Kitabı oku: «ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT», sayfa 3

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Das blendende Licht

An diesem Abend, ausgerechnet an diesem Abend, verspürt er ein solch großes Verlangen nach ihr. Er hätte nicht sagen können, warum gerade an diesem Abend, an diesem Abend. Wie Elène so dasteht, wie sie dasteht in der Türe, ihr Büstenhalter zeichnet sich ganz deutlich unter ihrer dünnen weißen Bluse ab. Herr Börries sieht sie an, er sieht sie immer wieder an. Er sagt: „Gut siehst du aus!“ Und sie lacht und streicht sich eine Strähne ihres kurzen dunklen Haares aus dem Gesicht. Sie blinzelt, weil das Licht sie blendet, er hat einfach das Licht einschalten müssen, weil sie so dasteht.

Sie sagt: „Mach das Licht aus, es blendet.“

Er sagt: „Nein.“ Sie dreht sich um, und er sagt: „Bleib stehen, bitte, bleib stehen.“

Sie sagt: „Ich bin doch keine Stripperin, die sich im Scheinwerferlicht vor dir auszieht.“

„Doch, bitte, tu’s für mich.“

„Nein, nicht jetzt, ich hab’ heute keine Lust.“

Unten auf der Straße quietschen Bremsen. Herr Börries hört ein Splittern. Elène hört es gleichfalls, sie dreht sich wieder herum. Sie läuft so rasch an ihm vorüber, dass er sie nicht festhalten kann. Sie stellt sich ans Fenster und sieht hinunter. „Da ist jemand gegen die Laterne unten gefahren“, sagt sie mit ganz monotoner Stimme. „Er steigt jetzt aus und besieht den Schaden. Komisch, auf dem Beifahrersitz, das ist doch verboten, sitzt ein kleines Mädchen mit Rüschenbluse und blauem Rock. Es hält etwas Merkwürdiges im Arm. Ein Stoffherz. Die Laterne ist etwas umgeknickt, das Auto vorn verbeult. Er beugt sich über den Kotflügel.“

„Warum erzählst du mir das alles?“, fragt Herr Börries und überlegt, dass dort unten vermutlich kein kleines Mädchen sitzt. Wahrscheinlich will sie ihm nur zu verstehen geben, dass sie ihn durchschaut hat, und sie will ihn quälen – sich selbst nicht? Quält sie sich selbst mit ihrer Erzählung nicht?

„Warum erzählst du mir das alles?“, fragt Herr Börries jetzt erneut. „Es interessiert mich nicht, selbst, wenn’s stimmt.“

„Dich interessiert nie etwas, was ich sage. Du glaubst auch nie etwas von dem, was ich sage. Alles, was dich interessiert, alles, woran du glaubst, ist Ficken.“

Das stimmt nicht, denkt Herr Börries.

„Doch, das stimmt. Meinst du etwa, ich würde dich nicht kennen? Wir leben schließlich lange genug miteinander.“

„Genug, komm her“, sagt Herr Börries.

„Nein“, sagt sie. „Er begeht Unfallflucht, er steigt wieder in den Wagen, hat sich vorher misstrauisch umgesehen, ob ihn auch niemand beobachtet hat. Wenn er wüsste, dass ich ihn beobachtet habe, würde er jetzt nicht einfach zurücksetzen und losfahren, als wäre nichts geschehen. Das mit dem kleinen Mädchen kommt mir irgendwie komisch vor.“ Mit ganz monotoner Stimme.

„Du langweilst mich.“

„Müssen wir uns heute Abend schon wieder streiten?“

„Wieso?“, fragt Herr Börries. „Ich streite mich nicht, ich habe überhaupt keine Lust, mich zu streiten, mit dir sowieso schon nicht.“

Sie streicht sich über die dunklen Haare.

Sie will mich herausfordern, denkt Herr Börries.

„Ich hab’s gewusst, du bist verödet“, sagt sie. „Schon lange taugst du nichts mehr, schon lange frage ich mich, weshalb wir beide eigentlich noch zusammenleben.“

„Jetzt fängst du schon wieder damit an. Warum siehst du mich nicht an, wenn du mit mir sprichst?“

„Du ödest mich an. Wenn ich dich ansehen muss, bekomme ich vor lauter Öde kein Wort mehr heraus. Ich hätte mir die Autonummer merken sollen.“

„Wozu?“

„Na, das ist doch klar! Was meinst du, wenn jeder einfach davonfahren würde, nachdem er eine Straßenlaterne beschädigt hat. Und außerdem, die Sache mit dem kleinen Mädchen. Das kommt mir nicht geheuer vor.“

„Jetzt lass das kleine Mädchen aus dem Spiel und lenk nicht immer ab!“

Herr Börries nimmt die Zigarettenschachtel – verdammt, schon wieder! Warum lässt er sie immerzu einfach so in der Wohnung liegen? – Er zerknüllt sie und will sie in den Papierkorb werfen, trifft jedoch daneben. Die zerknüllte Zigarettenschachtel fällt auf den Teppich. Er ärgert sich darüber, bringt es jedoch nicht fertig, aufzustehen und sie aufzuheben. Die Zigarettenschachtel liegt genau unter der Lampe, die sie erst vor ein paar Tagen gekauft haben. Ein schwerer Messingleuchter, den er mit viel Mühe in die Decke gedübelt hat.

„Weißt du“, sagt Elène auf einmal, „wir sollten uns trennen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen, was wir uns nicht schon hunderte von Malen gesagt hätten. Ich bin’s leid, immer dasselbe zu sagen.“

Herr Börries ist weniger erschrocken, als er vielleicht hätte sein müssen, denn sie hat nur ausgesprochen, was er selbst schon oft genug gedacht hat. Außerdem muss er bei ihren Worten an die Baronesse Angélique von Lichtblau denken. Aber er schiebt ihr Bild für den Augenblick beiseite. Oft genug, so überlegt er, hat er schon im Bett neben Elène gelegen und gedacht, dass es wohl besser wäre, sie würden sich trennen. Doch dann überkommt ihn erneut dieses Verlangen nach ihr. Nein, sie hätte es nicht gerade in dem Augenblick sagen dürfen, in dem er ein solches Verlangen nach ihr hat.

„Komm her“, sagt er, „bitte!“ Und er versucht, seinen Ärger über ihre Worte nicht in seiner Stimme mitschwingen zu lassen.

„Was faselst du da?“, fragt Elène. „Du bist doch ein Heuchler!“

Immer nennt sie ihn einen Heuchler, wenn er versucht, einen Streit dadurch beizulegen, dass sie miteinander ins Bett gehen.

„Nein“, sagt sie, „heute Abend bleibt dein Schwanz in der Unterhose, nein, heute Abend nicht. Ich bin es leid.“

„Du hast einen anderen“, sagt er, und wieder denkt er an die Baronesse. Sie beginnt zu lachen, lauthals zu lachen, so laut, wie er es von ihr schon lange nicht mehr gehört hatte. So laut und zynisch.

„Etwas anderes fällt dir dazu nicht ein“, sagt sie, immer noch lauthals lachend. „Das ist mal wieder typisch. Nein, du Heuchler, ich … und was wäre, wenn ich einen hätte? Was wäre, wenn?“ Sie hält kurz inne. „Und was ist denn mit dir?“

Er erschrickt. Weiß sie etwa von der Baronesse?

„Jetzt erschrickst du – oder spielst du nur den Erschreckten? Bestimmt spielst du nur den Erschreckten. Du kannst nichts anderes als spielen, das weiß ich doch genau.“

„Komm“, sagt er, „ich habe es nicht so gemeint.“

„Doch!“ Sie sieht ihm – jetzt auf einmal doch – direkt in die Augen. „Du hast es genauso gemeint, wie du’s jetzt gesagt hast, du kannst deine Liebe spielen, denn du weißt gar nicht, was das ist. Lieben. Du bist nur dann ehrlich, wenn du deinen Hass oder deine Gleichgültigkeit zeigen kannst. Du widerst mich an!“

„Aber du heuchelst deinen Hass“, sagt er.

Da spuckt sie ihm ins Gesicht.

„Pass auf, das Regal“, entfährt es ihm, denn sie lehnt sich dagegen, und es beginnt zu schwanken, so stark, dass ein paar Bücher herausfallen. Sie bückt sich und sammelt sie ein, behält sie aber in der Hand, anstatt sie ins Regal zurückzustellen. Herr Börries denkt schon, sie wollte ihm die Bücher an den Kopf werfen und dazu schreien: „Du und deine Scheiß-Bücher“, wie sie es häufig tut. Die Spucke rinnt ihm an der Wange herab, er zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischt sich das Gesicht ab. Dann sieht er sie an, weil sie erneut laut lacht.

„Wie dumm du jetzt aussiehst. Das hättest du nicht erwartet, stimmt’s?“ Er sagt nichts.

Da fällt ihr Blick auf die zerknüllte Zigarettenschachtel. Sie bückt sich wiederum. Im gleichen Moment knirscht etwas, und dann fällt der schwere Messingleuchter herab, ihr genau auf den Hinterkopf.

Er hat sie nicht umbringen wollen, ganz gewiss nicht, ganz gewiss hat er sie nicht umbringen wollen, besonders nicht an diesem Abend, an dem er doch ein viel zu starkes Verlangen nach ihr hatte. Ihre Augen werden ganz starr, er kann es sehen, ihre grünen Augen. Blut rinnt auf den Teppich, und der Gedanke fährt Herrn Börries durch den Kopf, ganz unwillkürlich: „Wie werde ich ihn bloß sauber bekommen?“

Weiß er doch genau, wie sehr Elène es hasste, wenn der Teppich verunreinigt war, sei es mit Straßenschmutz, sei es mit Rotwein oder Zigarettenasche. „Immer diese Rotweinflecken“, schrie sie stets, „die kriegt man doch nicht wieder richtig raus! Und diese Zigarettenasche!“ Dann hielt sie immer inne, sah ihn misstrauisch an. „Du rauchst doch wieder heimlich.“ Vergebens, dass er ihr versicherte, nicht er sei es, der die Wohnung mit Zigarettenasche verschmutzte. Natürlich glaubte sie ihm kein Wort.

Jetzt aber denkt er: Ich habe sie doch gar nicht umgebracht. Ich habe sie wirklich nicht umbringen wollen. Nicht in Wirklichkeit. Manchmal schon, wenn er abends im Bett neben ihr gelegen hat, hat er gedacht: Ich bringe sie um, dann bin ich sie ein für alle Mal los. Und wieder fährt ihm unwillkürlich der Gedanke an die Baronesse Angélique von Lichtblau durch den Kopf. So ganz deutlich kann er sie nicht erkennen, lediglich ihre kurzen, weißblond gefärbten Haare, den ausrasierten Nacken. Wie sehr gefällt es ihr, wenn er mit dem Finger darüberfährt. Doch dann sieht er wieder Eléne vor sich, unten auf dem Teppich, so starr. Ich habe sie in Wirklichkeit nicht umbringen wollen, denkt er. Nicht am heutigen Abend, selbst nach diesem Streit, der am Ende doch wieder im Bett geendet hätte. Das hätte gar nicht anders sein können. Dann wären sie wilder denn je, das war immer so. Endeten ihre Auseinandersetzungen im Bett, dann waren sie wilder denn je. Sie liebten sich bis zur totalen Erschöpfung, sie konnten gar nicht genug voneinander bekommen. Immer wieder, immer bis zur totalen Erschöpfung liebten sie sich. Aber jetzt liegt sie da ganz tot, ganz starr, sogar aus dem Mund fließt Blut. Der Dübel hat nicht gehalten, denkt Herr Börries, ich hatte den Dübel nicht fest genug in die Decke eingegipst. Sie hat gleich gesagt, der Dübel sitzt locker, aber ich habe ihr nicht glauben wollen, und da hat sie recht gehabt, denkt er, aber das ist jetzt auch gleichgültig. Und er überlegt, was er tun soll. Den Notarzt rufen? Der kann allerdings nicht mehr helfen. Die Polizei? Die Kommissare würden ihm nicht glauben, die würden glauben, dass er sie umbringen wollte, dass er sie erschlagen hat, vor allem, wenn ihnen die Nachbarn erzählen, dass sie sich an diesem Abend wieder gestritten haben. Das müssen die Nachbarn deutlich gehört haben, überlegt Herr Börries, dass wir uns heute Abend wieder gestritten haben. Sie ihrerseits hören ja auch, wenn die da nebenan sich laut unterhalten. Wie häufig hat Elène ihn unterbrochen, wenn er etwas sagte, wenn er sie ins Bett holen wollte, und gesagt, sie wolle hören, was die Nachbarn zu sagen hätten.

Ihn wundert es, dass noch niemand bei ihnen geklingelt hat. Es musste doch überall zu hören gewesen sein. Es hat doch, überlegt Herr Börries, einen Höllenlärm verursacht, als der Leuchter herabgefallen ist. Mein Gott, sie ist tot! Sie bewegt sich nicht mehr. Sie ist tot. Er hat es nicht gewollt, nein, niemals hat er das gewollt. Er denkt, er hätte den Messingleuchter besser eingipsen sollen, und er denkt: Was mache ich jetzt bloß, was mache ich jetzt bloß! Ihre Bluse ist ihr aus dem Rock gerutscht, das nimmt er zur Kenntnis, das bemerkt er, das registriert er, und er überlegt nicht, ob es angemessen ist, dass er in diesem Moment so etwas registriert. Er kann nicht die Polizei oder den Notarzt rufen. Wer würde ihm glauben, wer würde ihm glauben, hat er doch gestern noch zu seinem Kumpel Bernhard gesagt, dass er seine Frau manchmal am liebsten umbringen würde. Gestern, vorn an der Theke im Café Die Kaiserin von Österreich. Sie hatten zu viel getrunken, aber Bernhard erinnert sich bestimmt noch daran, und er würde es der Polizei sagen. Was soll Herr Börries jetzt also tun? Was kann er tun? Das Foto da drüben hängt schon wieder schief. Ist das nicht gleichgültig? Das Foto vom Teich. Vom Teich, vom stillen Teich, auf dessen glattem Wasser sich der volle Mond spiegelt (Welcher der Monde war das wohl?). Unser Teich, Elène, unser Teich. Du hast ihn immer so gern gemocht, so gern hast du dort gesessen, wenn es eine klare Nacht war und der Mond so auf das stille Wasser geschienen hat. Aber natürlich …

Ist die Filmrolle hier schon zu Ende, Willi Be? Schlecht. Genau in diesem Augenblick, wo’s offenbar interessant geworden ist. Ansonsten waren die Aufnahmen allerdings gut, ich glaube, die können wir verwerten.

Begegnung

Diese ziellosen ersten vier Tage in der Stadt. Peter Piechowiak muss sich nicht auf einen neuen Rhythmus einstellen, sondern auf viele, allzu viele – viele, allzu viele Touristen, die ihre Heimat mit in die Kärntnerstraße tragen. Aus den Gepäckräumen der Busse strömt München, Split, Ulm, Kopenhagen. Die Kameras klicken auf Englisch, Französisch, Japanisch. Tokio kommt draußen in Schwechat am Flughafen an und quillt dann in die Stadt. Eine einzije jroße Weltfamilje. (Ist das ein Zitat, Willi Be?) Immer wieder vergebliche Versuche, sich via Dirndl und Kniebundhose zum Einheimischen hochzuadeln.

„Sache ma, wo is denn hier dat Hofbräuhaus?“

„Määnsch, Willi, dat is doch in Münschen.“

Da war auch Peter Piechowiak einmal zu Hause, obgleich er weiß, dass er da niemals mehr akzeptiert werden würde. Sind die dumpfen Kindheitserinnerungen an eine muffige Stadt. Aber die fliegen zu rasch übers buntgemusterte Dach des Stephansdoms davon. Vom Stephansdom ist er übrigens maßlos enttäuscht. Nichts mit vernünftigem Orgelkonzert. Er denkt: Fehlt bloß noch ein Getränkeautomat vorm Hochaltar. Geht er zur Untergrundbahn, findet dort eine alte, uralte Kirche mit einem verschwommenen Gesicht an einer der Wände. „Keiner weiß net, wer dös sein sollt.“

Träumt er in der folgenden Nacht, das Gesicht stiege zu ihm herab, legte sich neben ihn. Trat direkt aus der Wand. Hat er am Morgen kaum noch eine Erinnerung daran, wie es ausgesehen. Zum Gott sei Dank, die Tage schönwettrig. Er denkt an jedem Abend, entweder im Pensionszimmer, in der Pizzeria im Erdgeschoss oder im Café um die Ecke, er müsse nun seine Eindrücke des Tages notieren. Ein Tagebuch schreiben. Er schreibt nicht gern.

Manchmal streift er durch eine Buchhandlung oder ein Antiquariat, sucht müßig herum, denkt ab und zu an Perutz, findet jedoch nur selten ein Buch von ihm. Alles hält ihn in den ersten vier Tagen nahe der Kärtnerstraße, im 1. Bezirk. Als ob anderwärts etwas drohte. Häufig jedoch landet er bei Maria am Gestade, blickt hinunter auf die Straße, die zur Börse führt. (Börsegasse)

Er nimmt sich jedes Mal vor, diese Straße demnächst weiterzugehen. Schließlich wäre das der direkte Weg zu seiner Pension. Stattdessen immer zurück in die Innenstadt, die U-Bahn genommen, am Donaukanal ausgestiegen, sich durch ein paar Gassen geschlängelt. Kein Vertrauen zur Welt? Vielleicht, weil U-Bahnen vertrauter? Dabei in Göttingen keine U-Bahn. Wie einen Vulkan, den er erwartet und von dem er nicht weiß, ob er ihn gnädiglich aufzunehmen oder zu verbrennen gedenkt. Ein ungeheurer Himmel, an dem der halbe Mond (der zweite schon?) aufgehängt ward. Das an einem der vier Abende, an dem er zurück in die Pension ging.

Dort ein Zimmer: viel schmaler als hoch. Kein Telegramm von Tina oder … von wem sonst? Endgültiges Abbrechen von Brücken? Stattdessen die müde Nachttischlampe und kein Frühling.

Schließlich heiße Julinacht.

Das nicht die wesentlichen Geschehnisse, was, Willi Be?

Das stimmt. Welches jedoch könnten die wesentlichen Geschehnisse sein?

Dann packt Peter Piechowiak in der Kärtnerstraße doch seine Gitarre aus dem schwarzen Gitarrenkasten. Gesellt sich zu den Übrigen und singt. Die Tage zu strecken. Vielleicht fünfundzwanzig statt vierundzwanzig. Sieht er viele Menschen vorüberziehen.

Sieht er eine junge Frau mit langem blondem Zopf vorüberziehen, in Begleitung eines Mannes, der schon ein gutes Stück älter als sie ist. Der Mann trägt einen Anzug, ein weißes Hemd, Krawatte, die junge Frau ein weites buntes Sommerkleid. Sie wären ihm vielleicht gar nicht weiter aufgefallen, wenn nicht der Mann so abrupt stehengeblieben wäre und Peter Piechowiak so grimmig, grimmig, ja!, angesehen hätte, dass er aufmerksam werden musste. Die junge Frau lässt den Blick aus braunen Augen zwischen ihrem Begleiter und Peter Piechowiak hin- und hergehen. Sieht er sie erst jetzt richtig an.

Das sind die Augenblicke, denkt er, da einem niemals das eine, das entscheidende Wort einfällt. Solange die beiden vor ihm stehen, vermag er nicht weiterzusingen. Er tut so, als müsse er die Gitarre nachstimmen. Ein Schatten tritt vor ihn auf den Boden. Der Schatten hebt die Hand und lässt eine Münze in den Gitarrenkasten fallen. „Danke“, haucht Peter Piechowiak schattengleich. Der Schatten wirf den langen Zopf auf den Rücken, bevor er verschwindet. Finger zittern, als sie die Saiten niederdrücken.

Nun denn, ist die Stimme zittriger denn je, sind die Finger schweißfeuchter denn je, vergisst er öfter denn je den Text. Der Tag verdorben fürs Singen. Die Kärtnerstraße wie nicht vorhanden. Was ist das unter ihm? Straßenpflaster? Er bleibt stehen, bückt sich, betastet die Steine: heißes Straßenpflaster. Manche der Passanten schütteln den Kopf, die meisten nehmen ihn nicht wahr, nicht in ihr Gedächtnis auf – Kieselstein im Fluss.

„Suchen S’ was?“

„Ja, einen Schatten … nein, nichts, danke.“

Das jähe Schaudern in der Hitze.

Ist doch gar nichts gewesen, gar nichts weiter. Und noch lange nicht das Tagessoll erfüllt. Ein Schatten, mehr nicht. Stehenbleiben von Gedanken. Wie bewusstlos werden bei vollem Bewusstsein. Er weicht denen aus, die ihm entgegenkommen, er sieht nach links, bevor er die Einbahnstraße beim Stephansdom überschreitet, er registriert die Würstl-Bude weiter unten auf der Straße, er spürt seinen Hunger, er weiß, dass er ihn mit einem Hot-Dog oder ein Paar Frankfurtern annähernd, provisorisch, stillen könnte.

Maria am Gestade. Vor sich die Börsegasse, die er bisher noch nie betreten hat. Breite Stufen hinab zur Straße. Wien-Teenies, die sich ihre Disco via Walkman in den Schädel hämmern. Hast du diesen Gedanken aufgenommen, Willi Be? Klar, wird sich in der Szene gut machen.

Die Sonne brüllt gnadenlos aufs Pflaster, ein Gewitter scheint möglich – zunehmende Schwüle am Nachmittag. Zum Glück schirmen die Bäume die unmittelbare Glut ab. Vorüber am Rotbacksteinbau der Börse. Schottenring. Parkspur. Trambahnschienen. Straße. Trambahnschienen. Parkspur. Der Fußgängerüberweg direkt auf eine Buchhandlung: Buchhandlung Börries, von der anderen Straßenseite gerade noch lesbar. Eingeklemmt zwischen einem Modelleisenbahn-Geschäft und einem Münzgeschäft. Tabak gibt’s in der Trafik – Was interessiert Peter Piechowiak Tabak? –, Pelze in der Kürschnerei. Die Altkatholiken im dritten Stockwerk überspringt er gleichgültig. Nur die Buchhandlung. Kannst du dir denken, Willi Be, weshalb ihn gerade die Buchhandlung interessiert? Kann ich nicht, aber wir werden’s ja bald merken.

Das Schicksal ein gütiges. Aber wer spricht denn hier von Schicksal? Wer glaubt denn noch daran? Das ist alles der purste Zufall.

Dass Peter Piechowiak seinen Schatten in der Buchhandlung Börries wiederfindet – ausgerechnet hier.

„Sie wünschen?“

Von nun an gibt’s kein Zurück mehr. Einmal diese braunen Augen, einmal dieses bezaubernde Lächeln gesehen, auch wenn's lediglich geschäftsmäßig gemeint ist,– dort draußen vor der Tür liegt Wien, und hier drinnen die Ewigkeit.

Dreh die Blende gut zu, Willi Be, so viel Pathos führt leicht zu Überbelichtungen!

„Haben Sie Bücher … Bücher …“

„Natürlich haben wir Bücher.“

Diese urherzliche Ironie, dieser labende Spott.

Peter Piechowiak bringt es fertig zu lachen.

„Das weiß ich, dass Sie Bücher haben.“

Die junge Verkäuferin lacht mit.

„Sie meinen natürlich ganz bestimmte.“ (Oh Herrlichkeit der Trivialität!)

„Ja, nämlich von einem gewissen Perutz, wie die Filmmarke.“

Willi Be grunzt. Von der hält er überhaupt nichts.

Die junge Verkäuferin geht an den Regalen entlang – Alphabetismus. Rasch bei „P“ angekommen. Bückt sie sich, zieht zwei Bücher heraus. „Ja, hier, sehen Sie? Das ist aber leider auch alles, was wir momentan vorrätig haben. Wenn Sie einen bestimmten Titel wünschen, können wir ihn natürlich bestellen. Morgen ist er da.“

Sie reicht ihm die beiden Taschenbücher. „Zwischen neun und neun“, „Nachts unter der Steinernen Brücke“. Peter Piechowiak hätte die Bücher gekauft, selbst wenn er sie schon neun Mal besessen hätte. Er besitzt sie jedoch nicht.

„Kennen Sie die Bücher?“

„Nur das eine, das von der Steinernen Brücke. Rose und Rosmarin, eine wunderschöne Geschichte.“

Willi Be, Kamera drauf: In ihren Augen glitzert’s verdächtig. Romantik, vor allem romantische Mädchen machen sich in einer Reportage immer gut.

„Ich nehme die beiden Bücher.“

„Kommen Sie bitte mit.“

Er geht hinter ihr, riecht den leisen Schweißgeruch. Und erst jetzt fällt ihm auf, dass da neben der Kassa ein Mann steht, in einem Anzug, und dass dieser Mann ihn offensichtlich missvergnügt ansieht. Er versteht das Missvergnügen nicht, hat er doch gerade zwei Bücher gekauft.

Die Finger der jungen Verkäuferin gleiten geschickt über die Tasten der Kassa.

„Macht hundertzehn Schillinge.“

Peter Piechowiak kramt in den Taschen seiner Jeans, zieht ein paar zerknüllte Papiertaschentücher ans Licht, einen Radiergummi, ein Plektron und endlich, endlich, einige Scheine. Der Mann im Anzug, wahrscheinlich Herr Börries, denkt Peter Piechowiak, rümpft die Nase, und Peter Piechowiak stopft hastig die zerknüllten Papiertaschentücher zurück in die Hosentaschen.

„Das ist aber nicht genug.“

„Wie bitte?“

Die junge Verkäuferin hat die Scheine glattgestrichen.

„Das sind erst neunzig Schillinge.“

„Entschuldigen Sie. Ich bin noch nicht sehr lange in Wien und komme mit den Schillingen immer noch nicht so ganz klar.“

Er kramt weiter, stößt auf Münzen, sammelt sie in die hohle Hand, zählt nach, wobei er ab und zu eine Münze genau betrachtet. „Ich glaube, jetzt reicht’s.“

Die junge Verkäuferin zählt nach.

„Ja, stimmt. Und jetzt müssen wir uns eine Weile auch nicht mehr ums Kleingeld sorgen.“

Peter Piechowiak errötet. Sie bemerkt’s, ja, sie bemerkt’s. Wenn man noch mehr könnte als erröten, jetzt geschähe es Peter Piechowiak. Aber sie lächelt wieder ihr bezauberndes Lächeln (tatsächlich rein geschäftsmäßig?), und er erträgt’s.

Als Peter Piechowiak das Geschäft verlässt, nur einen Gedanken: Wie würde das werden? Das Funkgerät mit größter Kraft senden lassen, und drüben kein Empfang, weil sie ihrerseits woandershin mit voller Kraft sendet? Und empfängt? (welcher Doppelsinn!) Oder überhaupt nicht sendet? Oder gar nicht senden will? Jähe Trauer. Er hat er vergessen, einen Stamm zu gründen. Rechtzeitig. Seine Tage sind doch schon längst vorüber. Was jetzt noch kommen kann, ist lediglich kindischer Nachschlag: Sie wollen in den Gesellschaftswagen der wahren Lebenden einsteigen? Wie langsam, denken Sie, fahren wir? Nur wer seine Knochen beisammen hat oder eine Frau oder ein kleines Kind auf dem Arm trägt, schleppt, hat eine Chance. Was denken Sie!

Woher diese jähe Niedergeschlagenheit? Das Pflaster federt nicht mehr unter den Turnschuhen, die Hauswände zerkratzen erbarmungslos die Haut, wenn er daran entlangstreift. Das Restaurant Almhütte, wo er hat essen wollen, natürlich geschlossen. Wien fällt über ihm zusammen. Was zu erwarten? Wie viel Tage bleiben zum Überleben? Eine Zeit lang könnte er die Banken noch mit ungedeckten Euroschecks täuschen. Wie schnell die Welt zusammenschnurren kann! Drei, vier Nächte, und das Essen aufs Frühstück zurückstutzen. Fünf Nächte bei gutem Verdienst in der Kärtnerstraße.

Lacht er laut auf. Hat er sich bei seiner Kopfrechnung geirrt. Mark statt Schillinge gerechnet. Dennoch – mehr als fünfundzwanzig weitere Tage stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Fünfundzwanzig weitere Tage – die halbe Ewigkeit. Und die ganze – wo zu finden?

Im Hotel wirft er sich aufs frisch gemachte Bett. Welch ein Tag! Oh, ist das eine Liebe, so tief aus dem Bauch heraus – sie geht wirklich durch den Magen.

Er könnte heulen vor Glück und Elend. Und draußen vor der Tür wartet der Ernst, genannt das Leben. „Ich glaube“, sagt er vor sich hin, und er weiß es gar nicht, dass er es laut sagt, „wir können hinausgehen und uns ihm stellen, liebe junge Verkäuferin – vertrauen wir einander.“ (Wie absurd - kennen sie sich doch gar nicht.)

Und weiter: „Versichern wir uns hier einmal nicht gegen Blitz und Hagelschlag. Versichern wir uns nicht. Seien wir unvorsichtig, gehen wir ohne Macheten in den brasilianischen Dschungel. Vielleicht küsst uns die schwarze Witwe ja nicht. Der Herr Kaiser – „Hallo, Herr Kaiser!“ – soll uns gestohlen bleiben. Gönnen wir uns die Verantwortung, uns! Sind wir denn dazu da, mühelos durchs Leben zu gleiten?“

Und vom Hals der Rotweinflasche tropft der Wein wie Blut. Die Tür zum Hotelzimmer presst sich so bescheiden in die Ecke. Fürchtet sie sich vor den hohen Wänden und der Schmalheit? Vor dem alten, zerbrochenen Kronleuchter? Der fällt schon nicht herab. Etwa vor der Bibel? Sprich zur Weisheit: Du bist meine Schwester, und nenne die Klugheit deine Freundin, dass sie dich behüte vor der Frau des andern, vor der Fremden, die glatte Worte gibt.

Wie kann so etwas zur Weltreligion werden? (Nach einer Literflasche Rotwein ist alles möglich.) Lass mich niemals so ’n geistiger Vorfurzer wer’n.

Schrank verdoppelt, Kronleuchter verdoppelt, Tür verdoppelt, alles verdoppelt. Ich verdoppelt. Nur Liebe einzig.

Dem Schaukeln nach zu urteilen befindet sich Peter Piechowiak auf dem Teppich des Abdullah im Prater. Warten auf den Überschlag. Zu viel Flüssigkeit im Bauch.

Am Morgen kriecht ein dicker schwarzer Kater über die Bettdecke. Peter Piechowiak öffnet das Fenster, aber so schnell lässt sich das Vieh nicht vertreiben. Sein Kopf behäbig auf den Kissen.

Nun gilt’s, täglich den Weg zu Maria am Gestade zu suchen. Und zwischendurch Buchhandlung Börries. Heute die junge Verkäuferin nicht da. Herr Börries weidet sich offensichtlich an Peter Piechowiaks Verlegenheit. Hat er doch kein Geld mehr für Bücher. Hat er eigentlich auch nie gehabt.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“

Natürlich sucht er etwas Bestimmtes. Aber das Bestimmte ist nicht da, und Herr Börries weiß es, natürlich. Oh, dieses falsche, falsche Lächeln.

„Nein, danke, ich wollte mich nur ein wenig umsehen.“

Wie ein geprügelter Dieb verlässt er das Geschäft. Gewitterdampf auf den Straßen. Das würde keiner der guten Tage werden. Geht Peter Piechowiak nicht in die Innenstadt, kehrt lieber in die Pension zurück – da putzen sie gerade die Zimmer. Wohin jetzt? Die Treppe wieder hinabgehen, sich den Kopf stoßen (zum wie vielten Mal?): Wohin sich wenden in dieser schweren Zeit? Vielleicht hinüber zur Strudlhofstiege? Setzt er sich in den Liechtensteinpark auf eine Bank und kann mit den Skulpturen vor sich auf dem Rasen nichts anfangen. Bleiben sie noch nicht einmal schemenhaft im Gedächtnis. Ob er nicht doch lieber nach Göttingen? Dort hätte er zur Not immer gewusst – jetzt hier. Und hier will er sein. Dösen. Während das Gemurmel der Stadt sich durchs Tor auch in seine Ohren drängt. Oder doch über die Porzellangasse treiben? Über den Broadway von Wien, wie lächerlich! Viel zu kurz zum Sammeln der Gedanken. Treiben wie das schmutzige Wasser des Donaukanals.

Im Anfang schuf Peter Piechowiak Himmel und Seele. Und die Seele war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Peter Piechowiaks schwebte über dem Wasser des Donaukanals. Und Peter Piechowiak sprach: Es werde Licht.

Und es ward Licht?

Und Peter Piechowiak sah, dass das Licht gut war. Da schied Peter Piechowiak Göttingen von Wien und nannte Wien Tag und Göttingen Nacht. Da ward aus Abend und Morgen die Liebe.

Jeder hat nur eine Liebe, auch wenn er oftmals liebt.

Niemals hat er seine Stümpfe kauterisieren lassen, wie so viele seiner fortschrittlichen Freunde und Freundinnen. Ein Fossil, ein Relikt, eine Unmöglichkeit in den elysischen Gefilden unserer schönen neuen Welt. Gut genug für den Zoo.

Tina: „Ja, ich liebe dich, aber das will weiter nur so viel bedeuten, dass ich genauso gut mit Reinhard eine Nacht oder einen Tag im Bett verbringen kann. Garantieren kann und will ich dir nichts. Ich spüre so viel Liebe in mir, dass sie für mehr als einen allein ausreicht.“

Karina: „Ich möchte mich mal wieder so richtig verlieben. Dass mir die Tränen kommen, von mir aus, dass ich mich unglücklich fühle, aber ich will wieder lieben, Peter. So, wie’s bei uns zu Beginn war.“

Günther: „Diese bürgerliche Einehe war doch sowieso sofort zum Scheitern verurteilt.“

Peter Piechowiak hört nicht mehr weiter hin. Ist ganz unbewusst in die Kärtnerstraße zurück. Den geöffneten Gitarrenkasten umlagern einige frühzwanziger Alternativ-Tripler. Peter Piechowiak singt forsche Freiheitslieder, die tief betroffen machen – und alles nickt Beifall. Nur Knete gibt’s keine.

Bald entlädt sich – endlich – das Gewitter. Peter Piechowiak flüchtet nicht wie die Übrigen, sondern rafft erst mal die paar Schillinge zusammen, verstaut seine Gitarre, die darf nicht nass werden.

Maria am Gestade, Börsegasse. Die Haare klatschnass im Nacken, Hemd und Hose völlig durch. Der Guss schon wieder vorbei. Auf dem Schottenring glitzert die Stadt. Buchhandlung Börries. Herr Börries noch immer allein im Geschäft.

Willi Be: Der Typ langweilt mich allmählich.

Ich: Halt den Mund, Willi Be, da geschieht noch was, ich hab’s im Urin.

Willi Be: Ferkel.

Ich: Siehst du?

Peter Piechowiak will gerade wieder gehen, da kommt die junge Verkäuferin auf ihn zu. Sie will an ihm vorübergehen, stutzt, und dann lächelt sie. Sie kann bezaubernd lächeln.

„Ach, Sie.“

Wieder nicht das rechte Wort finden, welch ein Tölpel er manches Mal ist.

„Wollen Sie zu uns?“

„Ja, nein, nicht direkt …“

„Ich habe im Augenblick keine Zeit“, sagt sie, „wenn Sie so gegen ein Viertel sieben kommen wollen?“