Kitabı oku: «ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT», sayfa 4

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Verschwindet sie im Geschäft. Peter Piechowiak wie betäubt von ihren Worten. Sie fand die rechten. Geht er langsam um die Ecke, wird er dort beinahe von der Automeute an der Kreuzung überfahren. Das Pensionszimmer wieder frei.

Drei Stunden müssen die Uhrzeiger nun abfahren. Am Tisch sitzen, die Uhr vor sich, beobachten, wie lange hält er das aus? Kein Gedanke. Das Schlagen der Gardine hinter ihm. Die Luft merklich frischer nach dem Guss. Das Knarren von Schritten draußen im Flur. Gelächter, Worte in einer Sprache, die er nicht versteht. Und die Zeiger kommen nicht voran. Ja, die Zeit, die trägt zweierlei Schuh', in dem einen hinkt sie, in dem anderen springt sie. Rollt offenbar eine Tram über die Porzellangasse. Fahren, denkt Peter Piechowiak, fahren. Vielleicht geht’s dann besser. Bleibt sitzen. In einem Irrgarten auf der Stelle treten.

Alle alten Ängste holen ihn ein (Hat er sie nicht in Göttingen zurücklassen wollen?): Das alte, älteste Spiel der Welt, wie oft schon trotz aller scheinbaren Gewinne verloren, immer wieder verloren. Kann man das überhaupt je gewinnen – kann man das alte, älteste Spiel der Welt jemals gewinnen? Und heute? Was besagt eine hingeworfene Bemerkung? Und wieder sackt ihm der Fußboden unterm Stuhl weg, wie damals, bei dem kurzen Erdbeben. Sieht er die Sterne vor sich und stürzt, stürzt, stürzt zugleich nicht. Im Weltraum kann niemand stürzen.

Peter Piechowiak fährt sich über die stoppeligen Wangen, springt auf. Wieder etwas, die hinkende Zeit zu überlisten. Der Rasierapparat summt, kratzt die Stoppeln beiseite, kratzt ein paar Minuten beiseite. Die Wangen glatt, rasch noch einen Pickel auf der Nase ausdrücken. Ja, natürlich, die Uhrzeiger ein bisschen weitergekrochen. Sich doch noch einmal der Bibel widmen? Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh. Wie dies sich zu vermehren trachtet, so will auch er sich vermehren. Nun, damit kommt Peter Piechowiak nicht aus. Wirft er sich aufs Bett. Schließt er die Augen und nickt tatsächlich ein. Knallt das Fenster zu und ist plötzlich Sturm und Regen. Darf er seinen Schirm nicht vergessen, nachher. Steht er auf, mittlerweile vier Uhr. Läuft er vom Fenster – der Regen sprüht ins Zimmer wie Rausch – zur Türe, daneben das Waschbecken. Hat er vorhin vergessen, das Waschbecken zu säubern, jetzt nachgeholt.

Willi Be schläft hinter seiner Kamera ein, es gibt einfach nichts Neues aufzunehmen. Unangenehm, aber nicht zu ändern – tut das einzig Richtige: lässt den Kopf auf die Brust fallen und schnarcht.

Ich: He, Willi Be, aufwachen, es ist Zeit.

Willi Be: Hä? Was ist denn?

Ich: Zeit, zu gehen.

Was in den vergangenen eindreiviertel Stunden geschehen ist, entzieht sich dank Willi Bes Schlaf leider unserer Kenntnis. Das sind halt die Kompromisse, die man bei einer Reportage immer eingehen muss.

Sechs Uhr. So eilig hat’s Peter Piechowiak bislang in Wien noch niemals gehabt. Endlich ein Ziel. Und dann ein solches Ziel!

Er begegnet der jungen Verkäuferin, wie sie gerade das Geschäft verlassen will.

Plato erzählt vom frühesten Menschen, einem Vierfüßler mit zwei Geschlechtern. In einer entsetzlichen Nacht, in einem von Kräften des Bösen erzeugten Sturm, wurden alle Menschen entzweigerissen, und seither sucht jeder seine andere Hälfte. Jeweils zwei verschiedenen Geschlechts können versuchen, sich zu ergänzen, aber gewöhnlich ist das auf irgendeine Weise unvollkommen. Wenn jedoch ein Teil seine wahre andere Hälfte findet, kann keine Macht der Erde sie voneinander fernhalten oder wieder trennen, sobald sie sich vereinigt haben.

Wer redet hier von Macht? Der Gewittersturm ist doch wirklich harmlos! Aber wir reden von Wahrheit, von der einen und einzigen Wahrheit.

Die ersten vier ziellosen Tage in Wien vorüber. Die nächsten Tage werden folgen, gewiss, gewiss. Jedoch nicht mehr ziellos.

Noch so viel gibt’s zu erzählen, auch angesichts der möglichen Weltkatastrophe.

Doch was die Liebe einmal zusammengefügt hat, das wird auch die böseste Macht nicht mehr trennen.

Gönnen wir uns, Willi Be, einmal den Rausch des absoluten Glücks? Bevor wir uns im weiteren Verlauf auch wieder etwas völlig anderem zuwenden, nämlich dem absoluten Unglück?

Die große Ewigkeit

Grenzenlose Freiheit in diesem Juli in Wien. Zwei Jeans und drei T-Shirts reichen allemal aus, über die Runden zu kommen. Vor dem Stephansdom steht Peter Piechowiak und singt zur Gitarre. Er nickt dem bebrillten Japaner zu, der ihn erst begeistert fotografiert und ihm anschließend einen Schein in den geöffneten Gitarrenkasten wirft. Ob er enttäuscht wäre, wüsste er, dass Peter Piechowiak gar kein Wiener ist? Peter Piechowiak lächelt und singt weiter. Zum Glück hört ihm niemand wirklich zu, denn er singt die Ballade von dem Mann, der ein kleines Mädchen ermorden wollte. Jene schauerliche Ballade, die gerade in allen Fast-Book-Shops in Wien an hervorragender Stelle zum Verkauf, meist neben der Kassa, ausliegt.

Gegen zwölf Uhr packt er zusammen. Schlendert vorüber am Dom, zwängt sich durch die engen Gassen und läuft schließlich den Schottenring hinab. Schon bald steht er vor der Buchhandlung Börries – natürlich nicht wegen der Fast-Books, die es da zu kaufen gibt. Die interessieren ihn schon längst nicht mehr. Die haben ihn im Grunde auch nie interessiert. Den schwarzen Gitarrenkasten in der linken Hand, geht er vor dem Geschäft auf und ab, wirft hie und da einen Blick in das Modelleisenbahn-Geschäft nebenan, auf seine Armbanduhr, billiges Modell. Christine Bellinger müsste jeden Augenblick aus der Buchhandlung treten.

An den kulturellen Denkmälern der Stadt hat er schon längst jegliches Interesse verloren. Wichtig allein bleibt bloß noch Christine Bellinger. Wann endlich spricht ihr Chef die erlösenden Worte, lässt sie ziehen? Es sieht heute wieder so aus, als hielte er sie absichtlich länger zurück.

Endlich, endlich öffnete sich die Tür, sie tritt heraus, sie fallen sich in die Arme – wie lästig so ein Gitarrenkasten sein kann. Der Chef steht an der Kassa, er sieht ihnen nach, wie sie den Schottenring Richtung Votivkirche hinaufgehen. Was sie sich alles zu erzählen haben, überlegt Herr Börries. Selbstverständlich spielt der dumme Chef eine große Rolle. Dann küssen sie sich erneut, sehen sich in die Augen und küssen sich wieder. Zwei verliebte Kinder. Einen warmen Sommer lang und vermutlich noch viel länger. Und Herr Börries bemerkt gerade, dass er den Bestseller nicht mehr vorrätig hält, den vom Mann, der das kleine Mädchen ermorden wollte. Ein unverzeihlicher Fehler, der ihn vermutlich einen Kunden gekostet hat. Schließlich hat er dem Mann, der das Geschäft gerade verlässt, seinen Ärger deutlich angemerkt. Derlei Fehler sind ihm früher niemals unterlaufen, überlegt er. Früher.

Peter Piechowiak und Christine Bellinger sitzen auf einer Bank im kleinen Park vor der Votivkirche, inmitten des Verkehrslärms. Das Bimmeln der Tram, bevor sie im Untergrund verschwindet. Sie lassen sich von der Sonne bescheinen. Sie streicheln sich Wange, Haar, fahren sich mit dem Finger über die Lippen und sagen: „Du“, mehr nicht (Da hat sich niemals nicht etwas geändert!). Fühlen sie sich immer noch hilflos ausgeliefert sich selbst, könnten immer noch weinen vor Glück. Vielleicht beutelt ein warmer Wind das leichte Sommerkleid Christine Bellingers, sie wird vergebens versuchen, es festzuhalten. Irgendwann sagt sie:

„Du, jetzt habe ich aber doch Hunger.“ Sie gehen durch die Unterführung, Hand in Hand, wie sonst?, bleiben kurz vor der Fernseh-Reklame stehen (so viele Monitore!), geben einem Sandler ein 10-Schilling-Stück (was kostet’s sie!). Gehen sie hinüber zur Würstlbude, lassen sich ein Hot-Dog geben, mit süßem Senf, bitte, dazu eine Cola, und sie essen und trinken und sehen sich immer wieder und immer wieder neu an.

Sind sie Verliebte, die träumen, sie seien verliebt, oder sind sie Träumer, die verliebt sind in einen Traum von der Liebe?

Im letzten Moment fällt Christine Bellinger ein, dass Herr Börries sie gebeten hat, ihm ein Würstl mitzubringen. Sie sagt: „Tschau, du, bis nachher. Ich muss wieder los.“ Sie küssten sich, sie riechen ihren Senf-Atem, gehen Arm in Arm bis zur Ecke. Winken sich zu.

Peter Piechowiak verschwindet rasch in der Unterführung. Christine Bellinger summt vor sich hin und lässt sich ins Geschäft treiben.

„Danke“, sagt Herr Börries, als sie ihm das Würstl auf den Kassatisch legt. Er fragt sie nicht, wo sie gewesen. Er sagt ihr, dass ihm der Bestseller ausgegangen sei, sie verschwindet im Büro und gibt die Bestellung an den Grossisten durch – so einfach ist das.

Peter Piechowiak geht am Dom vorüber und stellt sich wieder in die Kärtnerstraße. Wimmelwusel, als er die Gitarre aus dem Kasten holt, den geöffneten Kasten vor sich stellt und die Gitarre stimmt. Noch bevor er sein Lied singen kann, fallen die ersten Münzen in den Kasten, Peter Piechowiak singt nicht besonders gut heute, hat Mühe, den Ton zu halten. Die falschen Klänge ersticken jedoch rasch in den Parfümwolken, die um die feinen Damen der Welt wabern. Schräg gegenüber steht der Einarmige im gestreiften Hemd und Melone auf dem Kopf. Er kurbelt vergebens an seinem Leierkasten. Ein paar unartikulierte Geräusche kann er ihm entlocken, das ist alles. Aber der Kalabreser macht den feinen Mann, und darum gibt’s auch für den Einarmigen etwas vom großen Weltkuchen.

Der Schwarze mit Schlapphut, Trompete in der Hand, schlappt an Peter Piechowiak vorüber und stellt sich einige Meter weiter in Pose. Er gröhlt die „Wonderful world“ inbrünstig aus sich heraus, bevor er zu tanzen beginnt. Sein Schlapphut eignet sich nicht besonders als Dämpfer für seine golden blitzende Trompete. Das stört jedoch keinen derer, die ihn umringen. Peter Piechowiak singt unbeirrt weiter. Faxen für d’ Leut’.

Der Weltkuchen Marke Sacher groß genug auch für den zahnlosen Greis im schlotternden grauen Anzug am Ende der Kärtnerstraße, nahe am Opernhaus. Ziehharmonika, Andeutung von Musik. O sole mio im Diskant. Ein Wunder, dass der Greis das schwere Instrument überhaupt schleppen kann. Zittern über die Tasten und Knöpfe seine Finger. In der Tasche rote Rüben – für die Stimme. Wild beknipst.

Ist das wirklich Freiheit? Zumindest ist es die Freiheit von der wohlbehüteten Tretmühle eines Fast-Book-Shops. Sicheres Brot, sicher. Nicht.

„Fräulein Bellinger, können Sie sich vorstellen, Tag um Tag auf der Kärtnerstraße zu stehen und um ein Stückchen vom Weltkuchen zu betteln?“

Sie lacht, ja, sie lacht. Ihr langer Zopf hängt ihr weit über die Brüste, sie wirft ihn auf den Rücken, bevor sie antwortet: „Warum fragen Sie? Geht das Geschäft so schlecht, dass ich mich auf eine Kündigung einrichten muss?“ Keck ist sie, frech, immerhin ist Herr Börries ihr Chef. (Und die Wahrheit ahnt sie ja noch gar nicht, kann sie gar nicht ahnen.)

„Nein, natürlich nicht. Außerdem würden Sie ja rasch wieder etwas Neues finden.“ Erst jetzt beantwortet sie seine Frage.

„Nein, ich könnte es mir nicht vorstellen. Davor hätte ich Angst. Gewiss, jetzt im Sommer mit all den vielen Touristen und der Sonne mag’s ja angehen, aber was dann?“ Sie wird nachdenklich. „Ja, was dann?“ Denkt sie an ihren Geliebten? An Peter Piechowiak?

Die entstandene Stille scheint Herrn Börries peinlich zu sein, seine Hände befingern die Krawatte. Fräulein Bellinger kaut an ihrem Zopf. Sie muss Peter Piechowiak wirklich sehr gern haben, wenn sie sich so viel Sorgen um ihn macht, denkt Herr Börries. Er wundert sich, dass ihr, obwohl sie so blond ist, das weiße Sommerkleid so gut steht. Vielleicht liegt’s an ihrer gebräunten Haut. Erneut wirft sie ihren Zopf auf den Rücken. „Ich glaube, ich sehe mal nach, was wir sonst noch nachbestellen müssen“, sagt sie, bevor sie im Büro verschwindet. Der Laden scheint kälter geworden zu sein.

Unterdessen hat Peter Piechowiak keine Lust mehr zu singen. Er packt seine Gitarre in den schwarzen Kasten, nachdem er zuvor das gesammelte Geld in seinen Hosentaschen verstaut hat. Wozu nachzählen!

Er schlendert Richtung Opernhaus. Kauft sich erneut ein Hot-Dog, mit süßem Senf, bitte. Lehnt sich an die Würstlbude, kaut, betrachtet die eilenden Leute, betütet und unbetütet. Sommereleganz. Fühlt sich sicher genug, müßig zu beobachten. Ist warm genug zum Wohlfühlen. Denkt häufig an Christine. Christine Bellinger Engel. Lacht. Sieht ihn der leichte Sommeranzug mit dem Paar Frankfurtern ein bisschen verwundert an. Hat der Sommeranzug ganz bestimmt ganz andere Sorgen. Sonst viele Sommerurlauber. Ist Peter Piechowiak auch ganz einer der Sommerurlauber, trotz seiner Gitarre. So durch Wien zieh’n. In Buch-Antiquariaten stöbern, Perutz suchen, nur ein bisschen was finden. Durch eine Toreinfahrt zum Karl-Lueger-Platz kommen, dort das Café Die Kaiserin von Österreich. Da Platz nehmen und träumen, einen Einspänner trinken. Nebenan spielen s’ Tarock. Peter Piechowiak kauert sich tiefer ins ausgelatschte Sofa. Kippt sich keine Zeitungsmeldungen ins Gehirn. Denkt vielmehr über sich nach, über Göttingen, von wo aus er vor noch gar nicht so langer Zeit aufgebrochen ist. Vor noch gar nicht so langer Zeit? Ihm kommt’s vor wie vor einer großen Ewigkeit. Heute wieder ganz gut eingenommen. Wäre in Göttingen nie gelungen. Davon eine Weile ganz gut leben. Und dann? Und dann … die Tage werden selbst hier in Wien kürzer. Aber die Liebestage länger. Peter Piechowiak hat Vertrauen, wichtig in diesem Leben! Muss keinen Einspänner nachbestellen.

Zwei Schatten über dem Tisch. Das sind wir, Willi Be und ich. Hier konnten wir uns einfach so materialisieren, haben ansonsten niemanden erschreckt. Ist sowieso die Frage, ob uns die anderen Gäste überhaupt sehen.

„Herr Piechowiak?“

Fährt hoch. Beruhigt sich rasch.

„Ach, Sie schon wieder.“

Drückt sich zurück in die Sofaecke. Willi Bes Kamera surrt leise.

„Immer noch nicht genug von mir?“

„Was fühlen Sie jetzt?“

„Freiheit. Grenzenlose Freiheit. Auf der Kärtnerstraße, wenn ich meine Lieder singe. Am Schottenring, wenn ich auf Christine warte. Sind Sie schon jemals so richtig verliebt gewesen?“

„Sie wissen doch, wie unstofflich wir sind. Das kennen wir also nur vom Hörensagen. Dennoch – dieses Gefühl wird aber nicht für immer anhalten, oder?“

„Na, und wenn schon. In mir, in meiner Erinnerung, bleibt’s für immer.“ Und gleich darauf: „Überhaupt, wer sagt Ihnen denn, dass das Gefühl nicht doch für immer bleibt? Liebe bis über den Tod hinaus. Meinen Sie etwa, das hat es noch nie gegeben?“

Unser Gespräch stockt. Was sollten wir, gerade wir, schon darauf antworten? Willi Be hat die Kamera bereits abgestellt, sie surrt nicht mehr, obwohl gerade im Moment ein großer Rauchring vom Nachbartisch zum Kronleuchter hinaufschwimmt. Peter Piechowiak schlürft den Rest seines Einspänners. Daraufhin vertieft er sich wieder in seine Gedanken, gerade, als seien wir nicht vorhanden. Weiß nicht, dass Willi Be seine Gedanken dennoch aufnimmt.

Erschrickt er manchmal, wenn er an Christine Bellinger denkt. Haben sie das Bett bereits miteinander geteilt. Hätte er nie geglaubt, dass das so bald.

*

Hätten sie es sich niemals träumen lassen, dass es ausgerechnet in ihrer Mittagspause geschehen könnte. Kein Tag, im Grunde, zum Lieben. Grau-dusseliges Mieswetter. Zu wenig für einen Regenschirm, zu viel für die nackte Gesichtshaus. Zu schnell umgeschlagen.

„Ich glaube, mein Kleid ist völlig durch“, sagt Christine Bellinger und betrachtet sich kritisch vor dem großen Schlafzimmerspiegel. Peter Piechowiak tritt an sie heran und fühlt mit der Hand über ihre Schultern, über ihren Rücken, über ihren Po. Christine Bellinger sieht ihn im Spiegel an, Peter Piechowiak sieht sie im Spiegel an und beginnt, leise zu zittern, ebenso wie sie.

„Ist dir genauso kalt wie mir?“, fragt Christine Bellinger. Peter Piechowiaks Finger gleiten über ihre Wirbelsäule, glatter Strich, nur kurz durch den BH unterbrochen. Sie wissen nicht genau, was nun zu tun ist. Der Wecker tickt Behaglichkeit ins Schlafzimmer. Sie frieren wegen ihrer Wärme. Von unten ertönen Flötenklänge. Vielleicht, vielleicht zögern sie deshalb noch. Christine Bellinger löst ihren Zopf, und ihr nasses Haar umfließt sie. „Ich glaube, ich muss mich erst mal abtrocknen, Peter.“ Sein Name nun der ihre. „Ja, sicher, Christine.“ Ihr Name nun der seine.

Hinter ihnen das Bett, schmal, nicht schmal genug für sie beide. Es würde sich nicht wehren.

Stille Erregung.

„Ziehst du mir bitte den Reißverschluss auf?“

Sanfter Mut. Peter Piechowiak schiebt vorsichtig das lange nasse Haar beiseite.

„Du musst schon oben festhalten.“

Sie lachen sich im Spiegel an. Das Kleid zerteilt sich, rutscht von den Schultern, fällt zu Boden. An der Wand neben dem weißen Schrank hängt ein Poster, weißes Pferd im vollen Galopp, Kopf gesenkt, Mähne flattert. Und vor sich Christine-Braune-Augen. „Trocknest du mich ab?“

Peter Piechowiak hält ein Handtuch zwischen den Händen, als wäre es aus ihnen hervorgewachsen. Zwischen die nassen Haarsträhnen flechten sich Töne (Wenn Welt kristallisiert!). Auf dem Fensterbrett steht eine Glasvase, darin eine rote Rose und ein Rosmarin.

„Aber du musst doch auch ganz nass sein.“

Ja, der Stoff der Hose ist feucht, klitsche-klatsche feucht. Genau wie das Hemd. Peter Piechowiak lässt es sich geduldig aufknöpfen. Löst selbst den Gürtel der Hose, da kennt er sich einfach besser aus.

„Du hast ja ganz kalte Füße.“

Das Bett ächzt etwas. Für zwei ist’s wirklich nicht gedacht. Nein, sie dürfen sich nicht zu hoch aufrichten, wenn sie sich nicht den Kopf stoßen wollen. So warm ist ihr Mund, und so kalt sind noch immer ihre Leiber. Die Daunendecke und die Musik von unten sind die staunenden Gäste ihres Einsseins. Wie ist das nur gekommen?

Peter Piechowiak hat geglaubt, den leichten Schweißduft ihrer Achselhöhlen bereits zu kennen, aber es ist doch alles ganz anders. Er taucht seine Nase in das dicke Haarbüschel. „Lass das, das kitzelt!“ Sie lecken sich das Salz vom Körper, sie hungern nach dem Duft aus tausend Poren. Sie dürsten nach dem Klang ihres Atems, während von unten zum dritten Mal die Fis-Dur-Tonleiter erklingt. Ihnen gilt es, über Straßen zu steigen und den Autos die Blechnasen zu zerbeulen. Sie sind das Königspaar der Stadt! Im Rausch hätten sie nicht trunkener sein können. Sie fliegen mit Kometen um die Wette, Christine, Peter – nein, der blaue Komet ist nicht darunter, der hält sich noch versteckt. Sie zerzausen dem lieben Gott den langen weißen Bart, und sie lassen den drögen Alten auf seinem Gold-Doublé-Thron vor sich hinmümmeln. Der göttliche Speichel kommt aus ihrem Mund, ihre Herzen bleiben rein, ihr Gewissen gibt ihnen, nachsichtig lächelnd, das Einverständnis. Tobende Kinder. Deine Schenkel, Christine, sind überraschend kräftig, und dass du, Peter, bereits einen leichten Bauch hast, war nicht unbedingt zu erwarten. So vieles bleibt ungewortet. Die Fis-Dur-Tonleiter von unten zerschellt an einem nackten Baldachin.

Drängender Mut.

„Ich möchte ein Kind, Peter, so gern möcht ich ein Kind.“

Sie sind die Gläubiger der Weltschuld, und sie erbarmen sich nicht. Das weiße Pferd mit der fliegenden Mähne hätte sich gleich aufbäumen können. In braunen Augen glitzert Peter. Wie hatten sie ohne sich leben können?

Er spielt mit ihrem langen blonden Haar. Sie können sich nicht sattsehen aneinander (Dieses Kapitel ist damit noch nicht zu Ende, nein, es beginnt ja gerade erst.). Währenddessen der Regen am Fenster knispelt.

Sie hockt vor ihm, das Haar zerzaust, der Kamm würde Mühe haben hindurchzukommen.

„Du bist wunderschön, Christine.“

„Du auch, Peter.“

Und dann? Weinen, lachen, kreischen, albern, innehalten?

Georg Philipp Telemann streift durchs Schlafzimmer. Wie jetzt Herrn Börries begreiflich machen, dass Christine Bellinger gerade an diesem Nachmittag nicht mehr ins Geschäft kommt?

„Ich glaube nicht, dass Herr Börries dafür Verständnis hätte. Und ich glaube auch nicht, dass ich sehr überzeugend lügen könnte. Ich will es auch gar nicht, Peter.“

„Dann werde ich hier auf dich warten.“

„Ja, tu das.“

„Das wird ein sehr langer Nachmittag werden, Christine.“

Christine Bellinger steht vor dem großen Spiegel und müht sich mit ihren Haaren.

„Kannst du mir bitte helfen?“

„Aber nur auf deine Verantwortung. Ich hab’ so was noch nie gemacht.“ Blonde Haarsträhnen fassen, vergebliche Anläufe, einen Zopf zu flechten.

„Willst du sie nicht einfach offenlassen?“

Christine Bellinger lacht und nickt.

„Mach’s gut, mein Lieber.“

„Du auch.“

Inzwischen ist’s Johann Sebastian Bach, der durchs Zimmer geistert. Und Peter Piechowiak steht am Fenster, streichelt Rose und Rosmarin, sieht hinunter auf die Straße, ja, dort unten geht sie.

Er wirft sich aufs Bett und tastet nach ihrem Duft, das Laken noch immer ein wenig feucht.

*

„Daran also, Herr Piechowiak, denken Sie? Und das ist Ihnen wichtiger als die Gerechtigkeit?“

„Was erzählen Sie da für einen Quatsch?“

Er ist hartnäckig. Willi Be (danke übrigens, das waren ausgezeichnete Aufnahmen) hat die Kamera erst gar nicht in Schwung gesetzt, er wusste, was bei der Fragerei herauskommen würde. Würde.

„Haben Sie denn überhaupt keine Moral?“

„Wissen Sie was? Sagen Sie Ihrem Kameramann da, er soll das Ding in Gang setzen, und dann sage ich ganz laut und deutlich: Lecken Sie mich im Arsche. Korrekte Wiedergabe.“

*

Und am Abend knispelt der Regen noch immer an der Scheibe. Ihre Leiber so warm, und das Bett so eng.

„Sei mir nicht bös, aber ich hab’ drüben im Schrank noch eine Luftmatratze.“

„Wie könnte ich dir böse sein. Nein, aufpusten kann ich sie auch selbst. Ärgert mich eigentlich nur, dass ich auch für heute Nacht das Zimmer bezahlen muss.“

„Das schenke ich dir.“

„Du bist bekloppt.“

Christine Bellinger lacht schallend auf.

„Verteilst du immer solche Komplimente?“

Nun muss auch Peter Piechowiak lachen.

„Viel lieber würde ich sagen: Du bist die intelligenteste, schönste, liebste Frau, die ich je in meinem Leben getroffen habe.“

„Ja, aber auch die intelligenteste, schönste, liebste Frau, die du je in deinem Leben getroffen hast, muss morgen früh wieder aufstehen und zur Arbeit gehen. Also puste schön, bitte.“

Nun in der Dunkelheit: „Also, weißt du, Christine, dieses Gefangensein bei dir ist die größte Freiheit, die ich mir denken kann.“

„Mm.“

„Das hätte ich niemals erwartet, als ich damals aus Göttingen abfuhr. Man liest ja öfters, dass die Liebe wie ein Blitz einschlagen würde. Darüber habe ich immer gelacht. Und jetzt …“

„Mm.“

Muss er noch einmal aufstehen, aufs Klo gehen. Sieht er im Neonlicht draußen, wie der Regen ganz schräg auf die Straße fällt. Vom Wind gepeitscht. Hört er Christines gleichmäßige Atemzüge, sieht, sie schläft schon. Mund leicht geöffnet. Hände locker neben ihrem Haar, das auf dem Kissen verteilt. Setzt er sich ganz vorsichtig, nackt, auf die Bettkante, sieht Christine an. Weiß er noch so wenig über sie, und zugleich so viel. Zweiundzwanzig Jahre alt, drei Jahre jünger als er selbst. Hätten sie schon immer zusammengelebt.

Hört er von irgendwoher eine Glocke die elfte Stunde schlagen. Rauschen die Autos unten vorüber, als könnten sie nie und nimmermehr anhalten. Dabei ist die nächste Ampel nicht weit entfernt Und der Regen, der Regen flieht vor dem Sturm, wirft sich blindlings vor die Fensterscheibe. Und die Straßenlampen taumeln trunken, und Christine seufzt leise im Traum. Dreht sie sich auf die Seite, rutscht ihr der Träger ihres Nachthemds über die Schulter. Peter Piechowiak schiebt ihn vorsichtig zurück.

*

Alles das also im Café Die Kaiserin von Österreich. Ein neuer Rauchkringel.

Nun Peter Piechowiak geht, stellt der Herr Ober die Frage: „Sie wollen schon gehen?“ Hat er sich mehr als zwei Stunden hier aufgehalten, hätte noch etwas bestellen sollen?

Ist die Kärntnerstraße belebter als am Vormittag, das Wetter wieder sonnig und warm. Peter Piechowiak mag das alte Lied nicht mehr singen, nicht mehr die schauerliche Ballade. Er packt seinen Vorrat an Liebesliedern heraus und verdient sich damit einen neuen Tag. Reißt ihm zwischendurch eine Gitarrensaite, keine Bange, der Kollege zwanzig Meter weiter hilft ihm aus.

„Habe immer Ersatzsaiten dabei, nein, lass, kannst mir ja auch mal aushelfen, wenn ich nix dabei habe.“

Der Greis mit der Fistelstimme setzt sich, holt die Stimmband-Karotten hervor, bietet Peter Piechowiak eine an. Peter Piechowiak nickt, klappt seinen Gitarrenkasten zu und setzt sich für einige Minuten neben den Alten. Der hat die Kaiserin (welche Kaiserin?) noch persönlich gekannt. Das alles viel schönere Zeiten.

Steht der Greis wieder auf und singt: „O sole mio“. Hände zittern über Tasten und Knöpfe. Peter Piechowiak kauft sich im Café ein viel zu teures Bier. Noch ist nicht Zeit. Waluliso geht vorüber, der Mann des Wassers, der Luft, des Lichts und der Sonne, gehüllt in sein weißes Laken und unter seinem Lorbeerkranz heraus, einen Krummstab in der Hand, segnet er die Menschheit. Und besonders Peter Piechowiak, als ob er etwas von ihm wüsste, was dieser noch nicht weiß. Und Peter Piechowiak lächelt. Das Leben in Wien kann schon sehr komisch sein.

Ist Christine damals – damals! Erst zwei Tage her! – aus dem Badezimmer morgens zurückgekommen und hat sie geflucht: „Mist, mir sind die Tampons ausgegangen.“ Als er sie verständnislos angesehen hat (Männer haben keine Ahnung!), hat sie gesagt: „Zwei Tage zu früh.“ Ist er dann in die Drogerie um die Ecke geflitzt und hat welche für sie besorgt. Ist sie ins Bad zurück, hat er sie duschen gehört. Vielleicht ganz recht, sie macht kein großes Getue um den vergangenen Tag, umarmt sie ihn dennoch ganz heftig und sagt: „Ich liebe dich so so so.“

Sie ist verändert, stellt Herr Börries fest. Ernsthafter, zugleich viel zerstreuter. Ein Viertel sieben sieht sie zur Ladentür hinaus, ja, er sitzt schon drüben, auf der Bank sitzt er, den schwarzen Gitarrenkasten neben sich.

Und an der Würstlbude vor der Votivkirche wartet noch immer ein Hot-Dog mit süßem Senf auf sie. Und daraufhin Christine Bellingers Wohnung hoch oben unterm Dach. „Die war eigentlich nie für zwei gedacht.“

Grenzenlose Freiheit in diesem Juli in Wien. Eine der beiden Jeans liegt auf dem Sessel neben Christines Bett. Immer noch ist das Bett zu eng für zwei, wenn sie sich nicht gerade lieben. Ja, er hat das Pensionszimmer verlassen. Schläft jetzt auf einer Luftmatratze neben ihrem Bett.

Das alles, und die Zeit wieder eingeholt.

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