort, meine ich, sondern an den Planeten Krompripp, wo ich lieber atemberaubende Abenteuer erlebt hätte, als Nacht für Nacht –
Frau Doktor Bishorst: Sprechen Sie weiter!
Ich: Als Nacht für Nacht – einmal durchqueren die Schatzsucher in den Eingeweiden eines glasigen Schneckenwesens einen Ozean. Und einmal kocht der Schiffskoch Gulasch aus dem Fleisch eines mehrbeinigen Säugetiers und danach ist die ganze Mannschaft dieses Säugetier. »Gut«, sagt der Cheffunker erleichtert, sobald die Mahlzeit endlich verdaut und ausgeschieden ist, »dass ich nun wieder auf zwei Beinen gehen kann und Zweibeinererinnerungen habe und nicht unentwegt daran denken muss, ein sich blökend windendes Hohlstück in ein Gramploch zu zerren, um meine Eier hineinzulegen.« Verlegenes Lachen. Ja, ich kann große Teile der Geschichte auswendig. Darauf könnte ich stolz sein, bin es aber nicht. Mit Gefühlen ist das sowieso so eine Sache, aber darüber haben wir ja schon mehrmals geredet. Ich weiß, wie das Gefühl heißt, das ich haben sollte, kann es also benennen, aber die Fähigkeit, ein Gefühl benennen zu können, ist nun einmal kein echtes Fühlen. Und jetzt ist Schluss. Ich glaube, ich möchte die Behandlung abbrechen. Das führt zu nichts. Brechen wir hier bitte ab. Ich möchte ganz einfach wieder zurück nach Hause.
Wer im Frühling nach Kiel zieht und sich den ganzen Sommer über freut, nun endlich dort zu wohnen, wo andere Leute Urlaub machen, empfindet das Einsetzen des Herbstregens wie eine persönliche Beleidigung, doch wir, die wir hier aufgewachsen sind und natürlich die Ostsee niemals ein Meer nennen würden, registrieren lediglich mit stoischer Ernüchterung, dass es nun zu regnen begonnen hat, um einige Monate lang nicht mehr damit aufzuhören. Im Radio debattierten sie über die Notwendigkeit eines zweiten Lockdowns, ich kaufte ein weiteres Zehnerpack Masken in der Apotheke und fuhr durch eine Szenerie nach Hause (schräg fallender Dauerregen, Menschen mit Masken, fahles Licht, das anscheinend von unten kommt), die an verworren systemkritische, hypnotisch langatmige Ostblock-Science-Fiction-Filme aus den siebziger Jahren gemahnte. Das rhythmische Rucken des Scheibenwischers erinnerte mich an die kultische Bewegung, die in Vaters Geschichte motivisch eingesetzt wird, und diese Erinnerung an ein Wischen oder besser an ein Schaben oder vielmehr Kratzen (Eisflocken rieseln weiß wie Puderzucker und unter dem gewölbten Sichtfenster sieht man den Admiral im Kälteschlaf) ließ einen Plan keimen. Dieser wuchs in Windeseile und trug schließlich, ich parkte den Wagen gerade routiniert unter dem Holzdach des Carports, die Blüte eines Entschlusses, den ich schon viel früher hätte fassen müssen. Doch noch zögerte ich.
Am nächsten Tag meldete ich mich krank, verbrachte den Vormittag im Bett, las – von zwei erholsamen Nickerchen unterbrochen – zum wiederholten Mal meine Lieblingsnovelle von Gene Wolfe und fand sie ein weiteres Mal erheblich besser als bei der vorherigen Lektüre, hatte aber dieses Mal das kribbelnd-juckende, an eingegipste Extremitäten erinnernde Gefühl, der Text versuchte mir unter der pittoresken Oberfläche (»Und während dieser ganzen Zeit sprach der Tote am Steuerrad zu mir«) sowie jenseits der verzwickten Handlung etwas Dringliches mitzuteilen, das, verstünde ich es, mein Leben verändern würde. Gegen drei Uhr nahm ich ein Bad und kochte sodann mit Vergnügen einen Steckrübeneintopf.
Eine Hälfte davon löffelte ich im Sessel vor dem Fernseher (»Schulen und Kitas werden weiter geöffnet bleiben«), die andere Hälfte kam ins Eisfach.
Gegen fünf fuhr ich zur Wüstung Krompripp.
Von Kiel aus nahm ich die B 503, überquerte auf der Hochbrücke Holtenau den Nord-Ostsee-Kanal, kurvte vor mich hinsummend und -pfeifend durch den herbstlichen Dänischen Wohld, verließ die Schnellstraße auf Höhe von Surendorf und bog sogleich scharf links ab in Richtung Krusendorf, um mit andächtiger Ehrfurcht eine malerische Allee zu befahren, die Böcklin nicht hätte besser malen können – rechts von mir die Eckernförder Bucht bisweilen blau aufblitzend über dem Festland, links gepflügte Felder, Weiden mit Jungbullen und Schafen, an einem Tümpel ein Graureiher.
Ich parkte in der Nähe der alten Kirche, einem klobigen Gebäude aus Backstein, dessen Farbe fast identisch mit der Blätterpracht der Bäume auf dem Kirchhof war oder auch dem Pelz des Eichhörnchens, das mit antennengleich aufgerichteten Pinselohren meinen Weg kreuzte, als ich einige Meter die dörfliche Raiffeisen Straße entlangging, ehe von ihr ein namenloses Sträßlein abzweigte, das mich erst über eine kaum befahrene Schnellstraße zu mit niedrigen Zäunen eingefriedeten Äckern, dann durch unbebautes Niemandsland zum Gelände der Wüstung Krompripp führen würde, laut Google Maps einem winzigen Wäldchen zwischen den zur Gemeinde Schwedeneck gehörenden Örtchen Krusendorf und Birkenmoor.
Es nieselte leicht, ich setzte die Wollmütze auf, ein kühler Wind schlug mir von hinten in den Mantelkragen, kühl und beinahe süßlich nach Vanille duftend, die Ostsee. Auf einem Granitblock am Rand des Feldweges hockte ein Habicht und verfolgte mein zügiges Vorübergehen mit einem annähernd mechanischen Drehen des Kopfes. Plötzlich wurde der Weg wieder zur asphaltierten Straße und ich näherte mich einem offenbar militärischen Sperrbezirk: Das winzige Wäldchen, wo ich die Wüstung Krompripp vermutete, umschloss ein bemerkenswert hoher, mit Stacheldraht gekrönter Zaun. Ich verlangsamte den Schritt, sah, dass es kein normaler Stacheldraht war, was auch irritierend gewesen wäre, sondern sogenannter NATO-Klingendraht, was mir Angst einflößte, doch ich marschierte, obwohl ich am liebsten zum Auto zurückgegangen wäre, zielstrebig, denn was hätte ich ansonsten tun sollen, auf das geöffnete Tor zu, das zwei bewaffnete Gestalten versperrten.
Sie trugen braune Brustpanzer aus lederähnlichem Material und schwarze Helme aus Metall, die historisch wirkten. Die Visiere aus gelblichem oder mit den Jahren gelblich gewordenem Glas waren hochgeklappt.
Im Näherkommen fummelte ich die Maske aus der linken Gesäßtasche.
Die Soldaten salutierten und der Dicke sagte lachend: »Die brauchen sie nicht. Wir bilden nun wirklich eine Kohorte.«
Und der andere, der noch dicker war, salutierte erneut und echote: »Nein, die brauchen Sie nicht. Was ist das für ein herrlicher Tag!«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich, wobei ich die Maske wieder in die linke Gesäßtasche stopfte (links, denn rechts steckt der Geldbeutel).
»So, wie ich es gesagt habe«, sagte der Dickere.
»Sie reden aber nicht über das Wetter?«, vermutete ich.
»Kommen Sie mit!«, sagte der Dicke und seine Stimme bebte dabei, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Wir bringen Sie zum Schiff.«
Die beiden traten schwungvoll zur Seite, ließen mich passieren, schlossen sich mir an. »Es ist nicht weit«, sagte der Dickere freundlich, nachdem er das Tor hinter uns verschlossen und verriegelt hatte.
Ein geschotterter Weg führte erst durch morastiges Brachland, dann einen grasbewachsenen Wall hinauf, der an den Kraterrand eines Vulkans erinnerte. Von oben blickte man in eine Senke hinab, auf deren Grund ein spindelförmiges Raumschiff lag. Es war uralt. Die Außenhaut bestand aus rostigem dunklem Stahl und war narbig und verschrammt, als hätte das Schiff Jahrhunderte auf dem Buckel. An manchen Stellen war es mit kupferfarbenen Platten ausgebessert, die aufgrund ihrer Unversehrtheit wie aufgenietete Pflaster aus Metall aussahen.
»Da ist es!«, entfuhr es dem Dicken ehrfürchtig.
»Das sieht er doch selbst«, sagte der Dickere und sie führten mich an der anderen Seite des Walls eine behelfsmäßige Bohlentreppe hinab.
An der Hauptschleuse blieben Sie stehen.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Sie finden den Weg zur Brücke allein.«
»Wieso sollte ich den Weg finden können?«, fragte ich.
»Er kennt den Weg nicht!«
»Folgen Sie einfach den Stimmen, wenn Sie den Weg nicht mehr kennen!«
Und in der Tat fand ich den Weg zur Brücke mit traumwandlerischer Sicherheit, einem kreisrunden Raum, dessen Decke ein gigantisches, schartiges, nach oben gewölbtes Bullauge bildete, das ein mit mächtigen Nieten besetzter Stahlring umfasste. Unter der Kuppel des Bullauges saßen an einem runden Tisch aus tiefbraunem Holz vier sehr beleibte Männer. Sie trugen, was mir schockierend falsch vorkam – fast obszön zu diesen Zeiten, keine Masken. Vor jedem Sitzplatz war ein Halbrund aus der Tischplatte gefräst, damit sie bequem sitzen konnten. Ein Platz an der Tafel war noch frei. Auch hier gab es diese ausgefräste Stelle, aber ich würde sie noch nicht mit meinem Bauch füllen können, wusste aber, dass dies nur noch eine Frage der Zeit war.
Die Männer verstummten, kaum dass ich die Brücke betreten hatte, und erhoben sich langsam und ehrfürchtig.
Sie applaudieren zu hören, hätte mich nicht gewundert.
Zwei der vier erhoben Gläser mit dunkelrotem Inhalt.
Einer, dessen Gesicht etwas Nagetierhaftes hatte, sagte: »Kapitän!«
Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als versuchte mir jemand, der hinter einer Milchglasscheibe steht, etwas Überlebenswichtiges mitzuteilen.
»Bitte?«, fragte ich, und da sprach der Navigator den Satz aus, der alles freisetzte, und es war, als würde die Welt flüssig werden und begänne zu strömen und mit dem schießenden Wasser packte mich eine Erinnerung. Ich saß im Arbeitszimmer. Ich war Vater. Ich hatte einen mächtigen Bauch, da Warten hungrig macht. Ich stand auf und ging nach unten in den Keller zu den Kühlkammern meiner Klone, wischte den gefrorenen Reif mal von dem einen, mal von dem anderen Sichtfenster und entschied mich schließlich für denjenigen Klon, der sich in den letzten Wochen als der Geeignetste erwiesen hatte. Sodann leitete ich den Weckprozess ein und ging zurück ins Arbeitszimmer. Nach einer guten halben Stunde rief ich ihn nach oben und las ihm die Geschichte mit dem Schüsselwort vor, einem Schlüsselloch für den im Bordbuch aufgezeichneten Schlüsselsatz, den auszusprechen traditionell dem Navigator oder dem Klon des Navigators oblag.
»Kapitän«, sagte der Erste Offizier in einer Sprache, die ich so lange nicht mehr gehört hatte, dass es war, als käme ich endlich nach Hause, und dann ergänzte er, wobei sich alle bedeutungsvoll ansahen, »wir sind flugbereit.«
»An Bord und Herr meiner Sinne«, entgegnete ich, indem ich ebenfalls aus der Sprache der hiesigen Eingeborenen in unsere Sprache wechselte, ein vertrautes und erhabenes Medium, dass mehr Handeln als Sprechen ist.
Alle lachten erleichtert, schlugen sich, soweit es ihre Körperfülle zuließ, auf die Schultern, und in das aufbrandende Gelächter hinein (die Formulierung, die ich verwendet hatte, nahm, nebenbei bemerkt, Bezug auf eine uralte Anekdote) sagte ich ebenfalls lachend (und dies war der Schlüsselsatz, den ich allein kannte, für das Schiff): »Wir nehmen uns das, was uns gebührt.«
Ein heiseres Summen kündigte ihr Erwachen an und ich setzte mich zur Mannschaft und nahm das mir gereichte Glas. »Da nun alle eingetroffen sind, sollten wir unverzüglich mit den Startvorbereitungen beginnen.«
Ich lasse den Füllfederhalter sinken. Und hier endet die Geschichte. Üblicherweise schreibe ich meine Texte zuerst von Hand als Rohentwurf, um sie danach abzutippen. Doch diesmal habe ich auf den handschriftlichen Entwurf verzichtet und gleich getippt. In einer Geschwindigkeit, als hätte ich mir nichts ausdenken müssen. Krompripp, Frau Holle, der Holunder, Krusendorf im Dänischen Wohld. Und hier beginnt die Geschichte.
Ich verlasse den Schreibtisch und stelle mich im Badezimmer vor den Spiegel. Es erfüllt mich mit nachsichtigem Staunen, nicht die großen Schneidezähne meines Helden zu besitzen. Krompripp, Frau Holle, der Holunder … Meine Augen weiten sich in plötzlichem Verstehen: Ich schreibe nun seit Jahrzehnten, aber nun weiß ich endlich, weshalb.
»Mutter!«, sagt mein Held in einer Sprache, die mir vertraut ist, obwohl ich sie bis heute nie zuvor gebraucht habe, und die Glocke aus Daten stülpt sich über sein Denken wie eine Qualle aus schierer Erkenntnis.
Die Reparaturen, weiß ich, sind erfolgreich durchgeführt und nach all den Jahrhunderten, dieser schmerzhaft zäh fließenden Zeit wie aus mit Asche bestäubtem flüssigem Harz, sind wir endlich wieder startbereit.
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