Kitabı oku: «Psycho im Märchenwald», sayfa 4

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Was macht die Stiefmutter böse

Wieso tun Menschen böse Dinge? Diese Frage bewegte wohl schon immer den Menschen. Und sie ist bis in unsere Tage aktuell. Die moderne Psychologie hat hierfür im Grunde zwei große Modelle, die einander mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber stehen.

Auf der einen Seite gibt es diejenigen Psychologen, die behaupten, dass jeder von uns dazu in der Lage und Willens wäre, etwas Böses zu tun, wenn nur der Rahmen entsprechend wäre. Sie berufen sich dabei unter anderem auf einen Versuch zum Autoritätsgehorsam, bei der die überwiegende Anzahl der Versuchspersonen bereit gewesen wäre selbst tödliche Stromschläge einer ihnen unbekannten Dritten Person zuzufügen, wenn der Versuchsleiter eben dies (aus gutem Grund) verlangte1. In einem anderen bekannten Versuch steckte der US-Psychologe seine Versuchspersonen in ein gefaktes Gefängnis, teilte sie zufällig in Häftlinge und Wärter auf, und musste schließlich den Versuch abbrechen, weil die Wärter die Häftlinge anfingen massiv zu misshandeln. Gerade Zimbardo formte in den Folgejahren ein Modell, das im Kern besagt, dass jeder zu einer Bestie werden kann und wandte dies unter anderem auf den unsagbar brutalen Völkermord in Ruanda an. Dabei erschienen ihm als Schlüssel zu diesen Situationen die Entmenschlichung des Gegenübers, autoritäre Strukturen und Klarheit der Anweisungen.

Auf der anderen Seite glaubt man, dass es etwas gibt, das Menschen unterscheidet, und einige Menschen zu bösen Taten treibt, andere nicht. Anders als religiös verwurzelte Personen glauben Psychologen dabei nicht an so etwas wie einen Seele, die vom Teufel verdorben wird, sondern sprechen generell von der individuellen Persönlichkeit. Diese besteht wiederum aus verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften, die, so der statistische Glaube2, normal verteilt sind. Das bedeutet eine mittlere Ausprägung einer Persönlichkeitseigenschaft ist am häufigsten, genau genommen zu knapp 67% vorhanden. Diejenigen Personen, die eine Ausprägung in den extremsten knapp 5% haben, gelten uns dann als psychisch gestört. Und eine solche Persönlichkeitseigenschaft soll auch die „Psychopathie“ sein, die sich eben genau durch das auszeichnet, was „dem Bösen“ am nächsten kommt: die Unfähigkeit, die eigenen Bedürfnisse unterzuordnen, bei maximaler Bereitschaft, sich sein Verlangen zu erfüllen, koste es (die Anderen), was es wolle, gepaart mit emotionaler Kälte und der Fähigkeit, große Brutalität anzuwenden.

In gewisser Weise haben wir hier einen Streit, den wir öfter in der Psychologie finden, nämlich ob Anlage oder Umwelt das Wesen eines Menschen bestimmt. Was aber hat das mit dem Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“ zu tun? Vielleicht ja nichts, ich glaube aber schon einiges. (Sonst hätte ich Ihnen die ersten beiden Absätze ja wohl kaum zugemutet.)

Ausgangspunkt meiner Überlegungen war: was ist denn bitte die Stiefmutter für eine doofe Person? Dann fiel mir auf, dass wir über den Vater des Geschwisterpaares gar nichts erfahren. Wirklich nichts. Wir erfahren lediglich, dass die Stiefmutter eine eigene Tochter hatte, die „hässlich war wie die Nacht, und nur ein Auge“ hatte. Nun, Schönheit liegt sicherlich im Auge3 des Betrachters, und davon hat die eben jene Tochter ja nur eines4, wir wissen auch nicht, was mit dem anderen Auge der Tochter passiert ist. Allerdings wirkt es aus unserem heutigen Blickwinkel5 als genetische Komponente, die die Tochter von ihrer bösen Mutter erhalten hat. Also: kein Wort zum Vater. Interessant ist auch, dass die Motivation der Stiefmutter eine andere ist, als bei HÄNSEL UND GRETHEL. Dort werden zwei Kinder ausgesetzt, weil das Essen nicht für alle reichte, auch hier haben wir es mit einer Stiefmutter zu tun6. Während dort jedoch die Stiefmutter und der Vater selbst mit ihrer Entscheidung zu kämpfen haben, liegt der Fall bei BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN ganz anders. Wir erfahren, dass die Stiefmutter eine böse Hexe ist, die nachhaltig schaden will – aus „Neid und Mißgunst“. Sie scheint also nicht anders zu können, als böse zu handeln, ein Charakterzug, den wir bei Hexen im Märchen fast ausschließlich antreffen.

Die Aussage ist klar: es gibt Menschen, die sind einfach nur schlecht. Und auch ihre Nachkommenschaft ist zwangsläufig schlecht. Sie können einfach nicht aus „ihrer Haut“, oder wie wir heute sagen würden: sie tragen stabile Persönlichkeitseigenschaften in sich, die sie vielleicht ein kleines Stückchen, aber nie grundlegend ändern können. Solchen Straftätern attestieren wir heute „schädliche Neigungen“, sie gelten vielen als untherapierbar und werden immer noch „in Sicherungsverwahrung“ gebracht. Medien sprechen von ihnen als „Bestien“, Politiker fordern immer wieder drakonische Strafen für sie. Insofern dürfte das Ende des Märchens manch ein konservatives Politikerherz höher schlagen lassen: die beiden Frauen, Stiefmutter und Tochter, entmenschlicht als Hexe und deren Nachkommenschaft betrachtet werden getötet, aber auch nicht „einfach so“. Vielmehr bemüht sich der Geschichtenerzähler zu betonen, dass „beide vor Gericht“ geführt wurden. Scheinbar war es Menschen stets wichtig zu betonen, wo eigentlich der Unterschied zwischen einem Mord aus niederen Beweggründen und der Tötung von Staatswegen liegt.

Dass das Märchen generell die Idee einer gegebenen Persönlichkeitsausprägung vertritt, sieht man auch an einer anderen Stelle: die Jagd auf das Reh/ den Bruder. Im ersten Moment fragte ich mich, wieso denn bitte der Bruder/ das Reh nicht einfach seine Hufe still hält und gefälligst im Haus bleibt, wenn die Jagd läuft. Schließlich wissen er und die Schwester doch um die Gefahr. Die Antwort: weil es in seiner Natur liegt. Das Reh scheint das unbändige Bedürfnis zu haben an der Jagd teilzunehmen, auch wenn es seinen Tod bedeuten kann, sonst stürb es „vor Betrübnis“.

Und schließlich haben wir auch zu Beginn des Märchens erlebt, dass es angeborene Bedürfnisse zu geben scheint, die man nicht einfach überwinden kann. So schafft es das Brüderchen zwar zweimal auf das Trinken zu verzichten, doch muss einfach beim dritten Mal trinken7. Kleines Detail am Rande: das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse glückt nur dem Mann nicht, implizit wird hier die Werthaltung vermittelt, dass eben auch dies gegen die Natur des Mannes wäre.

Anders als wir mittlerweile aus den Versuchen von Milgram, Zimbardo und Co wissen, lehrt dieses Märchen also nur den Ansatz, dass es das Böse gibt, weil es böse Menschen gibt und diese im Zweifel eben selbst keine Menschen sind, sondern bspw. Hexen. Der Vorteil dieser Sichtweise ist der, dass man eine einfache Trennlinie dafür hat, wer gut ist und wer böse. Gut ist der, der Gutes tut. Dieses simple Credo wird dann noch in einen religiösen Rahmen, wenn auch nur sehr halbherzig, eingebunden, und schließlich werden sowohl Brüderchen als auch Schwesterchen von ihrem Leid erlöst.

3. Rapunzel


s war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung der liebe Gott werde ihren Wunsch erfüllen. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand; er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hinein zu gehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht hatte und von aller Welt gefürchtet ward. Eines Tags stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab, da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war: und sie sahen so frisch und grün aus, daß sie lüstern ward und das größte Verlangen empfand von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu, und da sie wußte daß sie keine davon bekommen konnte, so fiel sie ganz ab, sah blaß und elend aus. Da erschrack der Mann und fragte „was fehlt dir, liebe Frau?“ „Ach,“ antwortete sie, „wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich.“ Der Mann, der sie lieb hatte, dachte „eh du deine Frau sterben lässest, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten was es will.“ In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Hand voll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, daß sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so mußte der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrack er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. „Wie kannst du es wagen,“ sprach sie mit zornigem Blick, „in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? das soll dir schlecht bekommen.“ „Ach,“ antwortete er, „laßt Gnade für Recht ergehen, ich habe mich nur aus Noth dazu entschlossen: meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und empfindet ein so großes Gelüsten, daß sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme.“ Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm „verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten Rapunzeln mitzunehmen so viel du willst, allein ich mache eine Bedingung: du mußt mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.“ Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.

Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloß es die Zauberin in einen Thurm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Thüre hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin, und rief

„Rapunzel,Rapunzel,

laß mir dein Haar herunter.“

Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.

Nach ein paar Jahren trug es sich zu, daß der Sohn des Königs durch den Wald ritt und an dem Thurm vorüber kam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, daß er still hielt und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn wollte zu ihr hinauf steigen und suchte nach einer Thüre des Thurms, aber es war keine zu finden. Er ritt heim, doch der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, daß er jeden Tag hinaus in den Wald gieng und zuhörte. Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er daß eine Zauberin heran kam und hörte wie sie hinauf rief

„Rapunzel, Rapunzel,

laß dein Haar herunter.“

Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. „Ist das die Leiter, auf welcher man hinauf kommt, so will ich auch einmal mein Glück versuchen.“ Und den folgenden Tag, als es anfieng dunkel zu werden, gieng er zu dem Thurme und rief

„Rapunzel, Rapunzel,

laß dein Haar herunter.“

Alsbald fielen die Haare herab und der Königssohn stieg hinauf.

Anfangs erschrack Rapunzel gewaltig als ein Mann zu ihr herein kam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fing an ganz freundlich mit ihr zu reden und erzählte ihr daß von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, daß es ihm keine Ruhe gelassen, und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte ob sie ihn zum Manne nehmen wollte, und sie sah daß er jung und schön war, so dachte sie „der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel,“ und sagte ja und legte ihre Hand in seine Hand. Sie sprach „ich will gerne mit dir gehen, aber ich weiß nicht wie ich herab kommen kann. Wenn du kommst, so bring jedesmal einen Strang Seide mit, daraus will ich eine Leiter flechten und wenn die fertig ist, so steige ich herunter und du nimmst mich auf dein Pferd.“ Sie verabredeten daß er bis dahin alle Abend zu ihr kommen sollte, denn bei Tag kam die Alte. Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis einmal Rapunzel anfieng und zu ihr sagte „sag sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen, als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.“ „Ach du gottloses Kind,“ rief die Zauberin, „was muß ich von dir hören, ich dachte ich hätte dich von aller Welt geschieden, und du hast mich doch betrogen!“ In ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar mal um ihre linke Hand, griff eine Scheere mit der rechten, und ritsch, ratsch, waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig daß sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben mußte.

Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte, machte Abends die Zauberin die abgeschnittenen Flechten oben am Fensterhaken fest, und als der Königssohn kam und rief

„Rapunzel, Rapunzel,

laß dein Haar herunter,“

so ließ sie die Haare hinab. Der Königssohn stieg hinauf, aber er fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah. „Aha,“ rief sie höhnisch, „du willst die Frau Liebste holen, aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr, die Katze hat ihn geholt und wird dir auch noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.“ Der Königssohn gerieth außer sich vor Schmerz, und in der Verzweiflung sprang er den Thurm herab: das Leben brachte er davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Da irrte er blind im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und that nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So wanderte er einige Jahre im Elend umher und gerieth endlich in die Wüstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie däuchte ihn so bekannt: da gieng er darauf zu, und wie er heran kam, erkannte ihn Rapunzel und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Thränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, wo er mit Freude empfangen ward, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.

Feldsalat, Feldsalat, lass dein Haar herunter...

Am allermeisten begehrt der Mensch das, was er nicht haben kann. Das könnte der Untertitel des Märchens von RAPUNZEL sein, das an Stelle 12 der Kinder- und Hausmärchen steht. Das Zaubermärchen gehört mit der Nummer 310 zu denen der Gruppe „Übernatürliche Gegenspieler“ und hat im Verlauf der verschiedenen Ausgaben der KHM so einiges an Bearbeitung durch Wilhelm Grimm erfahren.

Los geht es aber mit einigen Erklärungen zum merkwürdigen Namen der Titelheldin. Bei den Brüdern Grimm lautet der Name – sonnenklar – RAPUNZEL und damit ist das arme gefangene Mädchen im Turm nach dem Kraut benannt, das seinen Eltern zum Verhängnis wurde. Viele wissen heute gar nicht mehr, dass Rapunzel eine der vielen Bezeichnungen für den Gewöhnlichen Feldsalat (Valerianella locusta) ist. Die Pflanze ist in Österreich z. B. auch als „Vogerlsalat“ bekannt und gehört zur Unterfamilie der Baldriangewächse. Als Salat zubereitet ist das Ganze tatsächlich ziemlich lecker, doch darum geht es hier eigentlich nicht. Die Rapunzeln (in den französischen und italienischen Vorlagen, zu denen wir noch kommen, ist es Petersilie) stehen für die Gelüste einer schwangeren, der sowohl die Betroffene, als auch der Ehemann hilflos gegenüberstehen.

Es gibt noch zwei weitere Pflanzen, die im Volksmund als Rapunzeln bezeichnet werden. Zum einen die Rapunzel-Glockenblume (Campanula rapunculus), deren Blätter und Wurzeln schmackhaft sind und verzehrt werden können. Die Glockenblume mit den hübschen blauen Blüten ist in West-, Mittel- und Süddeutschland verbreitet. Im Mittelalter wurde sie regelrecht als Küchenpflanze angebaut oder auch gesammelt. Da sie ebenfalls als Salat zubereitet werden kann, kommt sie als Pate für die Pflanze in Betracht, zumal das Wort Rapunzel auf das lateinische „rapunculus“, also Rübchen zurückgeht. Weniger wahrscheinlich ist es dennoch, dass mit Rapunzel die „Teufelskralle“ gemeint ist, obwohl auch sie verdickte, rübenartige Wurzeln hat.

Welche Pflanze es auch immer ist, nach der sich die Schwangere verzehrt, sie wächst auf jeden Fall im Nachbargarten und ist damit unerreichbar. Während es in der KHM-Fassung von 1812 noch über den Garten heißt

Diese Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnten sie in den Garten einer Fee sehen, der voll von Blumen und Kräutern stand, allerlei Art, keiner aber durfte es wagen, in den Garten hineinzugehen.

haben wir in der späteren Fassung zusätzlich zur Gefahr durch die Besitzerin, die eine Zauberin ist, noch eine Mauer, die den Garten umschließt. Doch das ist nicht die delikateste aller Änderungen, die Wilhelm Grimm im Laufe der Zeit vorgenommen hat. Aber bevor wir dazu kommen, soll noch schnell der Name der Zauberin erklärt werden. Die strenge Herrin des Gartens und Turms wird im Märchen von Rapunzel als „Frau Gothel“ bezeichnet. Und das Wort „Gothel“ wiederum geht wohl auf das süddeutsche „Godel“ zurück und meint nichts anderes als Patin. Soweit so gut.

Die schöne Rapunzel ist 1812 noch ganz die naive Verführerin, die zwar vor dem Anblick des Überraschungsgastes erschrickt, den jungen Mann aber dann ganz attraktiv findet. Er gefällt ihr so gut, „daß sie mit ihm verabredete, er solle alle Tage kommen und hinaufgezogen werden. So lebten sie lustig und in Freuden eine geraume Zeit, und die Fee kam nicht dahinter“. Der junge Prinz und das schöne Mädchen leben also in wilder Ehe, wenn man so will.

Wie auch in der hier abgedruckten Version von 1857 bekommt die Hexe dann doch irgendwann mit, was da läuft und in beiden Fassungen geschieht das, weil sich Rapunzel in ihrer Naivität (oder Dummheit) verplappert.

Interessant ist jedoch, dass sie in der Ausgabe von 1812 zur Fee meint: „sag’ sie mir doch Frau Gothel, meine Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen.“ Damit ist allen außer Rapunzel klar, was passiert ist. Das Mädel ist schwanger geworden. Der Ausgang freilich ist der gleiche, sie wird in die Wüste, äh, Wildnis geschickt, wo sie ihre Zwillinge bekommt. Mit dem vorherigen Hinweis auf die Schwangerschaft kommt das dann auch nicht mehr so plötzlich für den Leser bzw. Hörer. Und der Prinz wird ebenfalls von der Fee bestraft, bevor sich die beiden Liebenden wiederfinden.

Mit der Einführung von Heiratsversprechen, Frömmigkeit und Streichung der Schwangerschaftshinweise hat mal wieder die bürgerliche Moral bei der Umarbeitung der Märchen zugeschlagen. Und natürlich der Wunsch Wilhelms, die Geschichten für Kinder passender zu gestalten.

Laut den Anmerkungen halten sich die Brüder Grimm bei der Aufzeichnung des Märchens an eine Fassung von Friedrich Schulz aus seinen „Kleinen Romanen“, vermuten aber, dass hinter dem Ganzen eine mündliche Erzählung steckt. Wenn es ein rein schriftliches Phänomen gewesen wäre, hätte es ja eigentlich auch in der Sammlung von Volksmärchen nichts zu suchen gehabt. Schulz wiederum, so stellt Max Lüthi fest1, übernimmt fast vollständig eine französische Version, nämlich Persinette von Charlotte-Rose de Caumont de La Force. Diese Erzählung stammt aus dem Jahr 1697. Mademoiselle de La Force behauptete steif und fest, dass sie die Urheberin der Geschichte sei, viel eher hat sie sich jedoch bei Giambattista Basile und seinem Pentamerone von 1634 bedient. Dort gibt es die Geschichte der Petrosinella, die als frühes Rapunzel gehandelt wird. Die Grundlage für all diese Erzählungen bietet jedoch ein französisches Volksmärchen.

Wie der Name schon vermuten lässt und wie es ja auch schon anklang, ist die besagte Pflanze in diesen beiden Fällen die Petersilie. Basiles Geschichte ist wesentlich launiger erzählt, als das Märchen, das wir heute aus den KHM kennen. Die Begegnung des Prinzen mit Petrosinella soll an dieser Stelle Ihnen, liebe Leser, nicht vorenthalten werden.

So geschah es nun einmal, daß, als Petrosinella eines Tages während der Abwesenheit der Hexe den Kopf aus jener Öffnung hinaussteckte und ihre Flechten in der Sonne erglänzen ließ, der Sohn eines Prinzen vorüberkam, welcher beim Anblick dieser zwei goldenen Standarten, welche die Herzen zur Anwerbung unter Amors Fahnen herbeiriefen, und des unter den herrlich schimmernden Wellen hervorschauenden Sirenenangesichts sich in so hohe Schönheit auf das sterblichste verliebte. Nachdem er ihr nun eine Bittschrift von Seufzern zugesandt, wurde von ihr beschlossen, ihn zu Gnaden anzunehmen, und der Handel ging so rasch vonstatten, daß der Prinz freundliches Kopfnicken und Kußhände, verliebte Blicke und Verbeugungen, Danksagungen und Anerbietungen, Hoffnungen und Versprechungen, kosende Worte und Schmeicheleien in großer Menge zugeworfen erhielt. Als sie dies aber so mehrere Tage wiederholt hatten, wurden sie dermaßen miteinander vertraut, daß sie eine nähere Zusammenkunft miteinander verabredeten, und zwar sollte diese des Nachts, wann der Mond mit den Sternen Verstecken spielte, stattfinden, Petrosinella aber der Hexe einen Schlaftrunk eingeben und den Prinzen mit ihren Haaren emporziehen. Sobald dieser Verabredung gemäß die bestimmte Stunde erschienen war und der Prinz sich nach dem Turm begeben hatte, senkten sich auf einen Pfiff von ihm die Flechten herab, welche er rasch mit beiden Händen ergriff und nun rief: »Zieh!« Oben angelangt, kroch er durch das Fensterchen in die Stube, genoß in reichem Maß von jener Petersilienbrühe Amors und stieg, ehe noch der Sonnengott seine Rosse durch den Reifen des Tierkreises springen lehrte, wieder auf der nämlichen Goldleiter hinab, um nach Hause zurückzukehren.

Von Heiratsbekundungen ist bei Basile keine Rede, stattdessen gibt es ein dezent-barockes, vergnügliches Stelldichein. Allerdings fehlt auch der Hinweis auf eine Schwangerschaft der Heldin. In der italienischen Version wird das junge Paar von einer „Gevatterin“ verpfiffen, kann aber durch eine List aus dem Turm fliehen. Die Hexe verfolgt die beiden und wird von ihnen mit Hilfe von drei entwendeten Galläpfeln, die sich, wenn geworfen, in wilde Tiere verwandeln, aufgehalten.

Die Motive des Märchens, zum einen das Weggeben des ungeborenen Kindes, um Schwangerschaftsgelüste zu befriedigen oder Wünsche erfüllt zu bekommen, zum anderen die „Jungfrau“ im Turm, sind in wesentlich älteren Erzählungen ganz unterschiedlicher Kulturkreise zu finden.

Ersteres spielt zum Beispiel in einer altnordeuropäischen Geschichte von Odin und Signy eine zentrale Rolle. Die schwangere Signy verspricht dem Gott ihr Kind als Gegenleistung für die Fähigkeit, das beste Bier brauen zu können. Auch in vielen anderen Märchen kommt das Motiv vor, man denke da nur an Rumpelstilzchen.

Das Motiv „Jungfrau im Turm“, unter dem RAPUNZEL auch im Aarne-Thompson-Uther-Index gelistet ist, taucht bereits in der griechischen Mythologie auf. Der König Akrisios fürchtet einen Orakelspruch, nach dem er keine männlichen Erben haben würde, sein Enkel ihm aber zum Verhängnis werde. Daraufhin sperrt er seine Tochter Danae in ein Verließ bzw. einen Turm, um auf Nummer sicher zu gehen. Zeus entbrennt jedoch in Liebe zu dem Mädchen und verschafft sich trotz des Hindernisses – ganz romantisch als goldener Regen – Zugang zu ihr. Aus der Verbindung geht Perseus hervor.

RAPUNZEL ist ein schönes Beispiel dafür, dass die Märchen der Brüder Grimm nicht ursprünglich und in erster Linie für Kinder bestimmt waren. Zu den Geschichten für die netten Kleinen mussten sie erst noch durch Wilhelms (äußerst erfolgreiche) Überarbeitung gemacht werden.