Da wurde er mit einem Ruck gepackt und sein Sturz jäh gebremst. Es musste das Ende sein!
Thubano fühlte aber keinen Schmerz und blickte verwundert nach oben - mitten in die ruhigen, schwarzen Augen seines Vaters.
Krowál steuerte mit kräftigen Flügelschlägen auf die Spitze der Felswand zu und setzte Thubano sanft ab. Zitternd drückte sich Thubano an seinen Vater.
Dieser erwiderte für einen kurzen Augenblick die Umarmung, dann stellte er sich vor ihn hin.
„Du dummer Kerl“, meinte er mit bewegter Stimme, „dir ist hoffentlich nichts passiert. Ich wollte in der Höhle nicht grob zu dir sein und dir unrecht tun. Ich wehre mich doch nur dagegen, dass du in die Welt ziehst, weil ich dich nicht verlieren will. Du bist nicht wie die anderen Drachenkinder und ich habe Angst, dass dir etwas zustößt. Ich habe dich doch lieb!“
Thubano schaute seinen Vater bestürzt an.
Noch nie hatte ihm sein Vater seine Gefühle so deutlich gezeigt. Bis zum heutigen Tag hatte Thubano sogar geglaubt, dass Krowál keine solchen Empfindungen besaß. Insgeheim hatte er seinen Vater deshalb geliebt und bewundert. Er ließ sich nicht von Gefühlen leiten und konnte immer sachliche und gerechte Entscheidungen fällen.
Drachen von Thuhanos Rasse waren von Geburt an dunkelgrün und wurden mit zunehmendem Alter immer heller, bis sie im Alter weiß waren.
Krowál war würdevoll und prächtig. Sein Weiß strahlte heller als die Schneefelder im Winter und die prachtvolle Mähne aus Silberhaar schillerte klarer als der Vollmond in einem Bergsee. Das Spiel seiner Muskeln zeigte seine Kraft und sein Gang seine Würde.
Die Achtung der anderen Drachen hatte Krowál wegen seiner Beherrschtheit und Weisheit erlangt. Thubano hatte immer so werden wollen wie er.
„Warum sagst du nichts?“, fragte Krowál.
Thubano zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß nicht“, sagte er verlegen.
„Komm wieder nach Hause. Das Drachental ist zwar nur ein kleiner Ort, aber man kann hier ein schönes Leben verbringen“, meinte Krowál.
Der Drachenjunge schüttelte den Kopf.
„Ich kann nicht, Vater. Ich möchte wissen, ob es noch andere wie mich gibt. Vielleicht finde ich auch einen Freund, der mich nicht sofort verlässt, weil ich nicht fliegen kann.“
Krowál nickte.
„Ich verstehe dich, so sehr ich es auch bedauere. Versprich mir aber immer aufzupassen und das hier zu gebrauchen, wenn du in Gefahr gerätst!“
Mit diesen Worten hängte Krowál Thubano eine Kette um den Hals. Eine braungräulich schimmernde Wurzel hing daran, die spiralig gedreht war.
„Was soll ich damit?“, fragte Thubano verwundert und befingerte die Kette. „Es ist nur eine Wurzel.“
„Das ist eine Zauberwurzel. Wenn du die Augen schließt und die Worte ,Akurim narim dialinum‘ sagst, wird mich ihr Zauber zu Hilfe rufen. Ich bin dann augenblicklich bei dir! Du kannst die Kette mit der Wurzel so oft benützen, wie du in Not bist. Missbrauche sie aber nicht! Rufe nur, wenn du keinen anderen Ausweg siehst!“