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ǢMAITJŌN – SCISSORS 4.0
von Rainer Schorm

»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Ludwig Wittgenstein »Tractatus logico-philosophicus« (1921/22)

Am 05. Mai 2041 wurde die Unterstützung für das Sprachsystem Scissors 2.0 endgültig beendet. Die Medialität hielt den Erregungsquotienten niedrig. Die Nachricht ging, wie gewünscht, im Medienrauschen unter. Der Prozess von Abonnent 85.396.448 ist idealtypisch und wird deshalb protokolliert und archiviert.

Bilanz des Korrektivs

Sprechwart G. Herlinger

SCS-Abonnent 85.396.448, Eigenname Schlesinger, Rudolf. Protokoll 05. Mai 2041. 09:15 Uhr

Frühstück war in Ordnung. Die perfekte Balance zwischen Proteinen, Fetten und Kohlehydraten. Der Kühlschrank muss einige Tofunarien nachbestellen.

Dennoch: Etwas fehlt. Ich kann auf Anhieb nicht sagen, was es ist. Das eigenartige Gefühl macht sich seit dem Aufwachen heute Morgen breit, eine Unsicherheit, die mir bis dahin völlig unbekannt war. Ein eigenartiges Gefühl … oder ein Nicht-Gefühl? Ich kann es nicht näher beschreiben. Ob ich krank werde? Ich könnte mir etwas eingefangen haben.

Heute bin ich froh, dass ich von zu Hause aus arbeiten kann. Online-Expertise hat seit den zwanziger Jahren exponentiell zugenommen. Es ist eine Art der Isolation, aber gerade an Tagen wie diesem, empfinde ich das als angenehm.

Die Gespräche fühlen sich … holprig an. Die Kommentare des mLectors sind wie immer, aber es scheint Abstimmungsprobleme zu geben. Es sind nur Kleinigkeiten. Vielleicht sollte ich eine Dependance des CSC aufsuchen. Das Center for Speech Control ist nicht unbedingt in der Nähe, also verschiebe ich das. Wahrscheinlich bin ich einfach nicht ganz auf der Höhe. Das soll bei höherem Alter vorkommen. Ich bin weder fiebrig, noch zeige ich andere Symptome, also vielleicht ist das die Erklärung.

Das Gefühl verstärkt sich den ganzen Tag über. Erst als ich die Kommunikation einstelle, legt sich die unerklärliche Nervosität.

SCS-Abonnent 85.396.448, Eigenname Schlesinger, Rudolf. Protokoll 06. Mai 2041. 07:23 Uhr

Es ist nicht vorüber. Ich fühlte es sofort, als ich aufwachte; eine Art Leere, die um sich greift.

Das Update! Die Aktualisierung des Compendiums ist ausgeblieben, deshalb gestaltet sich meine Kommunikation, mein Sprechen derart holprig. Ich bin nicht mehr up to date.

Es war ein Schock.

Plötzlich und ohne jede Vorwarnung ins Ungewisse gestoßen zu werden, damit hat niemand gerechnet – ich zuallerletzt. Ich gehe die Arbeit voller Unruhe an und sie verschwindet nicht.

Die beruflichen Gespräche sind zumeist unproblematisch. Ich verkneife mir jeden Kommentar, der über das Sachliche hinausgeht.

Die privaten Gespräche sind eine Katastrophe. Ich habe krampfhaft versucht, die Korrektiven umzusetzen. Sprache formt die Realität – davon ist jeder überzeugt, der guten Willens ist. Wie könnte es anders sein? Meine Unzulänglichkeit wurde mir mit jedem Satz schmerzlicher bewusst. Ohne aktuelles Compendium muss der mLector mit veralteten Sprachkorrektiven arbeiten. Bereits nach einem Tag sind die Diskrepanzen gewaltig. Das Compendium for Speech Control wird vom CSC ständig aktualisiert, damit jeder Abonnent die neuesten Korrektiven kennt und reibungslos und ohne Diskriminatoren sprechen kann. Das CSC ist eine spezielle Abteilung des Korrektivs, die Behörde, die aus dem im Jahre 2028 verstaatlichten Duden-Verlagskonglomerat hervorging.

Nun kann jeder Begriff ein Falschwort sein. Normalerweise geschieht die Aktualisierung einmal, in Notfällen zweimal am Tag. Etwa wenn das Korrektiv nicht nur Begriffe, sondern ganze Beziehungszusammenhänge als schädlich einstuft. Ich habe das zweimal erlebt: Das Chaos im Kopf war grandios. Jetzt sehne ich mich geradezu danach.

Zunächst glaubte ich an ein technisches Problem. Wenn Warteschleifen entstehen, habe ich ganz sicher keine Priorität. Das beweist schon meine Abonnentennummer. Ich bin einer von vielen … von sehr vielen. Technische Systeme können ausfallen, das ist eine Binsenweisheit. Dennoch: Diese Möglichkeit nimmt niemand ernst. Man verdrängt es.

Ich sollte mir keine Sorgen machen. Solche Dinge sind lästig, aber werden schnell behoben. Die Unsicherheit ist überschaubar und bringt einen selten in Schwierigkeiten. Das Center for Speech Control bietet für diesen Fall Rechtsschutz – bis zum nächsten Update.

Das Compendium muss selbstverständlich aktuell sein. Kein Mensch könnte all die Stolperstricke, die die Sprache bereithält, vermeiden. In Sprache stecken viele tausend Jahre überkommener Sprachbilder, Diskriminierungen und unakzeptabler Wertungen. Die neue Welt ist schöner ohne all das. Oder kam mir das nur so vor?

Wie auch immer: Der Ausfall ist eine Katastrophe.

Sprechisolation!

Und nun … bin ich abgeschnitten. Ganz einfache Dinge werden übergangslos sehr kompliziert und unberechenbar.

Ich hatte vor, einkaufen zu gehen. In der Vichy-Straße befindet sich ein Fairsell, mein bevorzugtes Lebensmittelzentrum. Seit Langem wird diskutiert, ob der Straßenname, der für das mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regime steht, geändert werden muss. Eine Entscheidung ist bisher nicht gefallen, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Frankreich hat sich trotz diplomatischen Drucks geweigert, die Stadt komplett umzutaufen. Es hat Frankreich moralisch diskreditiert. Der Druck, kommunal zu reagieren, stieg danach. Der Streit bezieht sich nicht darauf, ob man den Namen ändert, sondern um die Neubenennung. Jeder Vorschlag wird auf Belastungen abgeklopft. Das Problem ist, dass die Historie an sich belastet ist, da sie unsere moralischen Standards nicht einmal annähernd erfüllt. Das Risiko, eine aktuelle Person als Namensgeber zu wählen, ist naturgemäß sehr groß, da zukünftiges Wohlverhalten nicht vorausgesetzt werden kann. Menschen können sehr schnell toxisch werden – und keineswegs nur Männer.

Normalerweise würde mir das Compendium bereits beim Denken des Straßennamens einen Hinweis geben, um Kontaktschuld vermeiden zu können. Ich wäre automatisch auf dem neuesten Stand. Alle offiziellen Stellen sind vernetzt, und das betrifft uns Sprachbürger gleichfalls.

Aber ich weiß nichts.

Nichts!

Die Gefahr ist nicht sehr groß, ich weiß, Benamungen der Umgebung haben ein geringes Belastungslevel. Was mich umtreibt, ist das Wissen, dass ich nicht gewarnt werden würde, sobald die Toxizität steigt. Das kann sehr schnell geschehen. Es ist Angst vor der Angst.

Ich entscheide mich, umzukehren und nach Hause zu gehen. Ein junger Kerl rempelt mich an. Aus leblosen Karpfenaugen mustert er mich, als könne er meine Unsicherheit fühlen. Junge Leute sehen seit Längerem so aus, warum auch immer. Vielleicht hat sich in den Köpfen zu viel Mikroplastik abgelagert? Ich habe es bisher immer ignoriert. Es kommt mir vor, als sei das nicht mein Entschluss gewesen. Wie komme ich nur auf eine solche Idee? Die Unruhe in mir wächst und wächst. Bald wird daraus eine handfeste Panik werden. Das ist momentan die einzige Sicherheit, die ich habe.

Der Himmel ist wolkenlos. Die Unendlichkeit dahinter macht mir Angst.

SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 07. Mai 2041. 07:35 Uhr

Die Nacht war furchtbar. Ich habe versucht, mir Informationen zu besorgen. Natürlich unterliegen viele Quellen der #Fragwürdigkeit#, weil ihr inhaltlicher Tenor nicht erwünscht ist. Gegenströmungen verlangsamen den Fortschritt, und das ist unakzeptabel. Sie auszumerzen, ist bisher nicht komplett gelungen. Das Netz bietet unverändert einige Nischen und Freiräume, aber man hat es geschafft, diesen Reaktionären die Geldmittel und Werbeträger weitgehend abzugraben. Auf jeden Fall gibt es keine Möglichkeit, das aktuelle Compendium individuell zu laden. Das ist nicht vorgesehen. Ich schweife ab … meine Konzentration ist hinüber.

Ich fand nichts. Keine Nachricht, keine Information darüber, dass das CSC Schwierigkeiten haben könnte oder dass das Compendium nicht mehr aktualisiert würde. Es ist alles in schönster Ordnung, wie es scheint.

Das Update bleibt unverändert aus. Es fällt mir immer schwerer, an eine technische Störung zu glauben.

Ich sollte ein wenig schlafen und kann es nicht. Meine Gedanken kreisen wie wild, auf Bahnen, die beunruhigend sind. Mein Denken gerät außer Kontrolle.

SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 08. Mai 2041. 10:48 Uhr

Ich habe mit Frank gesprochen, ohne ihn direkt zu fragen. Bereits der Verdacht, man sei kein #Comrade# mehr, ist schwerwiegend. Leute brechen den Kontakt bereits aus sehr viel geringeren Anlässen ab. Nähe kontaminiert. Er wirkt ebenfalls nervöser als sonst, aber das könnte ich mir selbstverständlich einbilden.

Ich weiß nicht, mit wem ich darüber reden könnte. Jüngere Leute habe ich nicht in meiner Bekanntschaft. Den Großteil dessen, was sie von sich geben, verstehe ich nicht. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Zudem ist der trübfischige Blick unangenehm.

Meine Vorräte werden knapp. Allzu häufig sollte man sich nicht beliefern lassen; die Logistikunternehmen und Bringdienste stehen unter argwöhnischer Beobachtung. Vieles wird durch Häufung umweltschädlich. Ich muss also vorsichtig sein. Es ist perfide: Ich traue mich nicht aus dem Haus. Die Gemeinschaft, die doch angeblich Geborgenheit schenkt, ist zur Bedrohung geworden. Meine Welt steht kopf.

Begegne auf dem Weg in den Keller einem Nachbarn. Wir wechseln kein einziges Wort.

SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 09. Mai 2041. 10:27 Uhr

Bereits vier Tage!

Unverändert kein Update. Eine beängstigende Sicherheit macht sich in mir breit: Mein System wird nicht mehr unterstützt. Kann das sein? Das bedeutet, dass die Formulierungskomponente nicht auf dem neuesten Stand ist und das dauerhaft. Die Wortwahl unter Scissors 2.0, also den verbindlichen Vorgaben des CSC, des Center for Speech Control, wird in Echtzeit kontrolliert und bereits bei der Formulierung kritisiert.

Als unerwünscht erfasste Begriffe werden vom mLector, einem überaus komplexen Sprechalgorithmus, vor der Artikulation ausgebremst. Das funktioniert über eine neuronale Kopplung des CSC-Links zum Index im Gyrus temporalis medius. Im Sprechzentrum bauen Nanomaschinen eine Schnittstelle auf. Ich versuche, mir die Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Scissors 2.0 läuft bereits seit über zwanzig Jahren. Viele der Funktionen und Algorithmen habe ich vergessen. Die AGBs allemal. Ich frage mich, ob sie überhaupt jemand jemals durchgelesen und verstanden hat.

Meine Unzulänglichkeit hat dazu geführt, dass ich mich mehr mit dem System beschäftigt habe als jemals zuvor in meinem Leben. Es war immer da und es hat immer funktioniert

Das Problem ist, dass der mLector die Begriffe kommentiert, gleichgültig, ob ich rede oder nicht. Ich bin zunehmend unsicher und vermeide es, zu sprechen. Keine Speechcoms, keine direkten Anrufe. Ich beschränke mich auf schriftliche Kommunikation – wobei ich die Texte zum einen deutlich kürzer halte als sonst und sie zweitens etliche Male kontrolliere. Noch stärker lassen sich die Sätze nicht reduzieren, sonst lande ich bei ein oder zwei Worten. Als ob sich damit etwas Wesentliches sagen ließe. Es fühlt sich an, wie ein immaterieller Maulkorb; unangenehmerweise bin ich bei dieser Metapher der bissige Hund. So fühle ich mich ganz und gar nicht. Ich bin verängstigt und unsicher. Also spreche ich immer weniger.

Eine Mute-Taste fürs Denken; es schadet dem Selbstbewusstsein unglaublich.

Ich stehe im Hausflur und schaue mich um. Auch das ist auffällig: Ich habe das unangenehme Gefühl, dass mich alle anderen beobachten. Bizarrerweise sogar dann, wenn niemand zugegen ist.

Manchmal stelle ich mich in die geöffnete Tür, wenn jemand nach Hause kommt. Viele Bewohner haben den eigenartig fischigen Blick. Es fällt mir erst jetzt auf, dass beinahe alle deutlich jünger sind als ich. Es ist unangenehm, so angeschaut zu werden. Das war es immer, aber erst jetzt beginne ich, darauf zu achten.

Ich versuche mich damit zu beruhigen, dass ich mir selbst eine Paranoia attestiere. Netter Einfall! Funktioniert dummerweise nicht.

Derart isoliert zu sein ist bedrohlich. Ich schwitze häufig ohne Grund und dann rast mein Herz, wie nach einem Lauf. Ich bin sehr lange nicht mehr gelaufen. Die Jahre fordern ihren Tribut. Körperlich könnte ich es wohl, aber mir fehlt die Energie.

Dieser Wohnblock hat jetzt etwas von einem Gefängnis; nach über zwanzig Jahren, die ich hier lebe. Es ist ein wenig, als bewege man sich in einer labyrinthartigen Ansammlung übermannshoher Monolithe. Zu groß, um darüber hinwegschauen zu können, kein erkennbarer Horizont. Und obwohl es nur einzelne Steine sind, die eng beieinanderstehen, ist man allein zwischen ihnen und verloren. Man nimmt sonst niemanden wahr, gleichgültig, wie viele sich noch durch diesen Irrgarten bewegen.

Die Vereinzelung, die daraus resultiert, macht mir zu schaffen.

Die Desorientierung nimmt zu. Essen muss ich trotz allem. Dass Einkaufen einmal zur Mutprobe werden könnte, hätte ich niemals vermutet. Es ist längst nicht mehr nur der toxische Straßenname. Mein Hals wird eng.

Dort draußen muss man sprechen …

SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 09. Mai 2041. 00:27 Uhr

Ich kann nicht einschlafen. Meine Gedanken schwirren wie wild durch meinen Kopf, ebenso wild kommentiert vom Compendium. Im Zustand des Dösens kann man Gedanken nicht im Zaum halten. Es ist erschreckend, wie unkorrekt man denkt, wenn die Schutzwälle des CSC in sich zusammenbrechen. Die ungezügelte, überkommene Natur meldet sich zu Wort – und diese Worte sind … böse!


Man sollte denken, wir hätten das überwunden. Aber dem ist nicht so.

Langsam frage ich mich, ob nicht bereits die Annahme, man könne die reale Natur – wie die Hirnfunktion etwa – überwinden, der eigentliche Fehler ist. Es klingt so … unsinnig. Kann man Hunger überwinden? Verdauung? Stoffwechsel? Sex? Das Atmen? Aber das ist Biologismus und damit unakzeptabel. Aber ist das nicht genau das, was wir sind, wenn man uns isoliert? Ich versuche mir vorzustellen, was bleibt, wenn man uns unsere Biologie wegnähme. Versuche erneut, einzuschlafen.

Morgen muss ich nach draußen …

SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 07:58 Uhr

»He, Sie! Was fällt Ihnen ein?«

Die Frau zuckt zurück, als habe sie eine elektrische Leitung berührt. Es ist eng hier, im Feierabendverkehr ist die Magnetbahn komplett überfüllt. Seit den Tagen der Pandemie reagieren viele Menschen auf Nähe sehr extrem. Insofern ist der öffentliche Nahverkehr eine Art Kriegsgebiet. Ich zucke ebenfalls zurück. Eine instinktive, aber keine kluge Reaktion … eher ein Schuldeingeständnis. Ich vermute richtig.

»Nehmen Sie Ihre Griffel weg!«

Ich beiße mir auf die Lippen. Bereits das ist ein körpersprachlicher Fehler, ich weiß. Bloß nichts sagen. Auf keinen Fall.

Habe ich sie etwa berührt? Ich erinnere mich nicht daran, etwas gespürt zu haben, aber auf meine Einschätzung kommt es nicht an. Außerdem bin ich übermüdet, wie ich es nie zuvor war. Alles in mir ist in Alarmbereitschaft, ich fühle mich fiebrig. Es war ein Fehler, aus dem Haus zu gehen, das war mir bereits nach den ersten Minuten klar. Aber ich musste ja den Helden spielen.

Mit denen nimmt es üblicherweise ein böses Ende.

Die Frau starrt mich an, als sei ich ein Insekt. Natürlich stehe ich als weißer Mann bereits grundsätzlich unter Verdacht, aber daran hatte ich mich gewöhnt – zumindest ging ich bisher davon aus. Dazu kommt, dass ich nicht mehr jung bin. Ein Euphemismus.

Die fette Frau [Warnung! Keine Gewichtsdiskriminierung.] gluckst unangenehm und die ersten Leute um sie herum wenden ihre Blicke mir zu. Das Framing funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk. [Rassismuswarnung! Keine nationale Zuschreibung.]

Ohne Vorwarnung stehe ich unter Strom. Ich kenne die Reaktionsabläufe. Jeder tut das, heutzutage. Der Vorwurf wird als Faktum betrachtet. Die Panik in mir löst die letzten begrifflichen Hemmungen. Die Zicke ist auf Krawall gebürstet!

[Sexismuswarnung! Gruppenorientierte Feindseligkeit gegen Frauen. Wird eine Handlung/Äußerung als sexistisch empfunden, ist sie es per definitionem auch. Bereits die Infragestellung des Sachverhalts erfüllt ihn.]

Wenn der mLector derart ausführlich kommentiert, wird es unangenehm. Die Unschuldsvermutung ist längst still verstorben. Bisher fand ich das positiv. Am Zwinkern ihrer Augen sehe ich, dass sie etwas postet. Sie ist voll im Trend und über einen GawkPin in der Hornhaut vernetzt. Ihr Kopf wackelt empört hin und her. Wenn ich Glück habe, ist das gepostete Bild unscharf, obwohl die Autokorrekturen das üblicherweise verhindern.

»Kein gutes Zeichen …«, denke ich.

Wird ein solcher Vorwurf viral, hat man verloren. Die Schnelligkeit der Polyposts verhindert Nachdenken, Abwägen oder ähnlich fruchtlose Tätigkeiten. Die Sorgfalt ist nicht still verstorben, sie wurde mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Es reagiert das unmittelbare Gefühl. Nietzsche sagte einmal, dass sich die Reife eines Geistes an der Dauer der Verzögerung der Reaktion zeigt. Wann habe ich das gelesen?

[Anmerkung: Der Gedanke kann zu mentalem Extremismus führen. Nietzsche ist als toxische Quelle belastet und nicht zitierungsfähig. Streichen.]

Die Frau ist empört und scheint sich in ihren Zustand hineinzusteigern. Der dicke Kopf mit den Pausbacken ist puterrot. Sie wedelt wie verrückt mit den Händen. Sie schwitzt. Ich ebenfalls.

Immerhin kann ich die Gedanken noch selbst fassen. Der SC-2.0 unterdrückt lediglich die Äußerung und kommentiert. Würde ich all das aussprechen, was mir durch den Kopf geht, wäre ich verloren.

Wir fahren in die Station »Dittmanswiesen« ein. Ich sehe zu, dass ich den Waggon verlasse, ohne weiter aufzufallen. Das Gedränge der Menschenmenge hat ihre Vorteile.

Obwohl der Mai sehr warm ist, fühlt es sich kalt an, als ich nach draußen trete. Es ist, als gefrören die Schweißtropfen auf meiner Haut zu Eis. Ich bin ein Nervenbündel; sich selbst krampfhaft beruhigen zu wollen, klappt selbstverständlich nicht. Ich hatte das niemals nötig. Mein linkes Augenlid zuckt hektisch und es hört einfach nicht auf.

SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 08:17 Uhr

Ich schalte den Einkaufswagen über die Shopapp frei. Wenn man am liebsten unsichtbar wäre, bemerkt man erst, wie sehr man im Netz hängt. Gleichgültig, was man tut, man ist auf dem Schirm.

Jetzt bin ich sicher: Sie beobachten mich. Der Eindruck trügt nicht – es sind die jungen Menschen, die den trüben Blick zeigen. Nun ist »junger Mensch« aus meiner Perspektive sehr relativ. Ich bin mittlerweile ein alter Sack. Nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, ist zwar nicht strafbar, aber man verliert viele Vorteile. Für die meisten ist das ein weiterer, guter Grund, sprachlich nicht aufzufallen. Ich bin da keine Ausnahme.

Das Fairsell-Lebensmittelzentrum ist geöffnet. Meine Befürchtungen waren unnötig. Ich schäme mich meiner Angst. Was Einbildung alles auslösen kann.

Ich belüge mich selbst und versuche mir einzureden, dass das nächste Update sicher bald kommen wird.

Ich kaufe mehr ein, als ich ursprünglich vorhatte. Ich kompensiere, das ist mir klar, aber der Drang ist überwältigend. Immerhin muss ich mir hier keine Gedanken um die Qualität der Produkte machen. Fairsell garantiert höchste ethische Standards. Dennoch könnte die schiere Menge Anstoß erregen. Konsumismus gilt als überholt, ja überwunden. Unser Land ist progressiv, gleichgültig, ob man Schritt halten kann.

Der Zweifel wächst, es fühlt sich nicht fortschrittlich an, sondern einengend. Mir wird übel. Hoffentlich kotze ich dem Fairsell nicht vor die Tür. Derart unsoziales Verhalten bedeutet heftigen Punktabzug im LifeAccount. Das kann ich in meiner Situation ganz und gar nicht brauchen.

Türler ve etiketler
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Hacim:
390 s. 35 illüstrasyon
ISBN:
9783949452215
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