Kitabı oku: «Mörder sind keine Engel: 7 Strand Krimis», sayfa 9
„Der Fall wurde schließlich auch ohne diese Fingerspuren gelöst!“, rief Bertram erneut dazwischen.
„Ja, nachdem das berühmte Bild der Mona Lisa zwei Jahre im Besitz des Diebes war und er dann dumm genug war, es einem Händler zum Kauf anzubieten!“, antwortete Fräulein Keller.
Erneute Unruhe im Publikum, es wurde geflüstert, aber dann brachte die Referentin alle mit ihrer nächsten Ankündigung wieder zur Ruhe.
„Bitte, bewahren Sie absolute Ruhe. Ich benötige jetzt Ihre Aufmerksamkeit für ein besonderes Experiment!“
Einen kurzen Moment wartete Fräulein Keller ab, dann hob sie beschwörend ihre Hände.
„Was Sie jetzt erleben werden, ist der Beweis, dass die moderne Wissenschaft in der Lage ist, einen Täter zu überführen. Dazu müssen Sie wissen, dass bei der Daktyloskopie nachgewiesen werden kann, welcher Mensch zum Beispiel eine Waffe in der Hand gehalten hat. Jeder Mensch hinterlässt bei allen Gegenständen, die er angefasst hat, seinen persönlichen Abdruck. Zahlreiche Experimente haben bewiesen, dass es keine zwei Menschen auf der Welt gibt, die die gleichen, völlig übereinstimmenden Fingerabdrücke haben.“
Es gab erneut Unruhe unter den Besuchern, und tatsächlich standen mehrere Männer auf, und wollten den Saal verlassen. Allerdings folgten ihnen in fast allen Fällen ihre weiblichen Begleitungen nicht. Ein paar männliche Besucher ließen sich davon nicht abhalten, den Saal trotzdem zu verlassen. Die meisten anderen setzten sich, wenn auch widerstrebend.
„Meine Damen und Herren, werden Sie Ohren- und Augenzeugen bei der Überführung eines möglichen Täters. Natürlich werden wir die Show ohne einen wirklichen Verbrecher fortsetzen. Alles dient nur der wissenschaftlichen Dokumentation. Auf der Bühne befinden sich noch immer drei Wachtmeister der Braunschweiger Polizei, die sich bereits vorgestellt haben. Wenn wir jetzt das Licht verlöschen, wird einer der drei Polizisten eine geladene Pistole ergreifen, die ich hier auf den Tisch lege, und einen Schuss daraus abfeuern. Bitte, erschrecken Sie nicht. Es wird nur einen Knall und den sichtbaren Feuerstrahl aus der Waffe geben. Ich habe dafür gesorgt, dass es nur eine mit Pulver gefüllte Patrone gibt, die vollkommen unschädlich aber doch laut einen Schuss ermöglichen wird. Bitte, erschrecken Sie nicht, wenn das Licht ausgeht. Gleich danach werden Sie den Knall hören und das Mündungsfeuer der Waffe sehen. Anschließend wird das Licht wieder angehen, und die drei Polizisten stehen wie zuvor am Tisch. Und mit der Methode der Daktyloskopie werde ich Ihnen danach zeigen, wer von den drei Polizisten die Waffe abgefeuert hat.
Mit dieser Methode wird es künftig leichter möglich sein, einen Straftäter zu überführen. Alles fertig? Keine Angst, es ist alles nur eine Show! Licht aus!“
Diese Aufforderung wurde sofort umgesetzt.
Der Saal wurde dunkel.
„Jetzt die Waffe aufnehmen!“, erklang Fräulein Kellers helle Stimme.
„Achtung, der Schuss erfolgt jetzt – Feuer frei!“
Es krachte, der Mündungsblitz leuchtete in beeindruckender Weise auf, die Reaktion im Publikum war ein lautes „Ah!“, dann wurde das Flüstern lauter, und als man das Licht wieder andrehte, begannen die Diskussionen.
Auf dem Tisch lag wieder die abgefeuerte Waffe, die drei Polizisten in ziviler Kleidung standen dahinter, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Fräulein Keller näherte sich ihnen zusammen mit einigen Helfern, die eine kleine Holzkiste trugen. In dem Augenblick, in dem sie die Kiste vor dem Tisch abstellten, gellte ein Schrei durch den großen Saal.
„Hier ist ein Toter!“, schrie jemand laut, und alle Köpfe fuhren herum.
„Der Polizeipräsident wurde erschossen!“, rief ein anderer, und nun brach eine Panik unter den Zuschauern aus, die kaum zu bewältigen war. Alles drängte sich zu den Ausgängen, niemand nahm Rücksicht auf den anderen. Jeder hatte nur den einen Wunsch: So schnell wie möglich den Konzertsaal zu verlassen.
„Warten Sie bitte! Es besteht kein Grund zur Flucht! Überall an den Türen stehen meine Helfer bereit, bitte, seien Sie doch vernünftig! Niemand hat in diesem Saal scharf geschossen!“, klang flehentlich die Stimme der jungen Wissenschaftlerin durch den Raum.
„Warum hat dann der Polizeipräsident ein Loch in der Brust?“, rief jemand laut, und ein mehrfaches Kreischen antwortete ihm. Gleich darauf drängte alles verstärkt zu den Ausgängen, und die dort postierten Ordner hatten ihre Mühe, die Massen aufzuhalten. Doch die Türen blieben verschlossen, und über das Geschrei der Menge klang jetzt die Stimme des alten Polizeipräsidenten. Dr. Thomas Faust hatte die Bühne erreicht und ließ sich von Fräulein Dr. Keller das Mikrofon geben.
„Bleiben Sie bitte ruhig und kehren Sie auf Ihre Plätze zurück. Ich bin Thomas Faust, Polizeipräsident im Ruhestand. Seien Sie unbesorgt, Ihnen droht keine Gefahr. Aber bitte, kehren Sie auf Ihre Plätze zurück! Seien Sie vernünftig und vermeiden Sie jegliche Lauferei durch den Saal! Meine Männer sind vor Ort und werden Sie schützen!“
Als die Menschen die Stimme des alten Präsidenten hörten und ihn schließlich auf der Bühne entdeckten, kehrte tatsächlich allmählich wieder Ruhe im Saal ein. Die meisten gingen zu ihren Plätzen zurück, nur einige wenige sammelten sich vor den Ausgängen und warteten ab, ob man nicht doch noch die Türen für sie öffnen würde. Doch daran war nicht zu denken.
„Gut, bitte bleiben Sie so ruhig und besonnen wie bislang. Wir werden in Kürze die Ausgänge öffnen. Bitte, haben Sie Verständnis dafür, dass wir von jedem die Namen und Adressen erfassen müssn. Immerhin hat es wirklich einen Toten gegeben.“
2.
„Ich gehe zu Fuß zum Präsidium zurück!“, verkündete der Polizeiagent seinem Vater, als endlich auch die letzten Personalien erfasst waren und die Menge, die noch in lebhafter Unterhaltung vor dem Gebäude am Damm zusammenstand, mehrfach von uniformierten Beamten aufgefordert wurde, weiterzugehen.
„Ja, mach das!“, antwortete sein Vater etwas abwesend und musterte die Gestalt eines Mannes in eleganter Kleidung, der eben in Richtung Kohlmarkt die Straße überquerte. Er trug zu seinem Gehrock einen Zylinder und schwang einen Spazierstock im Takt zu seinen Schritten. Etwas in der Art und Weise, wie der Mann rasch nach links und rechts schaute, dann wieder vor der Auslage eines Geschäftes stehen blieb, hatte das Misstrauen des alten Polizeipräsidenten geweckt.
Der Bursche bleibt doch nur immer wieder stehen, um festzustellen, ob jemand ihm folgt. Aber warum ist er so misstrauisch? Was hat er zu verbergen?
Fast unwillkürlich setzte sich der alte Herr in die gleiche Richtung in Bewegung, hielt aber einen großen Abstand ein und folgte dem Mann auf diese Weise bis zum Hotel de Prusse. Hier blieb der Zylinderträger erneut stehen, warf einen raschen Blick in alle Richtungen und trat schließlich ein. Die große, schwere Pendeltür mit den auffallenden Messingbeschlägen war gerade zum Stillstand gekommen, als ein weiterer Herr mit Zylinder in das Foyer trat, sich rasch umsah und dann dem Concierge ein Zeichen mit dem Kopf gab.
Der Mann, der hier schon seit vielen Jahren seinen Dienst verrichtete, hatte den alten Präsidenten sofort erkannt und eilte ihm entgegen.
„Herr Breschke, eben trat ein Herr vor mir ein, der ebenfalls einen Zylinder trug. Ist er Gast Ihres Hauses?“
„Herr Poli...“ Er brach ab, denn der alte Herr Faust machte sofort eine heftige Geste und setzte leise hinzu: „Keine Titel, keine Namen, bitte.“
Der Concierge trat noch etwas näher und raunte dem ehemaligen Polizeipräsidenten zu: „Sie meinen gewiss diesen Ferdinand Lücke, ein unangenehmer Mensch. Verzeihen Sie meine Offenheit, Herr Po... Herr Faust, aber wenn ich so etwas über einen Gast sage, dann gewiss nicht ohne Grund.“
Nachdenklich sah der alte Herr ihn an, dann wurde ihm plötzlich klar, woher er den Mann kannte.
„Ferdinand Lücke!“, wiederholte er den Namen. „Natürlich! Die Anschläge auf dem Gaußberg, dann das Labor in der Bismarckstraße und sogar das Tennisheim im Bürgerpark! Lücke sollte daran beteiligt sein, ein bekannter Anarchist aus Berlin, der sich hier regelmäßig mit den Revolutionären Merges und Fasshauer getroffen hat! Besten Dank, Breschke, Sie haben meinem alten Gedächtnis wieder auf die Sprünge geholfen. Ich war ja 1921 nicht mehr im Dienst, als diese Sprengstoffanschläge stattfanden.“
„Ja, Herr ... Faust, wir lebten damals alle in Angst und Schrecken. Wissen Sie, Herr Doktor, ich wohne ja am Hagenring, und dort wurde doch ein furchtbarer Überfall mit Sprengstoff auf die Post verübt. Alles flog in die Luft, und ich konnte ...“
„Ja, ich erinnere mich gut, Herr Breschke, besten Dank. Und der Herr Lücke – wie lange will er wohl noch bleiben?“
Der Concierge hob die Schultern und machte eine verlegene Miene dazu.
„Ich weiß es leider nicht genau, Herr ... Doktor Faust. Aber eines kann ich gewiss sagen: Sein Zimmer wurde bis zum Ende dieser Woche im Voraus bezahlt.“
„Im Voraus?“
Der alte Polizeipräsident zog die Augenbrauen hoch.
„Ja, das ist ... bei bestimmten Personen ... von der Direktion so gewünscht“, versicherte der Concierge eifrig mit unterdrückter Stimme und warf dabei einen Blick über die Schulter, ob auch niemand seine Worte verstehen konnte.
„Aha, und der Herr Lücke, der ist also so eine bestimmte Person?“
Breschke nickte eifrig, Faust drückte ihm beim Verabschieden ein üppiges Trinkgeld in die Hand, rückte seinen Zylinder zurecht und war aus der Tür, bevor der Concierge noch eine Frage stellen konnte.
Nachdenklich sah er dem alten Polizeipräsidenten hinterher.
Der Lücke hatte doch Dreck am Stecken!, fuhr es ihm durch den Kopf, als er Faust mit erstaunlich elastischem Schritt zurück zur Münzstraße gehen sah. Hoffentlich hat der Bursche nicht noch Sprengstoff auf dem Zimmer. Ich sollte bei nächster Gelegenheit dort selbst einmal nachsehen, bevor mir das schöne Haus um die Ohren fliegt! Er drehte sich auf dem Absatz um und – erstarrte. Da stand der Mann unmittelbar vor ihm und sah ihn durchdringend an. Vollkommen lautlos musste er die Halle durchquert haben, was schon aufgrund der Marmorfliesen eine Herausforderung war.
„Ach, Herr Breschke ...“, sprach der Mann ihn an. Er hatte seinen Überrock nebst Zylinder abgelegt und trug jetzt einen schlichten, aber sehr elegant geschnittenen Anzug. Eine dicke, schwere Chatelaine, die ein Mann von Welt eigentlich nur zum Frack trug, um die Uhr in der Westentasche damit zu halten, spannte sich über seiner Weste.
„Herr Lücke? Was kann ich für Sie tun?“
„Sagen Sie – war das nicht der ehemalige Polizeipräsident Faust, der da gerade hinausgegangen ist?“
Der Concierge erwiderte den Blick des Mannes, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. „Ja, das war er in der Tat. Kennen Sie ihn persönlich?“
Lücke schwieg einen Moment und starrte sein Gegenüber weiter scharf an. Dann zuckte er die Schultern, wandte sich wortlos ab und ging hinüber in den Rauchsalon, wo auch die Tageszeitungen auslagen.
Der Concierge kehrte zu dem Empfangstresen zurück, nahm seinen Platz ein und konnte von dort beobachten, wie Lücke sich umständlich eine Zigarre anschnitt, sie schließlich in Brand steckte und dann zu einer Zeitung griff. Alles schien vollkommen unverdächtig, und als die Tür von einem Pagen aufgerissen wurde, weil eine Kraftdroschke vorfuhr und neue Gäste eintrafen, war er ohnehin abgelenkt und beschäftigt. Etwas später fiel sein Blick wieder auf die fein geschliffene Glasscheibe des Rauchersalons. Er war leer, aber im Aschenbecher lag noch die erloschene Zigarre des Mannes.
Vergeblich blickte Breschke sich nach allen Seiten um, konnte aber nichts von dem Gast sehen. Achselzuckend wandte er sich wieder der Fremdenliste zu, in der er sorgfältig die Namen der neuen Gäste eintrug, um sie am nächsten Tag den Behörden zu übergeben. Es war üblich, die Namen und Berufe der Gäste auch in der Zeitung zu veröffentlichen.
Plötzlich schreckte der Concierge zusammen und ließ den Federhalter sinken.
Mit wenigen Schritten war er im Rauchersalon und nahm die Zeitung auf, in der Lücke gerade noch geblättert hatte. Die Seite mit den Nachrichten über die Gäste in der Stadt war herausgerissen.
Seltsam! Was wollte Lücke mit der Gästeliste der Stadt?
Breschke bedauerte, dass der alte Polizeipräsident nicht mehr anwesend war. Früher hatte der alte Herr gern einen guten Cognac im Haus genossen, dazu eine Zigarre geraucht und ebenfalls in den Zeitungen geblättert. Der Concierge hätte etwas darum gegeben, wenn er jetzt seine Beobachtungen weitergeben könnte. So aber musste das auf seinen Feierabend verschoben werden, und im Laufe des heutigen Tages hatte er so viel zu tun, dass er über diese Angelegenheit hinwegkam und sie ihm erst wieder auf dem Weg zum Hagenmarkt einfiel. Aber da hatte er sein Haus schon fast erreicht und keine Lust mehr, zurück zum Bohlweg zu gehen, wo der ehemalige Präsident eine Wohnung hatte. Das Haus am Bohlweg Nummer 10 wurde zugleich von dem pensionierten wie von dem neu ernannten Polizeipräsidenten bewohnt. Allerdings hatte sich Dr. Thomas Faust bereits seit einiger Zeit umgesehen, weil ihm die Nachbarschaft nicht sonderlich gefiel. Seine Wahl war auf eine kleine Villa im idyllisch gelegenen Vorort Riddagshausen gefallen. Derzeit wurde dort noch ein wenig umgebaut und renoviert, und das Ehepaar Faust fieberte dem Tag des Umzuges entgegen, während sein Sohn nicht verstand, warum man im hohen Alter noch solch einen Umzug machen musste.
Alte Bäume verpflanzt man nicht!, hatte Faust junior gesagt und dafür ein schallendes Gelächter seines Vaters geerntet.
Der junge Polizeiagent war in Gedanken versunken in sein Büro zurückgekehrt. Das Bild des toten Polizeipräsidenten hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben und weckte die Erinnerung an ihre erste, unangenehme Begegnung. Bertram hatte ihn nur wenige Tage nach seinem Amtsantritt in sein Büro gerufen. Nach einer ungebührlich langen Wartezeit auf dem harten Stuhl im Vorzimmer bei einer Dame, die sich bemühte, eifrig auf ihrer Schreibmaschine herumzuhämmern, nur um ihn dabei geflissentlich zu übersehen, wurde er schließlich in das Allerheiligste gelassen.
Bertram hüllte sich in eine dicke Zigarrenwolke und musterte den jungen Beamten herablassend. Dann begrüßte er ihn mit den Worten: „Diesen Unsinn mit dem Titel eines Polizeiagenten werde ich als Erstes wieder abschaffen. Stammt wohl noch von Ihrem Vater, nehme ich an.“ Damit zog er erneut an seiner Zigarre, pustete schließlich eine weitere Qualmwolke an die Decke und blätterte in einer schmalen Akte, schüttelte dabei mehrfach den Kopf und schien die Anwesenheit des Beamten vollkommen vergessen zu haben, bis Faust sich schließlich zu Wort meldete.
„Herr Präsident ...“
Bertram gelang es tatsächlich, seinem Gesicht einen verwunderten Anblick zu verleihen, als er von den Papieren aufsah.
„Bitte?“
„Mit Verlaub, Herr Präsident, dieser Sonderstatus eines Kriminalbeamten geht nicht auf meinen Herrn Vater zurück, sondern ...“
„Sondern?“, echote der Präsident und zog die Augenbrauen hoch.
„Auf eine Maßnahme zur Regierungszeit Herzog Wilhelms, der damit die Befugnisse eines Kriminalbeamten über den eigentlichen Bereich ...“
„So, Herzog Wilhelm also, ja?“, schnaubte der Präsident verächtlich. „Es ist gut, Faust, ich werde mich darum kümmern.“
Als Thomas E. Faust noch zögerte und der Präsident erneut ein Papier in die Hand nahm, folgte die Anweisung: „Es ist gut, Sie können gehen.“ Dabei sah ihn der Allgewaltige nicht einmal an.
Der junge Beamte salutierte und verließ das Büro schnellen Schrittes. Danach wurde er nie wieder auf das Thema angesprochen, und nach seinen ersten Ermittlungserfolgen war sein Sonderstatus wie der seiner Vorgänger gefestigt.
Seltsam, dass ich gerade jetzt an diese Szene denken muss. Aber in der Art ging Bertram mit allen Polizisten um, obwohl es auch immer Gerüchte um seine Verstrickung in den uralten Fall des Wilhelm Müller gab. Na, wir werden ja sehen!
Entschlossen drückte er die Türklinke zu seinem Büro nach unten und saß wenige Minuten später über einem Bericht, den man ihm auf den Tisch gelegt hatte.
3.
Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen, dazu sehr warm im Präsidium. Thomas Faust sprang die Treppenstufen in gewohnter Weise hinunter, die leichte Jacke über dem Arm. Einem Kriminalbeamten sah man es an einem solchen Tag nach, wenn er in Hemdsärmeln herumlief, zumindest in seiner Freizeit. Schließlich sollten die Herren Kriminale sich ja so unauffällig wie möglich geben, und so mancher der uniformierten Beamten der Schutzpolizei mochte sie darum beneiden. In Braunschweig wurde 1920 aus der SiPo, der Sicherheitspolizei, die SchuPo, die Schutzpolizei. Und die schwarzen Uniformen mit den blauen Aufschlägen und dem schwarzen Tschako erwiesen sich zwar als durchaus praktisch im Alltag, nicht jedoch an besonders heißen Tagen. Und die leichten Sommeruniformen, die Faust während der Kutschfahrt zum Vortrag bemerkt hatte, waren zunächst nur den Beamten, die ihren schweren Dienst oft in praller Sonne auf den Verkehrsknotenpunkten wie vor dem Bahnhof oder am Hagenmarkt taten, vorbehalten.
Auf der letzten Stufe verharrte der junge Polizeiagent und betrachtete erstaunt die sich ihm hier bietende Szene.
Gegenüber vom Polizeipräsidium stand eine schlanke Frauengestalt neben einem roten Sportwagen und sprach mit einem Polizisten, der einen Notizblock in der Hand hielt. Nicht nur die auffällige Hose der Dame verriet ihm auf einen Blick, wer hier neben dem Automobil stand. Die kurzen, dunklen Haare wurden nur knapp von einem Glockenhut verdeckt, dessen Krempe die Trägerin jedoch an der Stirn hochgeschlagen hatte. Heute trug Dorothee Keller zu der weiten, modischen Hose eine schlichte, weiße Bluse und darüber – Faust schluckte – eine Weste, die wohl für einen Herrn geschneidert war, denn die Wissenschaftlerin hatte nur zwei Knöpfe verschlossen und betonte damit ihre Oberweite, die wirkungsvoll in dem Ausschnitt zur Geltung kam.
Fräulein Keller blickte auf, als er zu ihr herüber schlenderte, und sagte mit einem theatralischen Tonfall: „Sehen Sie doch selbst, Herr Wachtmeister, da kommt Herr Faust schon.“
Der Polizeiagent grüßte freundlich und erkundigte sich: „Womit kann ich helfen, Fräulein Doktor Keller?“
Bei dieser Anrede blickte der Schutzmann erstaunt von seinen Notizen auf.
„Sie kennen die Dame also wirklich, Herr Faust?“, erkundigte sich der Beamte und sah ihn verwundert an.
„Ja, das ist Fräulein Doktor Keller, Wissenschaftlerin aus Amerika und zu Besuch in Braunschweig. Wir haben uns gestern in Brünings Saalbau kennengelernt.“
Der Polizist reagierte sofort.
„Bei der Ermordung unseres Polizeipräsidenten?“
„So ist es, Wachtmeister. Aber Sie sind dabei, die Dame aufzuschreiben?“
Der Polizist klappte sein Notizbuch zu, strich sich links und rechts den Schnurrbart glatt und antwortete dann:
„Das hat sich gerade erledigt, Herr Faust. Dann ist die Dame also doch eine Kollegin. Wünsche noch einen angenehmen Nachmittag!“ Damit salutierte er und überquerte die Münzstraße, um zur Kreuzung am Damm zu eilen.
Das helle Lachen der jungen Dame riss Faust aus seinen Überlegungen. Er hatte über die Worte des Wachtmeisters noch nachgedacht und ihm dabei sinnend hinterhergesehen.
„Können wir starten, Herr Faust?“
Lächelnd deutete die junge Wissenschaftlerin auf das rote Auto, das ein amerikanisches Verdeck aufwies, also ein Cabriolet war, wie man schon früher die leichten, einspännigen und offenen Kutschen nannte. Irritiert musterte Faust rasch den kleinen Sportwagen und war begeistert. Inzwischen hatte Dorothee Keller sich hinter das Lenkrad geklemmt und den Motor gestartet. Als sie nun auch noch die Hupe betätigte, warf Faust einen raschen Blick hinüber zum Präsidium, schließlich sprang er auf den Beifahrersitz, und klammerte sich fest, als seine Chauffeurin rasch beschleunigte und in Richtung Steinweg fuhr.
„Was haben Sie vor, Fräulein Keller?“
„Sie haben doch dienstfrei, oder nicht? Ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee ein. Es ist an der Zeit, dass wir uns ein wenig besser kennenlernen!“
Der Blick, den sie ihm dabei unter ihrem modischen Hut zuwarf, elektrisierte Faust förmlich. Der Augenblick schien ihm länger, als mit dem Autofahren verträglich, aber da blickte sie schon wieder durch die senkrecht stehende Frontscheibe und fuhr am 1861 eröffneten Staatstheater vorbei auf die Kaiser-Wilhelm-Allee und lenkte stadtauswärts.
Thomas Faust dachte gerade daran, dass man den Namen dieser Prachtstraße kürzlich in Friedensallee umgeändert hatte. Unsinnige Umbenennung, denn wenn auch die Monarchie nach Kriegsende 1918 abgeschafft wurde, redete kein Mensch in unserer Stadt von einer Friedensallee, dachte Faust, als ihm plötzlich etwas anderes einfiel. Was hatte der Schutzmann noch gesagt? Dann ist die Dame also doch eine Kollegin. Was war das für ein Blödsinn? Durch den Motorenlärm war eine Unterhaltung nicht sonderlich angenehm, aber Faust stellte nun doch die Frage: „Der Polizist wollte Sie zur Anzeige bringen, Fräulein Keller, und was haben Sie ihm da gesagt?“
Erneuter Augenkontakt, ein spöttisches Lächeln um die Lippen, dann hob sie leicht ihre Kinnspitze und antwortete: „Der Wachtmeister war der Meinung, dass ich nicht gegenüber dem Präsidium mein Automobil abstellen dürfe, auch nicht, um auf eine Person zu warten, wie ich ihm erklärte.“
„Das ist vollkommen richtig von dem Mann gewesen. In der Münzstraße verkehrt die Elektrische, und wenn am Straßenrand ein Fahrzeug steht, kann es zu Problemen kommen. Stellen Sie sich vor, ein Kohlenhändler will dort anliefern und kommt nicht zwischen der Bahn und Ihrem Auto durch – und schon haben wir große Schwierigkeiten, denn die Bahn muss ja pünktlich sein.“
„Ja, verstehe. Es war aber kein Kohlenhändler weit und breit zu sehen. Auch kein Mensch mit einem Handkarren.“
Erneuter, spöttischer Seitenblick.
Diese Blicke! Sie macht mich ganz konfus! Hat sie das einstudiert oder ist es ihre normale, natürliche Art?, fragte Faust sich. „Sicher, der Mann tat auch nur seine Pflicht, noch dazu, gegenüber vom Präsidium, wo ihn die Kollegen beobachten konnten. Aber weshalb glaubte er, dass Sie eine Kollegin sind?“
Fräulein Keller lachte erneut belustigt auf, fuhr mit der rechten Hand an ihre Sitzseite und zog ein kleines, bedrucktes Kärtchen heraus, das sie ihm aushändigte. Faust las verwundert: Dr. Dr. Dorothee Keller. Kriminalistin & Detektivin. Und in einer eleganten Schrift darunter stand die Zeile: Honorably City of Chicago Sheriff. Daneben war ein fünfzackiger Stern erkennbar. Faust fühlte das kostbare Papier und tastete über den geprägten Stern.
„Und das hat unser Schutzmann für einen Ausweis gehalten, mit dem Sie sich als amerikanischer Polizist vorgestellt haben?“
„Ehren-Sheriff, genauer gesagt, Herr Faust. Es ist meine legale, vollständige Visitenkarte, die ich mir für Deutschland herstellen ließ. Ich habe vor, in meinem Haus ein kriminalistisches Institut mit einem Labor einzurichten. Aber lassen Sie sich überraschen, wir sind gleich am Ziel.“
Der Polizeiagent erkannte, dass sie nun in die Wilhelm-Bode-Straße einbogen und wenig später vor einer Toreinfahrt anhielten, hinter der eine gepflasterte Zufahrt zu einer weiter zurückliegende Villa führte. Wie durch Zauberhand öffnete sich das große, schmiedeeiserne Tor, und der rote Sportwagen brummte in rascher Fahrt bis vor die Villa. Der Motor verstummte plötzlich, und in die entstandene Stille hinein ertönte erneut das fröhliche Gelächter der jungen Frau.
„Sie müssten einmal Ihr Gesicht in einem Spiegel betrachten, Herr Faust! Fast könnte man glauben, ich hätte Sie beeindruckt!“
Faust räusperte sich rasch, kletterte aus dem Wagen und eilte auf die andere Seite, um seiner Fahrerin zu helfen.
„Besten Dank, aber eine autofahrende Frau ist durchaus in der Lage, sich selbst die Fahrzeugtür zu öffnen. Darf ich bitten?“
Mit einer anmutigen Handbewegung deutete sie auf die hell gestrichene Hausfront, vor der fünf mächtige Säulen standen und Faust an eine Miniaturausgabe des römischen Pantheons erinnerten. In der weit geöffneten, massiven Tür war ein Hausdiener erschienen, der tatsächlich einen Frack und dazu weiße Handschuhe trug. Aber der Polizeiagent verkniff sich jede Gesichtsregung, biss sich dabei aber immer wieder leicht auf die Zunge, um nicht laut herauszuplatzen.
Diese Amerikaner haben doch einen herrlichen Zug, alles nachzuahmen, was ihnen besonders und elegant erscheint! In einem römischen Palast nun auch noch ein englischer Butler – ach, Fräulein Keller, muss denn so etwas sein?, schoss es ihm durch den Kopf, als der Diener ihn mit einer kurzen, angedeuteten Verbeugung begrüßte. Faust vermutete, dass er enttäuscht war, ihm weder Zylinder noch Gehstock abzunehmen, und für einen kurzen Moment fühlte er sich wie bei einem Besuch in einem königlichen Palast. Aber nein – er betrat das Haus einer modernen, aufgeschlossenen Frau, die schließlich ihre akademischen Studien in seiner Heimatstadt fortsetzen wollte. Für einen Moment hatte er wieder die Karte vor Augen. Detektivin! Na, das mochte etwas in Braunschweig sein! Wir verfügen derzeit über neun Polizeibezirke mit eigenen Wachen, wir sind gut sechshundert Polizisten bei der Schutzpolizei, von unserer Abteilung ganz zu schweigen. In der Stadt leben etwa hundertsechzigtausend Bürger. Und jetzt auch noch eine Detektivin? Das wird mehr Ärger als Nutzen für uns bringen!, überlegte Faust, als er von seiner charmanten Gastgeberin in einen gediegen eingerichteten Salon geführt wurde.
Auf einem Tischchen stand eine Etagere mit verlockend aussehenden Pralinen, davor zwei sehr modern wirkende, geschwungene Sessel. Aber wirklich erstaunt war Thomas Faust über die Wände, die mit deckenhohen Regalen zugestellt und mit einer unglaublich großen Menge von Büchern gefüllt waren. Er schätzte, dass in dem sichtbaren, saalähnlichen Raum dahinter wohl an die zehntausend Bücher stehen mussten.
„Tee, Kaffee oder etwas Stärkeres?“
„Gern einen Kaffee, Fräulein Keller.“
Der Diener hatte sie schweigend begleitet und blickte jetzt erwartungsvoll in die Richtung der Hausherrin.
„Bringen Sie uns bitte zwei türkische Mocca, Edmund.“
Sie hatte den eleganten Hut achtlos auf die Garderobe im Flur gelegt, war sich mit der Hand über die mit einem Bobschnitt kurzgeschnittenen Haare gefahren und dann zu Thomas Faust getreten, der seinen Blick nicht von den Buchrücken abwenden konnte.
„Mocca? Ja, warum nicht, sehr anregend!“, sagte der Polizeiagent und erntete erneut ein Lächeln. Als seine Gastgeberin jetzt etwas aus einem der Regale zog und sich so dicht vor ihn stellte, dass er ihr Parfum roch, klopfte sein Herz plötzlich schneller und schlug ihm bis in den Hals hinauf. Dorothee Keller drückte ihm etwas in die Hand, aber er konnte den Blick nicht von ihren Augen abwenden. Sie strahlten ihn mit einem Blau an, das ihn an die Farbe des italienischen Meeres erinnerte, wie er es im vergangenen Sommer kennenlernen durfte.
Sein Vater hatte ihm zum bestandenen Staatsexamen eine Kunststudienreise nach Italien geschenkt, und nach einer etwas abenteuerlichen und anstrengenden Bahnreise, ein paar Tagen in Florenz und Mailand, brach er schließlich noch an die Küste auf, um die sommerlichen Temperaturen in einem der aufstrebenden, mondänen Badeorte auf angenehme Weise zu verbringen.
„Hallo, Herr Faust, haben Sie mir eben zugehört?“
Er zuckte verlegen zusammen.
Was macht diese Frau mit mir? Sie sieht mir in die Augen und ich kann nichts anderes mehr denken, als sie in die Arme schließen zu wollen und einen Kuss auf diese herrlichen, vollen Lippen zu pressen. Das ist mir doch noch nie zuvor passiert, jedenfalls nicht nach so kurzer Zeit!
„Ich bitte um Verzeihung, Fräulein Keller, aber was ist das hier?“
Erstaunt sah er auf die Mappe, in der in steiler und sehr deutlicher Schrift, wie sie von Beamten gern gepflegt wird, ein Name stand. „Wilhelm Müller“, las er mit unterdrückter Stimme, „Abgeschlossen 4.9.1920“. Nach kurzem Überlegen zuckte er die Schultern, schlug die Mappe auf und entdeckte neben zahlreichen Protokollen auch mehrere Zeitungsartikel aus den verschiedenen, in Braunschweig erscheinenden Zeitungen. Die Überschriften weckten die Erinnerung an den Fall, der jedoch weder während der Dienstzeit seines Vaters noch in der Zeit seines eigenen Berufsbeginns lag.
„Sagt mir auf den ersten Blick wenig. Klar, die Überschriften der beigelegten Zeitungsartikel sind reißerisch und berichten von einem jungen Mann, der offenbar in der Art eines amerikanischen Gangsters zahlreiche Überfälle mit Schusswaffengebrauch in Braunschweig und im umliegenden Land verübt hat. Warum haben Sie diese Akte, Fräulein Keller?“
Edmund trat ein und servierte auf einem kleinen Silbertablett die dampfenden Mocca-Tassen. Die junge Wissenschaftlerin deutete darauf und bemerkte: „Vorsicht, sehr heiß, und wenn Sie möchten, gibt es hier den Zucker dazu. Oder trinken Sie ihn lieber ungesüßt?“
„Also, offen gestanden, Fräulein Keller, bin ich bei einem Mocca auf türkische Weise zubereitet, gern mit etwas Zucker dabei. Ich habe gelernt, dass dieser Mocca in den Varianten sade, az şekerli, orta şekerli und tam şekerli kahve (ungesüßt, wenig gesüßt, mittelsüß und kräftig gesüßt), getrunken wird. Seit ich in Wien einmal einen Schwarzen aus der Seihkanne serviert bekam, ließ ich mich ein wenig in die Geheimnisse echten Kaffeegenusses einweihen. Unser Café Wagner am Hagenmarkt ist – neben dem Café Tolle am Bohlweg – noch immer meine Lieblingsadresse für einen guten Kaffee – und auch mein alter Herr liebt ihn.“