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Identitätsbildung und Alteritätserfahrung: die Gründung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert
Seit wann kann sinnvollerweise von einer Eidgenossenschaft mit Beziehungen zu einem weiteren Umfeld die Rede sein? Die Frage setzt die Existenz eines Gebildes voraus, das sich selber als etwas Eigenständiges betrachtete und auch von aussen als solches wahrgenommen wurde.
Die historische Forschung hat schon lange die Vorstellung von der Gründung der Eidgenossenschaft am 1. August 1291 oder auf dem Rütli am Jahreswechsel 1307/08 verabschiedet. 1291 schlossen drei Gemeinden in der Innerschweiz ein Landfriedensbündnis ab, ohne damit einen Staat machen zu wollen. Um 1470 wurde erstmals die heroische Gründungserzählung vom Rütlischwur und dem tapferen Freiheitskampf der Waldstätte gegen adelige Vögte aufgezeichnet, und knapp 100 Jahre später datierte der Glarner Gelehrte Aegidius Tschudi diese Geschehnisse erstmals auf den Jahreswechsel 1307/08. Nachdem der Schweizerische Bundesrat in den 1890er-Jahren den 1. August offiziell zum Nationalfeiertag erklärt hatte, verschmolzen die beiden ursprünglich eigenständigen Erzählungen im Geschichtsbild der breiten Bevölkerung zur irrigen Vorstellung, am Nationalfeiertag vom 1. August gedenke man jeweils des Rütlischwurs aus dem Jahr 1291.
Die entscheidenden Schritte zur Ausbildung einer unverwechselbaren eidgenössischen Identität erfolgten im 15. Jahrhundert. Im Begriff «Eidgenossenschaft» verdichten sich fundamentale Strukturmerkmale der politischen Organisation und Kultur der Schweiz, deren Wurzeln ins Spätmittelalter zurückreichen. Als politischer Akt impliziert der geschworene Zusammenschluss mehrerer zu einer Genossenschaft zweierlei: Der Eid stiftet zwischen eigenständigen Parteien einen neuartigen politischen Zusammenhang. Eine Föderation setzt voraus, dass sich die Parteien als politisch handlungsfähige Partner anerkennen, die ihre politischen Beziehungen autonom gestalten können. Bündnisse stiften Beziehungen zwischen Parteien, die für die Wahrung gemeinsamer Interessen näher zusammenrücken, dabei aber grundsätzlich ihre Eigenständigkeit bewahren wollen.
Nun gab es im Spätmittelalter in Europa nicht nur die eine (später Schweizerische) Eidgenossenschaft, vielmehr wimmelte es geradezu von Bündnissen. In einer Zeit starker machtpolitischer Konkurrenz, als die Machtinteressen unzähliger Herrschaftsträger zusammenstiessen, schien es Königen, Fürsten, Adeligen, Klöstern und Gemeinden ratsam, sich auf viele Seiten hin abzusichern. Bündnisse schufen politische und militärische Sicherheit. Zugleich setzten sie im Machtbereich der Bündnispartner den Landfrieden durch, das heisst sie stellten auf dem Weg vertraglicher Vereinbarung Rechtssicherheit und Gewaltfreiheit her in einer Zeit, die noch keinen Staat als Träger des legitimen Gewaltmonopols kannte.
Im nachmals schweizerischen Raum besass die bündische Bewegung ein starkes kommunales Fundament. Die sogenannten Länder – grössere ländliche Gerichtsgemeinden wie Uri oder Schwyz – waren im Spätmittelalter ebenso wie die Städte des Mittellandes im Wettlauf um Allianzpartner sehr aktiv. Mit ihren Bündnissen wollten die Städte und Länder im 13. und 14. Jahrhundert allerdings keinen Staat gründen. Erst die nationalpatriotische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat aus der Vielzahl der Bündnisse der Städte und Länder im Spätmittelalter einige wenige ausgewählte zu eigentlichen schweizerischen Staatsgründungsakten stilisiert und die entsprechenden Urkunden zu sogenannten «Bundesbriefen» erhoben. Sie verkannte dabei die prinzipielle Offenheit der damaligen Macht- und Herrschaftslage und verkürzte in nationalgeschichtlicher Perspektive die komplexen Bündnisverhältnisse des Spätmittelalters zu einer Gründungsgeschichte, für die die sogenannten Eintritte der Kantone in den Bund die verfassunsgsgeschichtlichen Meilensteine auf dem langen Weg zum Bundesstaat des 19. Jahrhunderts bildeten.
Von welchem Zeitpunkt an verdichteten sich im schweizerischen Raum die offenen Herrschaftsverhältnisse, und warum entwickelte sich aus den Landfriedensbündnissen einiger Gemeinden die eine Eidgenossenschaft, die sich sowohl nach ihrem Selbstverständnis als auch in der Wahrnehmung von aussen als eigenständiger politischer Verband profilierte?
Die eigentliche Gründungszeit der Eidgenossenschaft ist das 15. Jahrhundert. Damals behaupteten sich die Kommunen – allen voran die Städte Bern, Zürich und Luzern – in der territorialpolitischen Konkurrenz gegen den Adel und insbesondere gegen Österreich-Habsburg als ihren schärfsten Rivalen. Nach dem Sieg der Waldstätte über ein österreichisches Heer bei Sempach 1386 führte die Eroberung des Aargaus – der alten habsburgischen Stammlande mit der namensgebenden Habsburg und den Klöstern Muri und Königsfelden als den beiden Hausklöstern und Grablegen der Habsburger – 1415 eine entscheidende Verdichtung eidgenössischer Herrschaft herbei. Die Eidgenossen teilten ihre gemeinsamen Eroberungen im Aargau – so wie später auch jene im Thurgau und im Tessin – nicht unter sich auf, sondern behielten sie als Untertanengebiete in kollektiver Verwaltung. Als «Gemeine Herrschaften» wurden sie fortan bis zum Ende des Ancien Régime reihum von Landvögten aus den beteiligten Kantonen verwaltet. Die hohe Bedeutung der Gemeinen Herrschaften für den Zusammenhalt der Eidgenossenschaft lässt sich daran ablesen, dass die gemeinsame Verwaltung auch nach der Glaubensspaltung fortgeführt wurde. Wie sehr die Verhältnisse unter den verbündeten Orten im 15. Jahrhundert ihre frühere Offenheit verloren und die Handlungsfreiheit der Gemeinden weniger wurde, musste die Stadt Zürich im sogenannten Alten Zürichkrieg (1436–1450) erfahren: Die übrigen Orte zwangen die Limmatstadt in einem blutigen Krieg dazu, ihr Bündnis mit Habsburg-Österreich aufzulösen und den Beziehungen zu den Eidgenossen den unbedingten Vorrang vor anderen Bündnissen einzuräumen.
Bald nach dieser Festigung des eidgenössischen Bündnisgeflechts wurde um 1470 erstmals die eidgenössische Gründungserzählung aufgezeichnet. Mit der heroischen Erzählung vom Widerstand der drei tapferen Länder am Vierwaldstättersee gegen die Willkür des Adels reagierten die Eidgenossen auf Vorwürfe Habsburg-Österreichs und der habsburgischen Kaiser, die die Eidgenossen als Zerstörer des Adels, als Rebellen gegen deren natürliche Herren und als meineidige, gottlose Feinde der ständisch-christlichen Gesellschaftsordnung brandmarkten. In ihrer Replik auf diese antieidgenössische Propaganda stellten sich die Eidgenossen als tugendhafte, gottesfürchtige, bescheidene Bauern dar («frume, edle puren»), deren sich Gott als Werkzeug bediente, um den tyrannischen, pflichtvergessenen Adel zu bestrafen. In ihren Schlachtensiegen über Habsburg und das Reich erblickten die Eidgenossen Urteile Gottes zugunsten eines auserwählten Volkes. Dieses moralisch höchst anspruchsvolle Eigenbild schrieb sich tief in das nationale Geschichtsbild ein. Die historische Forschung gab es erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zaghaft auf, während es im Geschichtsbild der breiten Bevölkerung bis heute fortlebt. Die erstmals im sogenannten Weissen Buch von Sarnen (um 1470) fassbare eidgenössische Gründungserzählung zeugt von der sich festigenden Identitätsrepräsentation der Eidgenossenschaft. Die Zurückweisung der antieidgenössischen Propaganda ging Hand in Hand mit der Formulierung einer Identitätskonstruktion, die nichts weniger als die politische Eigenständigkeit rechtfertigte.
In jener Zeit, 1479, verfasste der Einsiedler Mönch Albrecht von Bonstetten (um 1442/43–1504/05) eine dem venezianischen Dogen, dem Papst und dem König von Frankreich gewidmete landeskundliche Beschreibung der Eidgenossenschaft. Diese früheste Beschreibung der Grenzen der Eidgenossenschaft situierte das Land topografisch im Herzen Europas und erklärte es zum «punctus divisionis Europe», zum Trenn- und Mittelpunkt des Kontinents.6
Schliesslich klärte die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert unter dem Einfluss der europäischen Mächtepolitik ihren Standort im Kreis der grossen Herren. Im Vorfeld der Burgunderkriege bereinigte sie mit der sogenannten Ewigen Richtung 1474 ihr Verhältnis zu Österreich-Habsburg. Die Habsburger verzichteten auf ihren früheren Herrschaftsbesitz im nunmehr eidgenössisch gewordenen Raum und sicherten sich dafür die militärische Unterstützung der Eidgenossen gegen Herzog Karl den Kühnen von Burgund (1433–1477, Herzog 1465–1477), ihren gemeinsamen Gegner. Die Schlachtensiege der antiburgundischen Allianz katapultierten die Eidgenossen auf die Bühne der Grossmachtpolitik und steigerten – angesichts der damals enorm wachsenden Nachfrage der Mächte nach Söldnern – schlagartig deren Attraktivität als Krieger und Bündnispartner.
In diese Zeit fiel auch die Klärung des Verhältnisses der Orte zum Reich. Kaiser und Reich waren im Spätmittelalter die entscheidende Legitimationsquelle für die wachsende Autonomie der Städte und Länder. Die Kaiser aus den Dynastien der Wittelsbacher und Luxemburger – beide Rivalen der Habsburger um die Kaiserwürde – bedachten die eidgenössischen Städte und Länder mit grosszügigen Privilegien. Sie stärkten damit deren Macht und politischen Gestaltungsspielraum. Das Reich war im 14. und 15. Jahrhundert aber nicht nur die entscheidende Quelle für die Legitimierung der Herrschaftsgewalt der Orte. Als Reichsoberhaupt lieferte König Sigismund (1368–1437, römisch-deutscher König seit 1411) den Eidgenossen 1415 mit der Verhängung der Reichsacht über Herzog Friedrich IV. von Österreich (1382–1439) auch die willkommene Rechtfertigung für die Eroberung des habsburgischen Aargaus und damit für die Möglichkeit, sich auf Kosten der Habsburger als Vormacht im Mittelland festzusetzen.
Die Eidgenossen waren dem Reich so sehr verbunden, dass sie am Ende des 15. Jahrhunderts sogar Krieg gegen dieses führten. Diese Feststellung ist weder unsinnig noch ironisch gemeint. An der Spitze des Reichs kam es am Ende des 15. Jahrhunderts zu Reformen und zur Schaffung neuer, zentraler Reichsinstitutionen. Als Reichsangehörige hätten auch die Eidgenossen die neuen Gremien anerkennen und mitfinanzieren müssen. Sie verweigerten jedoch ihre Beteiligung an der Weiterentwicklung der Reichsinstitutionen und hielten an ihrem traditionellen Reichsverständnis fest. Mit ihrem militärischen Sieg über König Maximilian I. (1459– 1519, römisch-deutscher König seit 1486) im Jahr 1499 klammerten sich die Eidgenossen zwar von der Reichsreform aus, ohne damit aber vom Reich unabhängig werden zu wollen. Vielmehr hielten sie bis ins 17. Jahrhundert, einige gar noch länger, an ihrem Bekenntnis zum Reich fest.
Im Hinblick auf eine Schweizer Geschichte in den Kategorien von Verflechtung und Abgrenzung bleibt festzuhalten, dass sich die eidgenössische Identitätsvorstellung im 15. Jahrhundert aus zwei Abgrenzungen speiste: zum einen aus der militärischen Behauptung gegen die herrschaftspolitische Konkurrenz von Habsburg und Burgund, zum anderen aus der propagandistisch-diskursiven Behauptung gegen die Stigmatisierung als gottlose Rebellen. Identitätsbildung und Alteritätserfahrung waren eng miteinander verschränkt.
Verflechtungen in der alten Schweiz
Die Betrachtung der vielfältigen Verflechtungszusammenhänge der alten Schweiz mit dem europäischen Umfeld setzt bei den Wanderungsbewegungen ein. Migration ist ein historisches Langzeitphänomen der Schweizer Geschichte. Menschen aus dem nachmals schweizerischen Raum waren auf Wanderschaft, lange bevor von einer Eidgenossenschaft die Rede sein konnte, geschweige denn bevor eidgenössische Diplomaten und Politiker formelle politische Beziehungen zu anderen Mächten knüpften. Ein nächstes Kapitel widmet sich den Warenströmen. Als rohstoffarmes Land war die Schweiz seit je existenziell auf die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern angewiesen. Ihre Ökonomie spezialisierte sich zudem frühzeitig auf die Veredelung von Rohstoffen, die von weit her eingeführt wurden, sowie auf die Herstellung von Exportwaren für internationale Märkte. Schon in der frühen Neuzeit vermarktete sie mit dem Käse, den Textilien, Uhren sowie Finanz- und Handelsdienstleistungen Güter und Dienstleistungen, die im Ausland das stereotype Bild der kommerziellen Schweiz prägen sollten. Schliesslich wird der Verflechtungsaspekt auch für den Bereich der Aussenpolitik, Diplomatie und der inneren Staatsbildung angesprochen werden. Spätestens mit den Burgunderkriegen in den 1470er-Jahren wurde die Eidgenossenschaft als geopolitisch exponierter Raum mitten im Spannungsfeld zwischen den rivalisierenden europäischen Grossmächten wahrgenommen. Als Übergangs- und Durchgangszone zwischen den Schauplätzen der grossen europäischen Kriege nördlich und südlich der Alpen wurde sie zum Tummelfeld der europäischen Diplomatie. Ihre Lage machte sie zu einem attraktiven Partner für Allianzen, aber auch zu einem sicherheitspolitischen Risiko für die grossen Nachbarn. Die Kantone mussten lernen, mit den Ansprüchen der konkurrierenden Mächte und den sich überkreuzenden Interessenlagen der grossen Nachbarn umzugehen. Wie für kein anderes Land in Europa gilt, dass nicht nur die innere Staatsbildung in den Kantonen in der frühen Neuzeit, sondern auch die schiere Existenz einer souveränen Nation Schweiz bis auf den heutigen Tag nur mit Rücksicht auf deren Verflechtung mit der europäischen Staatenwelt verständlich gemacht werden kann – die Eigenständigkeit der Schweiz gründet letztlich im Interesse Europas.
Verflechtung durch Migration
Migrationsbewegungen sind elementare Phänomene sozioökonomischer Verflechtung. Migranten verlassen die vertrauten sozialen und familialen Netzwerke ihrer Heimat für eine gewisse Zeit oder auf Dauer. Sie müssen sich in den Zielgebieten ihrer Wanderung orientieren, in einer neuen, sozial und kulturell fremden Umgebung bestehen und ein Auskommen finden.
Unter den wandernden Berufsgruppen der alten Schweiz stehen zahlenmässig die Soldaten und Offiziere an erster Stelle, die im Sold auswärtiger Kriegsherren militärische Dienste leisteten. Die Wanderungen der Reisläufer beziehungsweise Söldner hatten beträchtliche wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Auswirkungen auf die Verhältnisse im Land. Weniger bekannt als die militärische Arbeitsmigration sind die vielfältigen Formen der zivilen Arbeits- und Siedlungsmigration. Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert verliessen Handwerker, Gewerbetreibende, Händler, Künstler, Gelehrte und Pädagogen in grosser Zahl die Schweiz. Der Charakter und die Beweggründe dieser Wanderungen waren sehr verschieden. Die Migranten suchten im Ausland ein Auskommen, das sie zu Hause nicht finden konnten oder das ihnen half, ihre Subsistenzgrundlage zu diversifizieren und das Leben ihrer Familien in der Heimat abzusichern. Manchen winkte in der Ferne eine Karriere, die ihnen ihre Herkunftsregion nicht bieten konnte. Die zivile Arbeitsmigration der frühen Neuzeit betraf in der Regel einzelne Spezialisten und war noch keine Massenerscheinung. Meistens war sie zeitlich oder saisonal befristet. Andere beschränkten ihren Aufenthalt in der Fremde auf eine bestimmte Lebensphase, bevor sie in die Heimat zurückwanderten.
Die südalpinen Täler des Tessins und Graubündens teilten mit vielen anderen Gebieten am Südabhang des Alpenbogens eine jahrhundertelange Tradition temporärer Wanderung. Die Migration bestimmte den Rhythmus der Heiraten und Geburten in den Familien, die dörfliche Sozialordnung und die lokale Wirtschaft. Lange Zeit erklärte man diese Migrationsbewegungen mit der lokalen Armut und Übervölkerung und übersah dabei, dass die Migranten aus den Bergen vielmehr auf die starke Nachfrage nach Arbeitskräften in den Metropolen der Ebene reagierten. Ihre Wanderung wurde nicht aus der Not geboren, sie war nicht die minderwertige Alternative zur sesshaften Lebensweise der Bauern, sondern ergänzte diese strategisch. Agrarische Sesshaftigkeit und gewerblich-kommerzielle Mobilität bildeten gemeinsam das Fundament der Gesellschaft und Wirtschaft der südalpinen Täler. Erst im 18. Jahrhundert wurde die Siedlungswanderung mit dem Ziel einer dauerhaften Niederlassung in einem anderen Land wichtiger. Den Durchbruch erlebte sie im 19. Jahrhundert, als neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel sowie die organisatorische Unterstützung von Auswanderungsagenturen den Schritt zur Auswanderung wesentlich erleichterten.
Militärische Arbeitsmigration
Bis zur Französischen Revolution stellten die Reisläufer und Söldner quantitativ und qualitativ die bedeutendste Gruppe unter den Schweizer Arbeitsmigranten dar. Ihre Zahl lässt sich nur schätzen, doch sind sich die Bevölkerungshistoriker einig, dass die militärische Wanderung vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des Ancien Régime ein Massenphänomen war und insgesamt mehrere Hunderttausend Mann in fremde Dienste zogen.7 Seit dem späten 17. Jahrhundert vermitteln die Kompanielisten für die administrative Kontrolle der Truppenbestände eine genauere Vorstellung vom Umfang der Truppen in fremden Diensten.
Die Bestände der eidgenössischen Truppen in fremden Diensten im 18. Jahrhundert (1701, 1789)8
Die Geschichte der fremden Dienste erstreckt sich über viele Jahrhunderte und lässt sich in vier Phasen gliedern. Sie wurde im Wesentlichen durch den Wandel in der Kriegsführung, in der Kriegstechnik und in der Heeresverfassung der europäischen Mächte sowie durch Veränderungen in der heimischen Wirtschaft bestimmt.
Phase 1 (13. Jahrhundert bis 1520/50): Schon im 13. Jahrhundert boten Krieger aus dem nachmals eidgenössischen Raum Kriegsherren ihre Dienste gegen Bezahlung an. Erst die militärischen Erfolge der Eidgenossen in den Burgunderkriegen (1474–1477) machten jedoch deren Kriegstüchtigkeit weitherum bekannt und trieben die Nachfrage nach eidgenössischen Kriegern in die Höhe. Die grossen Mächte buhlten fortan um diese scheinbar unschlagbaren Kämpfer, die mit ihrer Gefechtstaktik und Bewaffnung den Ritterheeren überlegen waren. Eine hohe Gewaltbereitschaft und Brutalität kennzeichneten diese Fusssoldaten; Schweizer Militärhistoriker erblickten darin bisweilen die «urwüchsige, auf elementarer Aggressivität beruhende Kraft der ungestümen Bauern und Hirten».9 Diese stammten aus Gegenden, die nahe bei den Schauplätzen der Kriege der Grossmächte lagen, was die Attraktivität dieses Söldnermarkts noch erhöhte.
Ein starkes Interesse an diesen Kriegern bekundete frühzeitig der französische König. Im Krieg der antiburgundischen Allianz gegen Karl den Kühnen von Burgund, dessen Reich an der Ost- und Nordgrenze Frankreichs dem französischen König viel zu mächtig geworden war, übernahmen die Orte mit französischer Unterstützung eine führende militärische Rolle. Kurz nach den Burgunderkriegen griff der König von Frankreich in den Kampf um die Vorherrschaft über das Herzogtum Mailand und über Italien ein. Dort stiessen Frankreich und Habsburg-Österreich, die beiden grossen Kontrahenten der neuzeitlichen Mächtepolitik, aufeinander. Während der Mailänderkriege an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert schnellte die Zahl der Schweizer Söldner in die Höhe; zeitweise standen 10 000 bis 20 000 Eidgenossen allein im Dienst Frankreichs.10
In der ersten Phase des Solddienstes, der Zeit der «wilden Reisläuferei», wurden die Krieger jeweils für Einsätze von einigen Wochen oder wenigen Monaten angeworben. Sie zogen mit eigenen Waffen (Spiess, Hellebarde, Dolch) und ohne jede Uniform all jenen Kriegsherren oder Werbern zu, die lukrative Angebote machten. Die Überlebenden kehrten bald einmal mit Beute und Sold zurück, die häufig mehr wert waren als die Löhne der Gesellen und Arbeiter zu Hause. Mit Truppenwerbungen erlangten Militärunternehmer wie der spätere Zürcher Bürgermeister Hans Waldmann (um 1435–1489) die Gunst ausländischer Kriegsherren und finanzierten mit deren Entschädigungen (Pensionen) ihren sozialen Aufstieg.
Die erste Phase bezahlten eidgenössischen Kriegertums warf enorme innere Ordnungsprobleme auf. Die eidgenössischen Obrigkeiten hatten keine Kontrolle über die davonlaufenden Krieger, sodass sich ihre Bürger und Untertanen mitunter bei verfeindeten Kriegsherren engagierten und sich im Feld gegenüberstanden. So liefen nach der Schlacht von Nancy und dem Tod Karls des Kühnen 1477 die arbeitslos gewordenen Krieger aus den Orten sowohl dem König von Frankreich als auch Maria von Burgund (1457–1482) und deren Gemahl Maximilian von Habsburg zu, die um den Besitz der Freigrafschaft Burgund kämpften. Kaum erinnert wird auch die Tatsache, dass Krieger aus eidgenössischen Orten in der Schlacht bei Murten 1476 auch im Heer Karls des Kühnen anzutreffen waren. Die Versuche der Obrigkeiten, mit Reislauf- und Pensionenordnungen das Geschäft mit dem bezahlten Kriegen zu regulieren und die militärische Gewalt in der Hand der Obrigkeit zu monopolisieren, scheiterten in dieser Phase an den ökonomischen Interessen des gemeinen Mannes wie auch der Elite. Gleichzeitig sorgten die sozialen und wirtschaftlichen Folgekosten des Reislaufs für Unmut in der Bevölkerung: Bauern und Handwerker beklagten den Mangel an Arbeitskräften; die Hinterbliebenen der Gefallenen und die Angehörigen der physisch und psychisch angeschlagenen Rückkehrer litten unter zerrütteten Familienverhältnissen. Die gesellschaftliche Integration gewalterfahrener Männer bereitete Schwierigkeiten. Weil die Gewinne und Kosten des Geschäfts mit dem bezahlten Kriegen sozial sehr ungleich verteilt waren, brachen 1513–1516 in mehreren eidgenössischen Kantonen massive Protestbewegungen der Untertanen gegen die städtischen Räte aus, die nur dank weitgehenden Konzessionen der Obrigkeiten an die Aufständischen und gegenseitiger militärischer und politischer Hilfe der verbündeten Orte beigelegt werden konnten.
Phase 2 (um 1520/50 bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts): Um die problematischen Folgen des ungeordneten Reislaufs in den Griff zu bekommen und die politische Kontrolle über dieses Geschäft durchzusetzen, ergriffen die eidgenössischen Obrigkeiten Massnahmen. Effizienter als die Verbote des unerlaubten Wegziehens in fremde Kriege waren diesbezüglich die Sold- und Allianzverträge mit den ausländischen Kriegsherren. Die Orte erkannten, dass sie den heimischen Söldnermarkt nur über Verträge mit den ausländischen Kriegsherren unter ihre Kontrolle bringen konnten. Wollten sie Kapital aus dem Soldgeschäft schlagen, mussten sie verhindern, dass die Kriegsherren auch ohne ihre Zustimmung zu Kriegern kamen. Langfristige Verträge zwischen Abnehmern und Anbietern regelten die politischen und finanziellen Rahmenbedingungen des Soldgeschäfts. Solche Allianzen und Kapitulationen bildeten seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und bis zum Ende der fremden Dienste die Grundlage für das Soldgeschäft der eidgenössischen Orte. Die wichtigste und dauerhafteste Allianz war jene mit Frankreich, die 1521 erstmals geschlossen und 1777 ein letztes Mal vor der Entlassung der Schweizer Regimenter in Frankreich 1792 erneuert wurde.
Die Allianzen bestimmten die gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen, regelten die wechselseitigen Leistungen der Partner und definierten den Bündnisfall, der die Verbündeten zu militärischer Hilfe verpflichtete. Kapitulationen legten die Ernennung der Offiziere, die Termine der Musterungen und Soldzahlungen, die Höhe des Solds, die Dauer des Dienstes, die Gerichtsbarkeit über die Truppenangehörigen, deren Religionsausübung im Ausland und anderes mehr fest.
Mit der Kontrolle über das Soldgeschäft mit dem Ausland festigten die politischen Eliten in den Orten ihre Vorherrschaft im Innern. Die Ratsgremien in den Orten schlugen die Kandidaten für die Offiziersstellen vor und verteilten diese Posten zunehmend exklusiv an Angehörige von Ratsgeschlechtern. Der Offiziersdienst in einer Kompanie in fremden Diensten diente männlichen Angehörigen aus Ratsfamilien als Warteposition und Lehrzeit bis zur Wahl in den Rat und damit in ein einträgliches Amt zu Hause. Für die führenden Familien wurde das Militärunternehmertum – die operative Verantwortung für die Aufstellung, Ausbildung und Führung grösserer Verbände (Regiment, Kompanie) im Ausland – zu einer interessanten Tätigkeit, die neben der Aussicht auf Gewinn auch wertvolle soziale Kontakte verschaffte.
Die aufkommende Artillerie und die zunehmende Bedeutung langer Belagerungen von befestigten Plätzen veränderten den Charakter des Solddienstes. Die neue Kriegsführung erforderte die zunehmende Disziplinierung der Krieger im Rahmen einheitlicher, uniformierter Truppenverbände. Die Dienstzeiten waren nach wie vor befristet, dauerten nun aber deutlich länger als früher. Im Dreissigjährigen Krieg betrugen sie schon mehrere Jahre.
Die Schweizer Reformatoren verliehen der Kritik an der Reisläuferei eine Wendung ins grundsätzlich Religiös-Moralische. Die Interessengegensätze zwischen den traditionell stärker im Soldgeschäft engagierten Inneren Orten und den Städteorten waren eine Ursache für die Glaubensspaltung und führten zum Zweiten Kappeler Krieg 1531 zwischen den altgläubigen Orten der Innerschweiz und den reformierten Städten Zürich und Bern. Die reformierte Geistlichkeit blieb fortan der schärfste Kritiker der fremden Dienste, was mit ein Grund war, dass Bern und Zürich erst 1582 beziehungsweise 1614 der Allianz mit Frankreich beitraten.
Phase 3 (Mitte des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts): Das 17. Jahrhundert und die beiden ersten Drittel des 18. Jahrhunderts sind in der Geschichte Europas eine Zeit fast ununterbrochener Kriege. Die Grossmächte begannen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit dem Aufbau stehender Heere. Mit dem Wandel der Kriegstechnik wurden die Soldaten mit Gewehren mit aufpflanzbaren Bajonetten für den Nahkampf ausgerüstet. Die Taktik des Schlachthaufens mit Kurzwaffen und Langspiessen war definitiv überholt. Für die Schlacht wurden die Fusstruppen in kleinere Einheiten eingeteilt und auf lange Kampflinien ausgedünnt, damit diese dem Feuer der Artillerie möglichst wenig Angriffsfläche boten. Diese linienförmigen, lang gezogenen Verbände mussten im Gefecht auf Kommando mechanisch genaue Bewegungen ausführen, die in Friedenszeiten in der Garnison mit unablässigem Exerzieren und Drill eingeübt wurden. Die militärischen Einheiten wurden grösser, die Dienstdauer länger und genau festgelegt. Strengere Dienstreglemente betonten Rangordnung und Disziplin. Hatte die Beute lange einen Teil der Entlöhnung des Söldners abgegeben, so setzte sich das Verbot der Plünderung immer mehr durch.
Die Allianzen im Allgemeinen und das Soldgeschäft im Besonderen waren seit dem 17. Jahrhundert zunehmend mit strukturellen Problemen konfrontiert. Die exorbitanten Kosten für den Unterhalt der stehenden Heere und für die zahlreichen Kriege belasteten die Grossmächte. Immer häufiger blieben die jährlichen Pensionen an die Orte und deren politische Elite aus, oft erhielten Offiziere und Soldaten in den Schweizer Regimentern ihren Sold nicht oder nur verspätet. Bisweilen nahmen die ausländischen Kriegsherren selbst bei den Orten und bei Privatpersonen in der Eidgenossenschaft Kredite auf, um dringlichsten Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. In die Lücke sprangen in solchen Situationen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch Bankiers und Financiers, die in der Lage waren, kurzfristig grosse Summen Bargeld an die Truppen im Feld zu liefern und damit zu verhindern, dass die Verbände meuterten und kampfunfähig wurden. In der Kriegsfinanzierung betätigten sich auch Financiers aus Schweizer Handelsstädten, so etwa die St. Galler Familie Högger in Frankreich unter Ludwig XIV.
Die Kriegsherren intensivierten wegen der enorm steigenden Militärausgaben die bürokratische Kontrolle über ihre ausländischen Truppenverbände und schränkten die unternehmerische Freiheit der Soldunternehmer ein. Mit ausgabenseitiger Rationalisierung, das heisst durch die verschärfte Ausbeutung ihrer Soldaten, reagierten die Regiments- und Kompanieinhaber auf die sinkenden Gewinnmargen und auf steigende Werbekosten. Der Solddienst wurde auch für die Soldaten finanziell unattraktiver, weil die Handwerker- und Arbeiterlöhne in der Heimat nun vielfach höher lagen als der Sold. Die Militärunternehmer bekundeten zunehmend Mühe, die vertraglich vereinbarten Truppenbestände für die Kriegsherren zu rekrutieren, zumal die Zahl der Deserteure sehr hoch war. Zahlreiche Söldner nahmen Reissaus, sobald sie ihren ersten Sold, das sogenannte Handgeld, erhalten hatten, oder sie machten sich auf den Feldzügen davon. Es mehrten sich Zwangsrekrutierungen: Bettler und Landstreicher wurden verhaftet und in die fremden Dienste abgeschoben, junge Männer gerieten bei Trink- und Tanzgelagen in die Fänge professioneller Werbeagenten. Längst nicht mehr alle Soldaten in Schweizer Regimentern stammten im 18. Jahrhundert denn auch tatsächlich noch aus der Schweiz. In den bernischen Soldeinheiten stammte jeder Vierte nicht mehr aus dem Corpus helveticum. Der Anteil der Ausländer stieg jeweils dramatisch an, wenn es in den Krieg ging: Während des Siebenjährigen Kriegs stieg ihr Anteil im bernischen Regiment in Frankreich von 37 Prozent (1757) auf 56 Prozent (1763) an.11 Der hohe Ausländeranteil bereitete den Militärunternehmern Kopfzerbrechen, tolerierten doch die Kriegsherren in den Schweizer Einheiten höchstens ein Drittel Nichtschweizer. Die französische und die niederländische Militärverwaltung weigerten sich, Nichtschweizern den höheren Sold für Schweizer Soldaten zu zahlen. Gewiefte Militärunternehmer führten deswegen mitunter auch Lombarden als Tessiner Untertanen oder Schwaben als Thurgauer Untertanen in ihren Kompanielisten, weil diese Ausländer sich nur schwer von Eidgenossen unterscheiden liessen.
Politisch-diplomatische Schwierigkeiten verursachten die sogenannten Transgressionen, das heisst vertragswidrige Einsätze der eidgenössischen Truppen in fremden Diensten. So waren Bern und Frankreich 1671 zwar übereingekommen, dass die zwölf bernischen Kompanien in französischen Diensten nicht gegen protestantische Mächte eingesetzt werden durften, doch führte sie König Ludwig XIV. von Frankreich dessen ungeachtet schon im Jahr darauf in einen Angriffskrieg gegen die Niederlande, und Bern protestierte vergeblich. Andere Kapitulationen untersagten den Einsatz von Schweizer Truppen in Offensivkriegen und beschränkten ihn auf die Verteidigung des Territoriums des Kriegsherrn. Auch darüber setzten sich selbstbewusste Monarchen wie Ludwig XIV. hinweg, was dazu führen konnte, dass sich im Feld Schweizer Regimenter bekämpften. Traurige Berühmtheit erlangte in dieser Beziehung die Schlacht von Malplaquet (11. September 1709) im Spanischen Erbfolgekrieg, in der sowohl aufseiten der französischen Armee als auch aufseiten der antifranzösischen Allianz Schweizer Regimenter fochten und die Berner Patrizierfamilie von May hüben wie drüben mit einem eigenen Regiment involviert war. Die eidgenössische Tagsatzung reagierte. Sie drohte Offizieren und Soldaten künftig mit Sanktionen, wenn sie sich offensiv gegen Mächte verwenden liessen, die mit einzelnen Kantonen verbündet waren. Ereignisse wie Malplaquet offenbarten die politischen Konsequenzen einer schwachen, unkoordinierten Aussenpolitik der eidgenössischen Orte, deren Eliten die partikularen Interessen letztlich höher gewichteten als jene der eidgenössischen Nation, die als solche noch kaum eine handlungsleitende Kategorie im politischen Denken der Elite darstellte. Finanzprobleme und Transgressionen waren dafür verantwortlich, dass sich die Verlängerung der Allianzen – insbesondere jener mit Frankreich – seit der Mitte des 17. Jahrhunderts schwierig gestaltete. Es bedurfte jahrelanger diplomatischer Verhandlungen, bis Frankreich und die 13 Orte ihre Allianz 1663 ein weiteres Mal verlängerten.