Kitabı oku: «Melea», sayfa 2
„Sieh in meine Augen“, herrschte er sie an.
Lea keuchte erschrocken auf, als sie dies tat und seine pechschwarzen Augen sah, in denen es kein Weiß gab.
„Zeig dich!“, befahl der Mann wieder.
Ein heftiges Ziehen hinter ihrer Stirn machte sich bemerkbar, und sie hörte ihn plötzlich in ihrem Kopf. Sie vernahm düstere und fremdartige Wörter, die ihr einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagten. Außerdem hallten die Worte in ihrem Inneren seltsam nach, und ihr wurde auf einmal heiß. Mit zittrigen Fingern krallte sie sich wieder an ihm fest, da sie das Gefühl hatte, die Besinnung zu verlieren.
„Bitte, hört auf“, keuchte Lea.
Sie hörte ihn wieder knurren, und seine Augen weiteten sich minimal, bevor er sagte: „Grüne Augen? Wer bist …“
„Lea, so wach doch auf!“
Verzweifelt rüttelte Mo an ihren Schultern, bis sie plötzlich hochschreckte und zuschlug. Trotz blutender Nase rappelte sich Mo direkt wieder auf, da ihn dieser Schlag zu Boden geschickt hatte, und ergriff hastig Leas Handgelenke.
„Beruhige dich, Lea! Es war nur ein Traum!“
Sie atmete hektisch und blickte sich panisch um.
„Wo ist er?“
„Wer?“
„Der Mann mit dem schwarzen Mantel! Er hat mich fast umgebracht!“
„Hier ist niemand, du hattest bloß einen bösen Traum.“
„Es war so wirklich, Mo! Ich rieche ihn noch, er hatte einen seltsamen Geruch an sich.“
Sie befreite ihre Hände und rieb über ihre Oberarme, als wäre ihr kalt.
„Was ist denn los?“, fragte Respa von der Tür.
„Wir haben etwas poltern gehört.“
Mo verzog das Gesicht, als er zur Tür sah.
„Es ist alles in Ordnung, Lea hatte nur einen Alptraum.“
Respas Blick fiel auf Lea.
„Sie sieht nicht so aus, als wäre alles in Ordnung.“
Sie betrat den Raum und setzte sich auf die Bettkante.
Die Alte betrachtete besorgt Leas Gesicht und blickte zu Mo auf. Der saß mittlerweile auf dem Schreibtisch und rieb mit tränenden Augen über seine Nase. Respa schmunzelte und drückte Leas Hand.
„Erzähl mir von deinem Traum, Kindchen.“
Beim Gedanken an die schwarzen Augen bekam Lea eine Gänsehaut. Sie begann zu zittern. Mo bemerkte das beunruhigt.
„Nun lass sie doch in Ruhe, alte Hexe. Du siehst doch, dass sie im Moment nicht darüber sprechen möchte.“
Respa funkelte ihn wütend an.
„Ich glaube nicht, dass dich jemand gefragt hat, schwarzer Mann.“
Lea hob beschwichtigend ihre freie Hand.
„Ist schon gut, Mo.“
Tief durchatmend schloss sie für einen Moment die Augen und erzählte dann von ihrem Traum und ihren Eindrücken. Stockend berichtete sie von dem Mann und bemerkte die erschrockenen Blicke, die sich die beiden zuwarfen. Nachdem sie geendet hatte, herrschte zunächst angespanntes Schweigen, bis Lea es nicht mehr aushielt.
„Was ist denn los mit euch?“
Mo räusperte sich.
„Lea, es war tatsächlich mehr als ein Traum.“
Respa nickte zustimmend.
„Da muss ich ihm leider Recht geben, mein Kind.“
Lea schaute entgeistert von Mo zu Respa.
„Was sagt ihr da? Was soll das heißen?“
Nach diesen Worten hob sie abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf.
„Ich will es eigentlich gar nicht hören. Das ist doch alles völlig verrückt.“
Die beiden hatten Recht, das wusste Lea. Schon während des Traums war sie sich darüber im Klaren gewesen, dass etwas nicht stimmte. Alles wirkte zu real. Allein der Gedanke, dies wirklich erlebt zu haben, ließ sie schaudern.
Respa beobachtete Lea und spürte ihre innerliche Unruhe. Nach einem kurzen Blick zu Mowanye, der ihr auffordernd zunickte, atmete sie tief durch und ergriff erneut Leas Hand.
„Deiner Beschreibung nach handelt es sich bei dem Mann um einen von Torgulas’ Söhnen. Man nennt ihn den Dunklen. Er hat etwas mit deiner Zukunft zu tun, Lea.
Bisher weiß ich jedoch nicht, ob zum Guten oder zum Schlechten. Du weißt doch, wer Torgulas ist, nicht wahr?“
Lea sah sie furchtsam an.
„Sein Reich befindet sich an den Windschattenbergen, weit im Norden und direkt an der Grenze zur Elfenbarriere. Angeblich ist er ein Halbgott, aber wieso sollte sein Sohn etwas mit meiner Zukunft zu tun haben?“
„Nicht angeblich, mein Kind! Torgulas ist Devoradors Sohn, ein Halbgott und äußerst mächtig. Aber für uns ist nur eines wichtig, er verfügt über eine riesige Armee“, klärte Respa sie auf.
Mo kam zu ihnen herüber und setzte sich neben Lea aufs Bett. Er legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Respa spricht wahr! In einem Ahnenritual wurde mir offenbart, dass die Menschen nur mit Torgulas’ Armee eine Chance haben, diesen fremden Wesen zu trotzen und sie zurückzuschlagen. Die Feuerahnen zeigten mir außerdem, dass du in Mesura eine Aufgabe erfüllen musst, Lea. Es wird ausschließlich von dir abhängen, ob sich die geeinten Reiche mit Torgulas verbünden werden. Auch den Halbgott musst du dazu bewegen, seine Armee gegen die fremden Kreaturen aufs Schlachtfeld zu schicken. Und das wird der schwierigere Teil, denn er hasst die Menschen und würde mit Freuden dabei zusehen, wie wir vernichtet werden.“
Lea sah erst Mo und dann Respa sprachlos an.
„Die Geister zeigten mir fast das Gleiche. Als Erstes musst du die Königin von Mesu von der bevorstehenden Bedrohung überzeugen. Es ist erforderlich, dass sie den Herrscherrat einberuft. Sie muss Nachrichten an die anderen Königreiche und zu Torgulas senden, das ist vorerst das Wichtigste.“
Lea hätte fast laut aufgelacht. Es beschlich sie jedoch das ungute Gefühl, dass die beiden ernst meinten, was sie sagten.
„Ihr sprecht von Armeen, von einem bevorstehenden Krieg gegen Wesen, von denen ich gerade mal eines zu Gesicht bekommen habe. Und mal abgesehen davon, dass ich dies ganz sicher nicht tun werde. Wie sollte ausgerechnet ich die Könige sämtlicher Reiche von einer Bedrohung überzeugen, von der wir überhaupt noch nichts wissen? Ihr seid doch völlig irre!“
„Leider ist es so, wie Respa sagt. Unsere Visionen haben anscheinend den gleichen Inhalt, und somit ist ein Irrtum ausgeschlossen“, sagte Mo.
Leas Augen weiteten sich ungläubig. Stockend fragte sie: „Aber … was haben euch diese Visionen denn genau gezeigt?“
Mo blickte sie abschätzend an und nickte schließlich.
„In Ordnung, Lea. Ich gebe dir eine Kurzfassung von zwei meiner Visionen.
In der ersten sah ich dich in Gesprächen mit der Königin von Mesu und ein paar anderen Herrschern. Zudem wirst du anwesend sein, wenn der Herrscherrat stattfindet. Daraufhin zeigten mir die Ahnen die schwarze Armee des Nordens, die sich mit uns verbündet hatte. In der zweiten Vision kamst du nicht vor, Lea. Die geeinten Reiche und auch Torgulas’ Reich wurden vom Feind überrannt. Und diese zweite Vision lässt nur einen Schluss zu: Nur du allein bist befähigt, den Rat von einem Bündnis zu überzeugen!“
Lea schüttelte heftig den Kopf.
„Ausgerechnet ich soll die Herrscher von einem Bündnis überzeugen, und dann auch noch Torgulas? Ihr seid wirklich verrückt geworden! Wie soll ich das denn anstellen? Ich bin nur eine Fischerstochter! Und dann dieser Mann vorhin. Du sagst, er habe etwas mit meiner Zukunft zu tun. Jetzt mal ganz ehrlich! Ich habe nicht den Drang, ihm nochmal zu begegnen. Der hat mich in dem Traum fast erwürgt. Und dass du mich in deiner zweiten Vision nicht gesehen hast, könnte auch den Schluss zulassen, dass es ihm beim nächsten Mal gelingt.“
Respa und Mo sahen sich vielsagend an.
„Wir können nur darüber spekulieren, was es mit ihm auf sich hat. Aber eines ist sicher: Du wirst mit ihm zusammentreffen. Und es war kein Traum, Lea, du warst tatsächlich dort. Zwar nicht körperlich, aber er hat dir trotzdem schaden können. Sieh dir deinen Hals an, auf dem Tisch liegt ein Spiegel“, sagte Respa. Unwillkürlich hob Lea ihre Hände an den Hals und verspürte sofort Schmerzen, die sie bislang erfolgreich verdrängt hatte. Dennoch stand sie auf, schnappte sich den Spiegel und starrte auf die geröteten Fingerabdrücke, die ihren Hals zierten.
„Ich brauche frische Luft“, keuchte sie.
Der Spiegel entglitt ihrer zittrigen Hand und polterte zu Boden. Dann verließ sie fluchtartig die Kajüte und rannte die Stufen zum Deck hinauf.
Mo sah nachdenklich zur Tür.
„Ich befürchte, das wird alles zu viel für sie. Lea versucht, das Erlebte zu verdrängen, was auch kein Wunder ist. Wir hätten sie viel früher einbeziehen müssen. Dies alles an einem Tag zu erfahren, und dann auch noch ihre Erlebnisse. Und da spreche ich nicht nur von der Flucht. Lea kam schon völlig aufgelöst zu mir, bevor der Sturm losbrach. Dem Hai begegnete sie heute Abend nicht zum ersten Mal.“
Seufzend schüttelte er den Kopf, bis Respa sprach.
„Ja, und dabei weiß sie noch nicht einmal alles. Und ich denke, das ist auch besser so. Es ist noch zu früh! Wir müssen warten, bis sich weitere Attribute zeigen.“
„Sehe ich auch so. Derzeit hat sie genug zu verarbeiten.“
„Stimmt es, dass Rion sie geschlagen hat?“
„Ja, aber es ist nicht wie du denkst. Es war Sorge, die ihn dazu verleitet hat“, sagte Mo.
Respa ergriff sein Handgelenk.
„Zu ihrem Wohl sollten wir versuchen, miteinander zu arbeiten. Wir müssen sie beschützen, auch vor ihrem besorgten Vater.“
Mo nickte überrascht, denn bisher waren Respa und er stets uneinig gewesen, was Melea betraf. Dennoch war er gespannt auf die Zusammenarbeit mit der Hexe.
„Zunächst sollten wir uns über unsere Visionen austauschen. Sie ähneln sich zwar, aber ich möchte ausschließen, dass wir etwas übersehen oder sogar falsch deuten“, meinte Respa.
Mo ging zur Tür und schloss diese.
„Also gut, Respa. Aber zuvor sollte ich dir vom Untergang meiner Heimat berichten.“
„Was hat das mit Melea zu tun?“
„Deine Visionen handeln nicht nur von ihr, sondern auch von einem feindlichen Heer, das sich erhebt. Einem Heer, wie man es in unserer Welt noch nie gesehen hat. Nicht wahr?“
Die Alte nickte nur, woraufhin Mowanye den Stuhl heranzog und sich vor sie setzte.
„Diese Kreaturen sind bereits seit etlichen Jahresumläufen in der bekannten Welt. Sie haben meine Heimat überrannt, und ich überlebte als Einziger.“
„Was sagst du da?“
„Es begann in meiner Heimat, einer kleinen Inselgruppe weit im Süden. Mein Volk lebte auf der größten Insel, wir nannten sie Ruls. In der Mitte der Insel erhob sich ein großer Berg, der ab und an Feuer spie. Und wenn dies geschah, flüchteten wir auf eine der drei kleineren Inseln, die Ruls umgaben. Denn mit den glühenden Feuerströmen kamen auch andere Gefahren, aber dazu später mehr.“
„Was interessieren mich die Gefahren eines Vulkans? Wir haben wahrlich andere Probleme.“
„Sie werden dich garantiert interessieren, weil Melea einen meiner Feuerahnen in sich trägt und ich in einer Vision sah, dass ich ihr etwas geben muss.“
„Einen was?“
Mo seufzte anhaltend.
„Unterbrich mich nicht ständig, und du wirst es heute noch erfahren. Ansonsten sitzen wir wahrscheinlich morgen noch hier.“
„Dann rede nicht um den heißen Brei herum“, maulte sie.
„Unser Dorf befand sich in der Nähe eines langen Sandstrandes. Ich war damals etwa so alt wie Melea heute. Alles nahm seinen Anfang mit einem aufziehenden Unwetter und seltsamen Lichtspiegelungen im Meer.
Unser Oberhaupt rief die Schamanen und Ältesten der Insel zusammen, um ein Ahnenritual durchzuführen. Ich war ebenfalls dort, denn ich war bei einem Schamanen in der Ausbildung.“
„Oh je, die Arbeit hätte er sich sparen können.“
Mo räusperte sich ungehalten, sprach aber weiter.
„Unser Dorf besaß vier Schamanen, und jeder von ihnen stand für ein Element: Wasser, Luft, Erde und Feuer. Höchst selten beherrschte ein Schamane zwei Elemente, und noch nie kam es vor, dass jemand drei oder vier in sich vereinen konnte. Da ich ein Schüler war, durfte ich nur beobachten. Mein Element war das Feuer, und so hatte sich mein Augenmerk vorerst auf den Feuerschamanen gerichtet. Aber ich spürte auch eine Verbundenheit zu den anderen Elementen, daher schaute ich auch den übrigen Schamanen über die Schultern.
Wenn alle Elemente gerufen wurden, führten wir die Rituale am Strand aus.
Das Ahnenritual war etwas Besonderes und wurde nicht sehr oft durchgeführt. Die Schamanen riefen dabei die Seelen unserer Verstorbenen und baten sie um Hilfe.“
„Was hat das mit den Elementen zu tun?“
„Wir glauben, dass nach dem Tod unsere Seele in einem dieser Elemente wartet, bis sie schließlich wiedergeboren wird.“
„Die Geister, welche ich rufe, um Visionen zu erhalten, haben absolut nichts mit den Elementen zu tun. Und sie sind ebenfalls Ahnen von irgendwem.“
Mo blickte sie erbost an, worauf Respa genervt die Augen verdrehte.
„Ist ja gut, rede weiter. Was geschah während des Rituals?“
„Die Schamanen nahmen ihre Plätze ein und setzten sich Rücken an Rücken und mit untergeschlagenen Beinen in den Sand. Einer saß direkt an der Wasserlinie zum Meer, der dahinter an einem Lagerfeuer. Der Erdschamane grub seine Hände in den Sand, und der dahinter Sitzende hielt seine Hände in die Höhe. Sie flüsterten ihre Beschwörungen, und ich umkreiste sie langsam, weil ich nichts verpassen wollte.
Zur Abenddämmerung hin wurde der Sturm immer heftiger, und Regen setzte ein. Und in dem Moment zeigten sich die ersten Ahnen. Sie umkreisten den jeweiligen Schamanen, und es wurden stetig mehr. Die Luftelementare, bestehend aus dichtem, waberndem Nebel, schwebten um den Kopf des Schamanen. Um den Erdschamanen erhoben sich ebenfalls die Ahnen, groß wie eine Faust. Ihre tropfenförmigen Körper bestanden aus Sand, und sie bildeten Gliedmaßen aus, um am Schamanen emporzuklettern. Die Wasserelementare flossen an den Armen ihres Schamanen hinauf, bis auch sie sich zu Tropfen formten. Sie vereinnahmten seinen Oberköper, Hals und Kopf. Tja, und die Feuerahnen haben eine rundliche Form. Auch sie umkreisten ihren Schamanen, so wie die Luftelementare. Alles verlief völlig normal, bis ganz plötzlich sämtliche Ahnen zum Stillstand kamen. Und anstatt sich den jeweiligen Schamanen zu öffnen, scharten sie sich alle um eine andere Person.“
„Um dich“, hakte Respa nach, da er nicht weitersprach.
„Die Wasser- und Erdelementare krochen an mir empor, und die Feuer- und Luftelementare umkreisten mich, wobei sie immer schneller wurden. Ich bekam mit, wie die Schamanen entsetzt aufsprangen und mit Zaubersprüchen versuchten, die Ahnen zu verbannen, was jedoch nicht gelingen wollte.“
„Vier Schamanen, und es gelang ihnen nicht, eure Geister zurückzupfeifen?“
„Ahnen, nicht Geister! Und nein, es war ihnen nicht möglich“, antwortete Mo, wobei er sie ärgerlich ansah.
Respa hob abwehrend die Hände.
„Anstatt gleich aus der Haut zu fahren, könntest du mal langsam zum Ende kommen.“
„Ich wäre schon längst fertig, wenn du mich nicht ständig …“
„Ach was, erzähl endlich weiter.“
Mo schloss seine Augen und atmete tief durch, bevor er weitersprach.
„Ich brach zusammen, als die Seelen etwas in meinem tiefsten Inneren berührten. Dann verlor ich den Halt zur realen Welt.“
„Wie meinst du das?“
„Na ja, wenn mir die Ahnen etwas mitteilen wollen, bemächtigen sie sich meines Geistes. Auf diese Weise können sie mich mitnehmen und lassen mich die Antworten sehen. An jenem Abend war das allerdings anders. Ich hatte keine Fragen gestellt, und dennoch zeigten mir die Ahnen unglaubliche Dinge, teils aus der Vergangenheit und Gegenwart. Aber vor allem die Zukunft spielte eine Rolle.
In meiner ersten Vision offenbarten sie mir ein magisches Tor, das sich am Grund des Meeres öffnete. Es war riesig und flimmerte in verschiedenen Grüntönen. Zunächst war ich überwältigt und fasziniert von diesem Anblick, was sich aber schnell änderte. Denn kurz darauf strömten unzählige Wesen aus dem Portal. Es waren so unglaublich viele, und sie wirkten irgendwie missgebildet. Aber meine Sicht verschwamm, und ich sah Ruls in der Morgendämmerung. Der Sturm war vorbei, und die aufgehende Sonne tauchte die Strände in blutiges Rot. Das Licht passte zu den Kreaturen, die sich an die Ufer zogen.
Zuerst dachte ich, sie würden sterben, denn sie krümmten und wanden sich kreischend im Sand, aber das täuschte.“
„Inwiefern?“
„Bei diesen Kreaturen handelte es sich um Mischwesen. Ihre Oberkörper muteten fast menschlich an, doch anstelle der Beine besaßen sie Schwanzflossen, wie die von Nixen oder Wassermännern. Dies änderte sich, sobald sie vollständig am Ufer waren. Denn bereits nach kurzer Zeit zerfielen die Flossen, und darunter kamen Beine zum Vorschein. Dies ging recht schnell vonstatten, und schon bald standen sie auf ihren Füßen und marschierten in mein Dorf.
Ihre Köpfe erinnerten an verschiedene Meeresbewohner, überwiegend Haie. Ich sah aber auch Wesen mit Fangarmen, wie die eines Kraken. Oder welche, die über lange Stachelschwänze verfügten. Äußerlich unterschieden sie sich völlig, aber eines hatten sie alle gemein – es waren blutrünstige Bestien.
Jeder, der sich wehrte, wurde unerbittlich getötet, zerfleischt und zum Teil auch gefressen. Die anderen, die meisten von ihnen waren Frauen und Kinder, und ein paar Stammeskrieger wurden auf dem Dorfplatz zusammengetrieben. Dort erwartete sie ein Wesen, das die Fischköpfigen völlig in den Schatten stellte. Anderthalbmal so groß wie Geralt, kohlrabenschwarze Haut, muskelbepackt, eisige graue Augen, lange schneeweiße Haare und riesige schwarze Flügel. Er begutachtete jeden einzelnen Dorfbewohner, und bis auf drei wurden alle anderen fortgebracht.
Die Ahnen brachen dort die Verbindung zu mir ab, und ich wurde wohl bewusstlos. Als ich erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, und ich war nicht mehr auf Ruls. Ich brauchte eine Weile, um herauszufinden, dass ich mich auf einer Nachbarinsel befand. Und bis heute ist mir schleierhaft, wie ich dorthin gelangen konnte. Aber da meine Heimatinsel nicht allzu weit entfernt war, baute ich mir ein schlichtes Floß und setzte über. Abgesehen von Kampfspuren und trockenem Blut fand ich nichts.
Fast einen Mond lang irrte ich über die Insel, in der Hoffnung, noch jemanden aus meinem Volk zu finden, aber ich war allein. Letztlich führte ich Totenrituale durch, auch wenn es an Leichen fehlte, und baute mir ein besseres Floß. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wieso ich dies tat. Wo sollte ich auch hin? Trotzdem sammelte ich einiges an Vorräten, füllte etliche Wasserbeutel und verstaute alles auf dem Floß. Ich tat diese Dinge wie in Trance, und heute denke ich, es waren die Ahnen, die mein Tun lenkten. Wie dem auch sei, in meiner letzten Nacht auf der Insel erwachte ich am Fuße des Feuerberges. Wieder einmal hatte ich keine Ahnung, wie ich dort hingekommen war, was mir in dem Moment auch zweitrangig erschien. Denn der Erdboden bebte, und der Berg spie plötzlich Rauch und flüssiges Feuer. Und mit den Feuerströmen kamen dann auch die Feuerfresser.“
„Feuerfresser? Was soll das sein?“
„Dazu komme ich gleich“, sagte Mo, wobei er ziemlich genervt klang.
Da Respa ausnahmsweise nichts dazu sagte, erzählte er weiter.
„Im Berg gab es einige tiefe Spalten und ein paar Höhlen, aus denen etliche dieser furchteinflößenden Kreaturen kamen. Starr vor Angst beobachtete ich, wie sie in den Magmaströmen badeten und die glühende Schlacke soffen. Und zu spät bemerkte ich das Ross, das wenige Schritte hinter mir stand.“
„Ross?“
Mo ignorierte die Frage.
„Ich spürte seinen kochend heißen Atem im Nacken und fuhr erschrocken herum, woraufhin sich das Magmaross direkt aufbäumte. Seine unglaubliche Hitze trieb mich zurück, aber es sprang mir sofort hinterher, und seine flammende Mähne streifte meine Schulter.“
Mo schob sein Hemd ein wenig zur Seite, um Respa die Brandnarben zu zeigen, die Schulter und Oberarm verunstalteten.
„Ich ging zu Boden und beobachtete entsetzt, wie es mit seinen Vorderbeinen aufstampfte. Ich konnte armdicke Muskelstränge sehen, die unter der schwarz-roten Haut hervortraten, und blickte nach oben in seine glimmenden Augen. Diese beobachteten mich tückisch, während ich auf dem Hintern von ihm wegrutschte. Ich schloss bereits mit meinem Leben ab. Aber es kam anders.
In mir regte sich etwas, und es fühlte sich an, als ob ich innerlich zerrissen würde. Ich weiß noch, dass ich den Mund aufriss, allerdings war es kein Schrei, den ich von mir gab. Die Ahnen des Wassers quollen aus mir heraus und sprangen sofort das Magmaross an. Dieses wieherte und schrie gequält, seine Haut dampfte, und als es ein paar Wasserelementaren gelang, in sein Maul einzudringen, wurde es stetig kleiner.“
„Es schrumpfte?“
„Ja, und nicht nur das. Es wurde zu einer kleinen Figur aus Lavastein, und nachdem dies geschehen war, kamen die Ahnen zu mir zurück. Sie waren sichtlich geschwächt und besaßen gerade einmal ein Zehntel ihrer vorherigen Größe. Doch darüber konnte ich mir keine weiteren Gedanken machen, denn der Berg bebte so heftig, dass ein Teil des Kraters einbrach. Mit einem ohrenbetäubenden Knall wurden unvorstellbare Massen an Lava und glühenden Gesteinsbrocken gen Himmel katapultiert.
Dies rüttelte mich aus meinem Schockzustand. Ich schnappte mir die Figur und rannte los. Wie oft ich wegen der bebenden Erde stürzte, vermag ich heute nicht mehr zu sagen, aber ich schaffte es irgendwie zum Strand.
Völlig erschöpft und zerschunden zerrte ich mein Floß ins Wasser und ruderte einige hundert Meter aufs offene Meer hinaus. Und von dort beobachtete ich, wie meine Heimat vom Feuer verschlungen wurde. Irgendwann schlief ich ein, und die Ahnen zeigten mir Visionen von der Zukunft. Ich sah eine Insel vor meinem geistigen Auge und eine junge Frau, der ich eines Tages zur Seite stehen sollte.“
Als er dies sagte, blickte er Respa vielsagend an.
„Hast du die Figur des Feuerwesens noch?“
„Ich hätte von dir so ziemlich jede Frage erwartet nach dem, was ich dir soeben erzählt habe, aber gewiss nicht diese. Um sie dir zu beantworten: Dies war auch Meleas erste Frage, nachdem ich Geralt, Rion und ihr meine Geschichte erzählt hatte. Und da sie völlig von dem Magmaross fasziniert schien, schenkte ich ihr die Figur. Aber nicht nur deswegen. Die Feuerahnen ließen mich damals schon wissen, wem sie diese Figur zugedacht hatten.“
„Nicht das einzige Geschenk, das du ihr heute gemacht hast, nicht wahr?“
„Wieso fragst du?“
„Ich sah in einer meiner Vision einen Meerstein, den sie um den Hals trug. Und ich fragte mich, von wem sie diesen wohl erhalten hat.“
„Der Stein wird sie schützen.“
„Ja, das wird er. Allerdings ist es fraglich, ob die Magie des Steins ausreicht, um sie vor dem Dunklen und dessen Vater zu beschützen. Gibt es noch etwas, was du ihr gegeben hast?“
„Nein. Von mir erhielt sie nur diese beiden Dinge. Aber als sie zu mir kam, hatte sie eine Meeresschnecke dabei, und sie trug einen neuen Armreif.“
Mo seufzte leise und schüttelte den Kopf.
„Was?“, hakte Respa nach.
„Sie hat heute unglaublich viel erlebt, und ich frage mich, wieso ausgerechnet alles auf einmal geschehen musste. Ich meine, sie war schon völlig fertig, als sie bei mir ankam.“
„Sie hat sich dir anvertraut?“
„Ja, Melea kommt oft zu mir, wenn ihr etwas auf der Seele liegt. Aber heute überschlugen sich die Ereignisse, und anstatt sie zu beruhigen, musste ich auch noch Öl ins Feuer gießen.“
„Was hat sie dir denn erzählt?“
„Von ihrer ersten Begegnung mit dem Hai und der Meeresschnecke, die sie kurz zuvor fand. Dann von einem kostbaren Geschenk, das Geralt ihr gemacht hat, und von der Prügelei zwischen ihm und ihrem Vater.
Tja, und als sie mir von dem Hai berichtete, war für mich klar, dass es begonnen hatte. Die erste Gabe hat sich gezeigt. Es ist nun an uns ihr zu helfen, damit umzugehen.“
„Was bezweckte Geralt mit dem Geschenk? Sag jetzt bloß nicht, der Schwerenöter hat ihr einen Antrag gemacht.“
Mo musste unwillkürlich lächeln, weil Respa mehr entsetzt als ärgerlich klang.
„Er machte ihr keinen Antrag. Aber ich denke, es läuft darauf hinaus. Ich gehe davon aus, dass Rion davon ebenso wenig angetan sein wird wie du.“
„Deswegen die Schlägerei?“
„Lea wusste nicht, warum sich die beiden gestritten haben. Und keiner der beiden hat sich bis jetzt dazu geäußert.“
„Oh je, das kann ja noch heiter werden.“
Er nickte und wich etwas zurück, als die Alte ihn plötzlich anfunkelte.
„So! Und jetzt erzählst du mir, wie Melea an einen deiner seltsamen Feuergeister kam.“
„Es sind Ahnen, oder nenn sie meinetwegen Elementare. Lea kam an einen, weil er sich sie ausgesucht hat. Oder, wenn es nach Lea geht, dann war es eine ‚sie‘.“
„Wenn es nach Lea geht? Wie meinst du das?“
„Ich sehe in den Ahnen feurige Kugeln. Auch Geralt, der mit Lea zusammen in das Ritual reinplatzte, sah sie so. Doch Lea erzählte uns, nachdem der Ahne in sie gefahren war und sie aus einer kurzen Bewusstlosigkeit erwachte, etwas anderes. Sie erkannte Gesichter in den feurigen Kugeln, und jene, die sie verfolgte, besaß wohl ein weibliches Antlitz. Und nur einen Lidschlag, bevor sie durch Leas Mund in ihren Körper drang, hat die Frau sie angelächelt.“
„Seltsam!“
„Und da ist noch was. Obwohl Lea in die Nähe mehrerer Ahnen gekommen war und sogar einen verschluckte, machte ihr die Hitze nichts aus. Zudem konnten Geralt und ich beobachten, wie ihre Augen glühend rot aufleuchteten, als sie aus der Bewusstlosigkeit erwachte. So wie die Augen des Magmarosses, als sie seine Figur berührte.“
„Dann hat sie wohl auch schon eine weitere Gabe erhalten.“
3
Lea stand an der Reling und atmete die kühle Nachtluft ein. Als sie jedoch für einen Moment ihre Augen schloss, sah sie direkt in die tiefschwarzen Augen des Dunklen. Und ganz nah an ihrem Ohr vernahm sie ein finsteres Knurren. Erschrocken riss sie die Augen auf und wandte den Kopf nach links, da von dort das Knurren erklungen war. Aber dort war niemand. Ein eisiger Schauer überlief sie.
„Wie kann das sein?“, fragte sie sich.
Sie tastete über ihren Hals und fühlte stechende Schmerzen.
„Ob dieses Flammenwesen damit zu tun hat?“
Lea zermarterte sich das Hirn, auch über die anderen Dinge, von denen Respa und Mo gesprochen hatten.
„Was hat das bloß alles zu bedeuten?“, flüsterte sie in den Wind.
„Was meinst du?“, fragte Rion, der urplötzlich neben ihr stand.
Lea zuckte zusammen.
„Wo kommst du so plötzlich her?“
„Ich stehe schon eine ganze Weile hinter dir. Aber sag, wie geht es dir? Du siehst mitgenommen aus.“
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Es ist so viel passiert in den letzten Stunden.“
Rion legte einen Arm um ihre Schultern.
„Darf ich dich etwas fragen?“
„Ja, natürlich.“
„Wie hast du den Hai dazu gebracht, euch zu helfen? Heute Morgen, das hätte ich noch als glücklichen Zufall gewähnt. Aber als er euch vorhin zum Boot brachte …“
Er unterbrach sich seufzend und bedachte Lea mit einem Kopfschütteln.
„Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll“, meinte er.
„Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Als ich Getica hinterhergetaucht bin und dieser Fischmann uns in seinen Fängen hatte, habe ich gedanklich um Hilfe gerufen. Der Hai hat mich anscheinend gehört. Er tötete das Wesen und bewahrte uns anschließend vor dem Ertrinken.“
„Geralt hat mir von der Kreatur erzählt. Ich begreife trotzdem nicht, wie dich der Hai verstehen konnte, oder diese seltsame Kreatur.“
Lea warf die Hände in die Luft.
„Ich weiß es doch auch nicht! Am besten fragst du Mowanye. Er meint, ich würde eine Gabe besitzen, die es mir erlaubt, mit Tieren zu sprechen. Ich hielt ihn daraufhin für verrückt, bis er mir mitteilte, dass magische Fähigkeiten vererbt werden können.“
Rion bekam große Augen.
„Vererbt?“
„Weißt du, ob meine Mutter über eine solche Gabe verfügte?“
„Deine Mutter? Ich … weiß nicht“, druckste er herum.
„Du hast mir noch nie etwas über sie erzählt. Warum eigentlich nicht?“
Rion seufzte und wich ihrem Blick aus.
„Ich weiß, Lea. Und es tut mir auch leid. Ich verspreche dir, wenn das hier vorbei ist, werde ich dir alles erzählen.“
„Das würde mich sehr freuen.“
Vorne im Bug schrie plötzlich jemand auf. Rion reagierte sofort und lief los.
„Geh hinunter und bleib dort“, rief er ihr über die Schulter hinweg zu.
Im Fackelschein konnte Lea die Männer sehen, die mit Speeren wild auf etwas einstachen.
„Was ist da los?“, murmelte sie und wandte sich der Luke zum Unterdeck zu, da sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.
Die Abdeckung stand noch offen. Irgendetwas schlängelte sich soeben hindurch und verschwand in der dunklen Öffnung. Lea überlegte nicht lange und sprintete hinterher. Bereits auf der steilen Treppe hörte sie aufgeregte Schreie, dennoch schloss sie die Luke über sich. Dann zog sie den Dolch und polterte eilig die Stufen hinab.
Im Lagerraum liefen die Frauen durcheinander, und Mo kam gerade aus Geralts Kajüte gestürmt.
„Was ist passiert?“, fragte er alarmiert.
Lea achtete nicht auf ihn und fragte die Frauen: „Wo ist es?“
Getica deutete mit zittriger Hand in eine Ecke, in der sich einige aufeinandergestapelte Säcke türmten.
„Hat es euch angegriffen?“, fragte Lea, als sie vor dem Stapel in die Hocke ging. Sie versuchte, das Tier oder was auch immer es war zwischen den Lücken zu entdecken.
„Es klatschte die Treppe runter und ging sofort auf die Kinder los. Susan hat danach getreten, traf es am Kopf und dann verschwand es in der Ecke“, antwortete Livilia.
„Was ist es?“, fragte Lea.
Niemand kam zu einer Antwort, denn in diesem Moment schoss etwas unter einem Sack hervor und auf Lea zu. Sie reagierte, indem sie den Dolch niederfahren ließ. Durch einen glücklichen Treffer nagelte sie es am Boden fest. Es wand sich zischend um den Dolch, und Mo, der neben Lea in die Hocke ging, meinte: „Es hat Ähnlichkeit mit einem Aal.“
Das Tier war gut einen Meter lang und so dick wie Leas Oberarm. Die graue Haut sonderte Unmengen von Schleim ab, aber da hörte die Ähnlichkeit mit einem Aal auch schon auf. Wo normalerweise der Kopf sein sollte, befand sich ein rundes Maul mit hunderten von nadelspitzen Zähnen, die in mehreren Reihen bis in den Rachen hinein reichten.