Kitabı oku: «Mitten in Europa», sayfa 3

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Im 18. Jahrhundert kam die Kritik reformerisch-aufgeklärter Kreise auf, die den Solddienst nicht mehr aus moralisch-religiösen, sondern aus bevölkerungs- und wirtschaftspolitischen Gründen ablehnten. Sie tadelten den Export junger Männer als Verlust wertvoller Arbeitskräfte für die heimische Wirtschaft und Gesellschaft. Die fremden Dienste galten diesen Reformkreisen als Zeugnis einer schlechten Regierung, die sich zu wenig um die Verbesserung der Lebensverhältnisse im eigenen Land bemühte.

Phase 4 (Mitte des 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ancien Régime respektive bis Mitte des 19. Jahrhunderts): Das Leben in den Garnisonen prägte den Alltag der Söldner in der längeren Friedensperiode seit den frühen 1760er-Jahren. Die durchschnittlichen Dienstzeiten dauerten immer länger. Im Stichjahr 1792 hatte die Hälfte der Soldaten im Freiburger Regiment Diesbach mehr als sechs Jahre gedient. Darunter befanden sich zahlreiche Männer, die schon mehr als 20 Jahre bei der Truppe verbracht hatten. Wer sich so lange im Ausland aufhielt, kehrte nach der Entlassung aus dem Dienst nicht unbedingt in die Schweiz zurück. Viele blieben im Ausland, heirateten und gingen einer zivilen Tätigkeit nach. Viele der in der Region Paris stationierten Soldaten der Schweizergarde arbeiteten nach ihrer Dienstentlassung als Türsteher, Hausmeister, Gastwirte, Schneider, Schuhmacher oder Küster – Tätigkeiten, denen sie schon als Garnisonssoldaten in Friedenszeiten nachgegangen waren, um ihr Einkommen aufzubessern. Dabei hatten sie vom rechtlichen Sonderstatus der Schweizer Regimenter in Frankreich profitiert. Weil Schweizer Söldner keine Umsatzsteuer auf Wein bezahlten, betätigten sie sich gerne als Cafetiers und Beizer oder spannten mit einheimischen Gewerbetreibenden zusammen, welche über diese Mittelsmänner günstig Wein einkauften. Wie sehr die lange Dienstdauer die Bindung der Söldner an die alte Heimat lockerte, zeigte sich bei der Abdankung der Schweizer Regimenter durch die französische Nationalversammlung 1792. Allein von den 1500 Angehörigen des Schweizer Garderegiments traten 350 Mann in die reguläre französische Armee über und beteiligten sich fortan am Krieg der Französischen Republik gegen die Koalition der europäischen Monarchen.

Die Französische Revolution brachte das Ende der fremden Dienste. Söldnerheere erschienen im Zeitalter der Nationalarmeen mit allgemeiner Wehrpflicht und mit der Massenmobilisierung («levée en masse») der Staatsbürger als fragwürdig und überholt. Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft lebte die Tradition der fremden Dienste in der Restauration nochmals für kürzere Zeit auf (Sardinien-Piemont bis 1815, Grossbritannien bis 1816, Spanien bis 1823, Niederlande bis 1829, Frankreich bis 1830, Neapel bis 1859). Die liberal-radikalen Kräfte in der Schweiz verurteilten jedoch den Solddienst als eine der souveränen Republik unwürdige Erscheinung des Ancien Régime und verboten neue Kapitulationen in der Bundesverfassung 1848 und per Gesetz 1859.

Zivile Arbeitsmigration

Im Unterschied zu den Söldnern in fremden Diensten sind die zivilen Arbeitsmigranten der frühen Neuzeit im allgemeinen historischen Bewusstsein viel weniger gegenwärtig. Dies hat mehrere Gründe: Die historische Erinnerung an die fremden Dienste wurde im 19. und 20. Jahrhundert besonders von Nachkommen von Militärunternehmern und Offizieren aus dem Ancien Régime wachgehalten, die als Militär- und Kriegshistoriker neben der Familienmemoria auch das im Zeitalter des Nationalismus und Militarismus verbreitete Interesse an Militaria bedienten. Paul de Vallières Buch «Honneur et Fidélité» (1. Aufl. 1914), ein frühes Standardwerk zu den Schweizer fremden Diensten, wurde zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ausdrücklich zur Stärkung des eidgenössischen Wehrwillens neu aufgelegt und erhielt Einführungen von General Henri Guisan (1874–1960) und Oberstkorpskommandant Ulrich Wille (1877–1959). Eine solch prominente Erinnerungstradition vermochte die zivile Arbeitsmigration wohl auch deshalb nicht zu stiften, weil sie nicht einen einzigen Berufsstand, sondern ganz verschiedene Tätigkeitsfelder berührte, und weil sie kein Massenphänomen, sondern das unspektakuläre Werk von Einzelpersonen und kleinen Gruppen war. Zivile Arbeitsmigranten waren vielfach als Spezialisten und Experten ihres Metiers unterwegs und fanden dank ihren handwerklichen und gewerblichen Fertigkeiten, ihres künstlerischen Talents, ihres Wissens oder ihren pädagogischen und kulturellen Kompetenzen ein Auskommen im Ausland. Die Weltläufigkeit und hohe Anpassungsfähigkeit dieser zivilen Arbeitsmigranten korrigieren verbreitete Vorstellungen: Zum einen widerlegen sie das Stereotyp einer ländlich-bäuerlichen, schollenverhafteten und wenig mobilen Schweiz, und zum anderen hinterfragen sie besonders die Vorstellung einer Bergwelt, in der die Menschen fernab von den dynamischen gesellschaftlichen Zentren und kulturellen Brennpunkten ein eingezogenes, bescheidenes Leben in den Bahnen der immer gleichen Gewohnheiten fristeten.

ZUCKERBÄCKER AUS GRAUBÜNDEN

Die Bündner Zuckerbäcker und ihre Bedeutung für die Verbreitung des Geschäfts mit Süssigkeiten und Kaffee quer durch das Europa des 17. bis 19. Jahrhunderts stellen eines der sonderbarsten und faszinierendsten Kapitel der schweizerischen Migrationsgeschichte dar. In hohem Mass erklärungsbedürftig ist dieses Geschäft, weil die Zuckerbäcker aus Graubünden eine Ware verkauften, die in ihrer Heimat kaum bekannt war. Kaffee und Zucker mussten als Kolonialwaren von weit her eingeführt werden. Bis weit ins 18. Jahrhundert galten sie aus christlich-moralisierender Sicht als verwerfliche Genussmittel, in ökonomischer Hinsicht aber als unnötige, teure Konsumgüter, die nicht für die breite Bevölkerung bestimmt waren.

Die Bündner Zuckerbäcker trafen den Geschmack einer kaufkräftigen adeligen und bürgerlichen Oberschicht in den Grossstädten des 18. und 19. Jahrhunderts, wo damals die Kaffeehauskultur aufkam. Als öffentlicher Raum unterschied sich das Kaffeehaus von den herkömmlichen Wirtshäusern, wo hauptsächlich Alkohol getrunken wurde. Im Kaffeehaus traf sich die gehobene Gesellschaft zur Erholung, zur Lektüre, zum Gespräch und zum Spiel. Dazu trank man Kaffee und verspeiste Fein- und Süssgebäck, womit man sich symbolisch von den Arbeitern und Handwerkern abhob, die sich solchen Luxus nicht leisten konnten.

Die Anfänge des Bündner Zuckerbäckergewerbes liegen im Venedig des 17. Jahrhunderts. Seit der Bündner Eroberung des Veltlins 1512 grenzten die Drei Bünde und die Republik Venedig in den Bergamasker Alpen aneinander. Die beiden Staaten unterhielten enge wirtschaftliche und politische Beziehungen. 1603 schlossen sie ein Bündnis, das den Bündnern gestattete, sich als Gewerbetreibende in Venedig niederzulassen. Schon 1612 hielten sich über 300 Bündner in der Lagunenstadt auf, wo sie sich zu einem frühen Zeitpunkt als Verkäufer von Kaffee betätigten. Aufgrund seiner führenden Rolle im Handel mit der Levante war Venedig ein Einfallstor für den «Türkentrank» im westlichen Europa; ein erstes Kaffeehaus wurde schon 1647 eröffnet. Dass sich die Bündner in Venedig auf das Gewerbe mit Kaffee und Backwaren spezialisierten, mochte damit zusammenhängen, dass ihnen dieses Gewerbe ein Betätigungsfeld eröffnete, das die eingesessenen Zünfte noch nicht besetzt hatten.

Das Geschäft der Bündner mit Süssigkeiten und Kaffee in Venedig florierte, bis die Serenissima die Bündner Handelsund Gewerbeprivilegien 1766 aufhob. Die Bündner Regierung hatte Venedig vor den Kopf gestossen, weil sie 1763 ein Bündnis mit dem habsburgisch-österreichischen Mailand abgeschlossen hatte. Venedig kündigte 1764 die Allianz mit den Drei Bünden, sodass 1766 3000 Bündner Kaufleute und Gewerbetreibende die Stadt verlassen mussten.12 Da es damals in Graubünden weder Grossstädte noch Kaffeehäuser gab, zogen viele ausgewiesene Zuckerbäcker in die Städte Deutschlands (Berlin, Leipzig, Dresden), Polens, des Baltikums (Riga), Österreich-Ungarns und Russlands. Warschau wurde ein Zentrum des Bündner Konditoreigewerbes, von wo aus es sich im 19. Jahrhundert in zahlreiche weitere Städte des russischen Zarenreichs ausbreitete. St. Petersburg wurde für die Bündner Zuckerbäcker die zweite wichtige Niederlassung in Osteuropa. Wiederum andere wanderten im 18. und 19. Jahrhundert nach Süden und Westen, wo Marseille und die aufstrebenden französischen Atlantikhäfen neben den italienischen Städten häufige Destinationen waren.

Im europaweiten Bündner Zuckerbäcker- und Kaffeehausgewerbe gaben Familien aus dem Puschlav (Mini, Semadeni), aus dem Oberengadin (Josty, L’Orsa, Zamboni) und Unterengadin (Arquint), aus Davos (Branger, Isler, Wolf) und dem Bergell (Castelmur), aus dem Hinterrheintal (Caviezel) sowie dem Safiental (Gredig, Zinsli) den Ton an. Ihr Gewerbe blieb insofern bemerkenswert, als sie dieses bis zum Aufkommen des Tourismus in Graubünden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur im Ausland ausübten. Zu Hause wurden keine Zuckerbäcker benötigt. Das ganze Gewerbe – von der Ausbildung der Lehrlinge und der Absolvierung der Gesellenzeit über die Tätigkeit der selbständigen Meister und Besitzer eines oder mehrerer Betriebe – spielte sich ausschliesslich im Ausland ab. Dennoch wurden die Beziehungen zur Heimat vielfach über Generationen hinweg aufrechterhalten und bestimmten so das Migrationsverhalten der Bergbevölkerung. Die Gewerbetreibenden in der Fremde zogen junge Landsleute und Verwandte als Lehrlinge nach. Sie heirateten Bündnerinnen, schickten ihre Kinder zur Ausbildung in die Schweiz und kehrten bisweilen als erfolgreiche Unternehmer nach Graubünden zurück, wo sie sich in repräsentativen Alterssitzen niederliessen, politische Ämter in Gemeinde und Kanton übernahmen oder als Pioniere im aufstrebenden Tourismus aktiv wurden.

HANDWERKER, GEWERBETREIBENDE UND HÄNDLER AUS DEN SÜDALPINEN TÄLERN

Die Wanderungs- und Laufbahnmuster der Zuckerbäcker aus Graubünden lassen sich auch bei anderen Handwerkern und Gewerbetreibenden aus den südalpinen Tälern des Tessins und Graubündens nachweisen. Zahlreiche Berufsgruppen betrieben dort eine saisonale oder lebenszyklische Wanderarbeit, die keine Besonderheit dieser heute schweizerischen Gebirgsgegenden, sondern grundsätzlich im ganzen Alpenraum von den Karnischen Alpen im Nordosten Italiens bis in die Täler der französischen Haute-Dauphiné verbreitet war. Aus den Bergtälern zogen zahlreiche Arbeitskräfte in die Ebene und kehrten jeweils nach einigen Monaten oder Jahren in ihre Bergdörfer zurück. Über die Migration pendelte sich ein intensiver Austausch von Dienstleistungen und Gütern zwischen den Bergen und den Städten der Tiefebene ein.

In ganz unterschiedlichen Gewerben wurde diese weiträumige Arbeitsmigration praktiziert, wobei sich einzelne Regionen auf bestimmte Tätigkeiten spezialisierten. Schon im 15. Jahrhundert tauchten Gepäckträger aus dem Bleniotal, dem Locarnese und der Leventina in Mailand, Genua und in der Toscana auf. Aus dem Onsernonetal kamen vor allem Hutmacher, während unter den Auswanderern aus dem Verzascatal, aus Minusio, Intragna und dem Misox die Kaminfeger stark vertreten waren. Das Bleniotal war im 18. und 19. Jahrhundert mit seinen Schokoladefabrikanten und -händlern sowie Marronibratern, die ihre Ware in Oberitalien, Frankreich, England, Holland und Deutschland absetzten, besonders im Konsumgütersektor stark vertreten.

Die Städte und Territorien Italiens waren aus politischen und kulturellen Gründen das erste Auswanderungsziel. Wirtschaftlich, kulturell und politisch-herrschaftlich gehörten die südalpinen Täler des Tessins zum Einflussbereich lombardischer Herrschaften. Erst im 15. Jahrhundert griffen die Innerschweizer Orte über den Gotthard nach Süden aus. Ihre Expansion wurde mit der Eroberung des Luganese, Locarnese und Mendrisiotto (1512/17) und dem Verzicht des Herzogtums Mailand auf diese Gebiete abgeschlossen. Schon im 16. Jahrhundert richteten Wanderarbeiter ihre Ziele auch nach Norden und Osten aus und waren seitdem je nach Gewerbe in Frankreich und den Niederlanden, in Deutschland, Österreich-Ungarn, Böhmen, Mähren und Polen anzutreffen.

Beobachtungen zur Wanderarbeit der Gepäckträger, Transportarbeiter sowie der Kaminfeger sollen diese allgemeinen Feststellungen veranschaulichen.

Gepäckträger und Transportarbeiter aus dem Locarnese waren in den grossen Häfen von Genua, Livorno und Pisa tätig, wo sie sich erfolgreich gegen Konkurrenten aus dem Bergamaskerland und Veltlin behaupteten. Im Hafen von Livorno knöpften die 50 Gepäckträger aus dem Locarnese (Rasa, Ronco, Losone) 1631 ihren Konkurrenten das Monopol gegen eine Jahresgebühr von 1750 Dukaten ab und willigten ein, ohne Ehefrauen im Zollgebäude des Hafens zu leben und nicht ohne obrigkeitliche Bewilligung in die Heimat zurückzukehren. Sie behaupteten das erbliche und lukrative Monopol auf die Verladearbeiten bis 1847.

Die Misoxer Kaminfeger stiegen in Wien im 17. und 18. Jahrhundert auf, als die Bevölkerung dieser Metropole von etwa 130 000 Einwohner (1720) auf 260 000 Einwohner (1818) anwuchs. In Grossstädten wie Wien ordneten die Behörden aus feuerpolizeilichen Gründen frühzeitig das regelmässige Fegen der Kamine an. Das Wiener Kaminfegergewerbe florierte nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Kaminfeger zünftisch-korporativ organisierten und feste Bezirke untereinander aufteilten. Die Zunftmeister konnten bis ins 19. Jahrhundert die Zahl der Meisterstellen auf 18 beschränken und damit die Marktverhältnisse kartellisieren. In der habsburgischen Residenz behaupteten mehrere Kaminfegerfamilien aus dem Misox eine starke Position. 30 Männer aus der Familie Martinola aus Soazza waren dort zwischen dem späten 17. und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tätig. 28 Kaminfeger aus der Familie Toscano aus Mesocco schafften es bis zur Meisterschaft. Zwischen 1775 und 1860 stellten die zugewanderten Meister aus Soazza und Roveredo fast ausschliesslich die Vorstände der Kaminfegerzunft in Wien. Das angesehene Amt des kaiserlichen Hofrauchfangkehrers bekleideten zwischen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und dem Jahr 1826 ausschliesslich Meister aus Soazza. Der Hofkaminfeger hatte alle Gebäude der kaiserlichen Verwaltung unter sich. Das Amt brachte nicht nur einen hohen Verdienst, sondern auch grosses Prestige ein.

Die in Wien lebenden Kaminfeger aus dem Misox standen in regem Austausch mit ihren Familien zu Hause. Das Beziehungs- und Kommunikationssystem funktionierte über die weite Entfernung in beide Richtungen. Es etablierte sich eine langfristig stabile Migrationstradition innerhalb eines Dorfes oder gar innerhalb derselben Familie, wie der Fall der Familie Toscano zeigt, die zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts 31 junge Männer nach Wien in die Lehre schickte. Für die anhaltenden Verbindungen zwischen Wien und dem Misox spricht auch die Tatsache, dass viele Wiener Gewerbler in der Heimat Grund und Boden in ihrem Besitz behielten und sich damit die Option der Rückwanderung offenhielten. Von der Verbundenheit mit der Heimat zeugten auch Schenkungen und Erbschaften der Wiener Familien für ihre Verwandten sowie fromme Legate für kirchliche Einrichtungen im Misox. Die Wanderungen der Misoxer Kaminfeger waren offenbar eine Mischung von lebenszyklischer Wanderung und permanenter Auswanderung. Für die einen beschränkte sich der Aufenthalt in Wien auf eine bestimmte Lebensphase, andere liessen sich dort dauerhaft nieder.

Ganz anders getaktet waren die Bewegungen der saisonal migrierenden Gepäckträger, Hutverkäufer, Marronibrater oder Bauarbeiter. Diese Saisonarbeiter hielten sich jeweils etwa ein halbes Jahr in der Fremde auf, kehrten dann in ihre Dörfer zurück, um im Jahr darauf wieder loszuziehen. Für mehrere Monate entleerten sich die betroffenen Tessiner Dörfer von ihren Männern, und die Frauen, Kinder und Alten blieben unter sich. Vermutlich bestanden diese Wanderzyklen schon im 16. Jahrhundert. Je nach Branche und regionaler Herkunft überwogen die Sommerwanderer, die jeweils zwischen März und Mai auszogen und im November oder Dezember zurückkehrten, oder die Winterwanderer, die zwischen Herbst und Frühling landesabwesend waren. So waren die Tessiner Bauarbeiter allgemein im Sommerhalbjahr von zu Hause weg, während die Männer aus den Alpentälern des Sopraceneri ihre Dörfer im Winter verliessen.

Die saisonale Wanderung war eine verbreitete gesellschaftliche Erscheinung. Einträge der Priester in den Kirchenbüchern geben für bestimmte Stichjahre einen Eindruck vom Ausmass der Auswanderung: In Mezzovico waren 1677 65 Prozent der erwerbsfähigen Männer (15–64 Jahre) bei der Erhebung nicht im Land. Im Bleniotal, wo im Jahr 1743 insgesamt 1741 Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren lebten, waren zum Zeitpunkt der Erhebung 815 Männer (56%) landesabwesend. In einzelnen Blenieser Gemeinden lag dieser Anteil wesentlich höher. So waren 1743 in Leontica 92 von 99 Männern, in Olivone 217 von 260, in Buttino 30 von 34, in Campo 42 von 53 und in Torre 24 von 30 Männern nicht zu Hause.13 Auch wenn diese Zahlen für das Bleniotal besonders hoch sind und in anderen Gemeinden nur zwischen 11 und gut 21 Prozent der Männer im erwerbsfähigen Alter als Saisonarbeiter wanderten, bleibt allgemein festzuhalten, dass die saisonale Wanderung das soziale, ökonomische und kulturelle Leben dieser Tessiner Dörfer wesentlich prägte.

Welche ökonomische Logik lag den saisonalen Wanderungen zugrunde, und welche Folgen hatte diese für den Lebensalltag der Wandernden und der Zuhausebleibenden? Die Wanderung bildete das eine tragende Element einer Haus- und Familienwirtschaft, die ihre Subsistenz aus zwei Quellen bestritt. Die Männer brachten aus der Fremde Geldeinkünfte nach Hause, die sie in der Heimat nicht erwerben konnten, weil das Tessin nur wenig urbanisiert und kommerzialisiert war. Abgesehen vom fruchtbaren, flachen Mendrisiotto war das Tessin mit seinen vielen Tälern, Hügel- und Berglandschaften stark auf die Subsistenzlandwirtschaft ausgerichtet. Mit dem Geldeinkommen der Wanderarbeiter kauften sich die Haushalte Nahrungsmittel und Güter, die im Tessin nicht oder nicht in hinreichender Menge produziert wurden, vornehmlich Wein, Getreide und Salz, und sie bezahlten damit ihre Abgaben und Gebühren. Flüssiges Geld alimentierte zudem das lokale Kreditwesen und den Immobilienmarkt. Komplementär zu diesem geldwirtschaftlich-kommerziellen Pol der lokalen Ökonomie agierten die Frauen und übrigen Angehörigen des Haushalts, die zu Hause blieben. Sie bewirtschafteten die Felder, besorgten das Vieh und betrieben Sammelwirtschaft in den Wäldern. Sie produzierten die meiste Nahrung, die der Haushalt im Jahreslauf konsumierte. Männer und Frauen trugen je auf ihre Weise zur Subsistenz von Familie und Haushalt bei. Das saisonale Ausströmen der Männer erfolgte keineswegs aus der Not heraus, sondern war vielmehr in eine komplementäre Familienökonomie mit geschlechterspezifischer Rollen- und Arbeitsteilung eingebunden. Diese Verbindung von saisonalem Wandergewerbe und Subsistenzlandwirtschaft löste sich erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als sich mit der Massenauswanderung nach Übersee neue Möglichkeiten eröffneten.

Die duale Familienwirtschaft hat die Tessiner Täler in vielfältiger Hinsicht geprägt. Sie bestimmte die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen und den Zyklus der sozialen Reproduktion der Haushalte. Die Frauen trugen mit einer hohen Arbeitsbelastung die familiale Haus- und Landwirtschaft, was ihnen eine hohe Eigenverantwortung und Selbständigkeit verschaffte. Die Wanderungen der Männer strukturierten den Rhythmus der Heiraten und Geburten. Wo Winterwanderung vorherrschte wie im Bleniotal, wurde im Juni und Juli geheiratet, obwohl in diesen Monaten die anstrengenden Heuarbeiten anfielen. Die Kinder kamen im März und April des darauffolgenden Jahres zur Welt. Die letzten Monate der Schwangerschaft fielen damit günstigerweise in die Winterzeit, wo die Arbeitsbelastung in der Landwirtschaft vergleichsweise gering war. Die Sommerwanderer heirateten dagegen im Januar und Februar, die Geburten der Kinder häuften sich zwischen August und November. Auch das gesellschaftliche und politische Leben war auf die Wanderungen abgestimmt. Gemeindeversammlungen, Wahlen oder die Arbeiten im Gemeinwerk für die Ausbesserung von Kanälen, Wegen und Brücken fanden statt, wenn die Männer zu Hause waren.

Die meisten Wanderarbeiter und insbesondere die qualifizierten Baufacharbeiter waren für ihre berufliche Tätigkeit im Ausland auf eine gute Grundausbildung angewiesen. Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten waren erforderlich, um Arbeitsverträge abzuschliessen, mit den Angehörigen zu Hause brieflich in Kontakt zu bleiben und die eigenen Geschäfte in der Fremde zu betreiben. Deshalb verdichtete sich seit dem 16. Jahrhundert das Netz an Dorfschulen. 1630 zählte man in der italienischen Schweiz 52 Schulen. Die meisten lagen im Sottoceneri, woher die meisten Baufachleute stammten. Allerdings waren diese Dorfschulen allein für die Knaben – die künftigen Wanderarbeiter – bestimmt, die vom sechsten oder siebten Lebensjahr an die Schule besuchten, bevor sie in der Regel mit zwölf Jahren ein erstes Mal auszogen. Ihre frühesten Erfahrungen als Wanderarbeiter machten die jungen Männer gewöhnlich, wenn sie von älteren Verwandten oder Nachbarn angeworben oder mitgenommen wurden.

BAUFACHLEUTE UND KÜNSTLER

Die hoch qualifizierten Baumeister, Maler, Bildhauer, Steinmetzen und Bauarbeiter aus den Tessiner und Bündner Tälern verdienen bei der Betrachtung der Arbeitsmigration besondere Aufmerksamkeit. Schon im Mittelalter zogen sie aus den lombardischen Voralpen aus und waren auf den grossen Baustellen der sich stark entwickelnden Städte Italiens anzutreffen. Hauptsächlich stammten sie aus dem Sottoceneri – aus der Umgebung von Lugano, dem Malcantone und dem Mendrisiotto, die im frühen 16. Jahrhundert unter die Herrschaft der eidgenössischen Orte gelangten –, häufig auch aus dem Misox, das seit dem späten 15. Jahrhundert bündnerisch war.

Auch diese ausgeprägte Spezialistenwanderung war meist zeitlich befristet. Die Facharbeiter hielten sich für eine Saison oder wenige Jahre in der Ferne auf. Im Rhythmus von Auszug und Rückkehr entstanden enge Beziehungen zwischen den Bauherren in Italien und den Baufachleuten aus den südalpinen Tälern. Die Verbindungen der Wanderer zu ihren Dörfern blieben bestehen, sodass die heimatliche Verwandtschaft und Nachbarschaft über die Jahrhunderte hinweg das wichtigste Reservoir für die Rekrutierung und Ausbildung junger Facharbeiter bildeten. Auf diese Weise entstanden eigentliche Dynastien von Baufachleuten, die über Generationen hinweg auf bedeutenden Bauplätzen des Auslands anzutreffen waren: die Aprile, die wie die Casella, die Lombardo und die Solari aus Carona stammten, die Artari aus Campione beziehungsweise Arogno, die Baroffio aus Mendrisio, die Bossi aus dem Luganese und Mendrisiotto, die Cantoni aus dem Valle di Muggio, die Carlone aus Rovio, die Castelli, Porri und Tencalla aus Bissone, die Fontana aus Melide, die Lucchesi aus dem Luganese, die Oldelli aus Meride, die Pozzi aus Castel San Pietro und die Silva aus Morbio Inferiore, die Soldati aus dem Malcantone, die Somazzi aus Montagnola und Gentilino, die Taddei und Verda aus Gandria oder die Visconti aus Curio.

Warum gerade Männer aus diesen Regionen über besondere bautechnische Fertigkeiten verfügten, ist nicht eindeutig zu klären. Eine gewisse Plausibilität hat die Vermutung für sich, dass die Vorkommen verschiedener Steinarten in den südalpinen Tälern frühzeitig die Meisterschaft in der Steinbearbeitung gefördert haben. Der unternehmerische Erfolg dieser Baufachleute gründete darin, dass sie eigentliche Konsortien («maestranze») bildeten, die alle anstehenden Arbeiten auf grossen Baustellen erledigten. Der Baumeister übernahm die Leitung des Bauplatzes und brachte die Spezialisten zusammen, die er für die verschiedenen Bauetappen benötigte: Steinmetzen, Maurer, Maler, Bildhauer, Stuckateure. Die gemeinsame Herkunft und die Zusammenarbeit auf den Baustellen begründeten die korporative Organisation dieser in hohem Grad arbeitsteiligen Unternehmungen. Mit dem Zusammenschluss zu Gesellschaften und Bruderschaften wahrten die Baufacharbeiter ihre Rechte und Interessen gegenüber Bauherren und lokalen Behörden und leisteten sich Hilfe in materieller Not, bei Krankheit oder Tod in der Fremde.

Frühe Wirkungsstätten dieser Wanderarbeiter waren die Bauhütten der romanischen und gotischen Kathedralen in Modena, Bergamo, Parma, Trient oder Mailand. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts boten Rom und Neapel, wo die Päpste und die spanischen Vizekönige eine intensive städtebauliche Tätigkeit entfalteten, interessante Aufträge in der Übergangsperiode von der Spätrenaissance zum Barock. Seit dem 16. Jahrhundert wandten sich Tessiner und Misoxer Baumeister auch nach Norden und Osten (Deutschland, Schweden, Polen, Böhmen). Ab etwa 1700 weitete sich ihr Aktionsradius bis nach Russland aus, wo sie bis weit ins 19. Jahrhundert einen beträchtlichen Einfluss auf die Repräsentationsarchitektur ausübten.

Die Baumeister der frühen Zeit sind namentlich nicht bekannt. Im Unterschied zu den Architekten, Bildhauern und Malern der Renaissance, die sich als unverwechselbare Künstler einen Namen machten, verstanden sich jene noch als Handwerker, die im Auftrag ihrer Bauherren tätig waren und namenlos blieben. Doch seit dem 16. Jahrhundert traten auch unter den Tessiner und Misoxer Baumeistern, Malern und Stuckateuren Künstlerpersönlichkeiten hervor, die mit ihren Werken in die europäische Architektur- und Kunstgeschichte eingingen.

Tessiner und Misoxer Baufachleute im Ausland (A: Architekt/Baumeister; B: Bildhauer; I: Ingenieur; M: Maler; S: Stuckateur) (Auswahl, 15.–19. Jahrhundert)14



Drei herausragende Tessiner Baumeister sollen hier stellvertretend für zahlreiche andere porträtiert werden. Ihre Bauten bestimmen noch heute das Stadtbild der Ewigen Stadt und Neapels.

Domenico Fontana (1543–1607) aus Melide kam als junger Stuckateur um 1563 nach Rom, wo er als Baumeister in die Dienste Papst Gregors XIII. (1502–1585, Papst ab 1572) trat. Die Begegnung mit Kardinal Felice Peretti, der als Sixtus V. (1521–1590, Papst ab 1585) Papst Gregor nachfolgte, förderte Fontanas Karriere massgeblich. Sixtus V. entfaltete eine intensive Bautätigkeit in Rom und beauftragte Fontana mit dem Bau der päpstlichen Paläste im Vatikan, Lateran sowie auf dem Quirinal. Er erneuerte die Wasserversorgung Roms und liess Wasser in die höher gelegenen Stadtteile führen, wofür Domenico Fontana – teilweise mit seinem Bruder Giovanni – Aquädukte und repräsentative Brunnen wie den Mosesbrunnen auf der Piazza San Bernardo errichtete.

Zusammen mit Giacomo della Porta (um 1532–1602) aus dem Melide gegenüberliegenden, heute italienischen Porlezza erbaute Fontana die Kuppel des Petersdoms. In einer bemerkenswerten Ingenieursleistung restaurierte er im Auftrag Sixtus’ V. die umgestürzten, zerbrochenen ägyptischen Obelisken aus dem antiken Rom, überführte sie innerhalb weniger Jahre auf den Petersplatz (1586), die Piazza S. Maria Maggiore (1587), die Piazza S. Giovanni in Laterano (1588) und die Piazza S. Maria del Popolo (1589), wo er sie als nunmehr geweihte Monumente neu aufstellte. Nach dem Tod seines päpstlichen Patrons und Förderers verlor Fontana seine Stellung am päpstlichen Hof und trat 1592 in den Dienst des Vizekönigs von Neapel, für den er die Hafenanlagen Neapels umbaute, Strassenbauprojekte leitete und ab 1600 den neuen königlichen Palast errichtete.

Carlo Maderno (Maderni) (1555/56–1629), Fontanas Neffe aus Capolago am Luganersee, durchlief eine nicht minder eindrückliche Karriere. Um 1576 holten die Onkel den 20-Jährigen nach Rom, wo sie ihn als Stuckateur und Steinmetz, später als Architekten und Ingenieur beschäftigten. Als Domenico Fontana Rom in Richtung Neapel verliess, übernahm Maderno die Leitung der Bauunternehmen seines Onkels in Rom. Als sein bedeutendstes Werk gilt die Vollendung des Petersdoms, dessen Langhaus und Fassade unter Papst Paul V. (1552–1621, Papst ab 1605) nach seinen Plänen errichtet wurden. Neben Kirchen baute Maderno Paläste für den römischen Kurienadel und prägte mit seinem Stil die neue Barockarchitektur Roms.

Das Beziehungsmuster zwischen Fontana und Maderno spielte auch in der nächsten Generation im Fall von Francesco Borromini (1599–1667) aus Bissone. Borromini war ein entfernter Verwandter Madernos und arbeitete seit 1619 unter dessen Leitung auf dem Bauplatz des Petersdoms. Auch Borromini errichtete wie seine Verwandten in Rom zahlreiche Sakral- und Profanbauten, wobei er insbesondere in der Gunst von Papst Innozenz X. (1574–1655, Papst ab 1644) stand. Sant’Ivo alla Sapienzia – die Kapelle der Römer Universität – zeigt mit dem Kontrast von konkaven und konvexen Formen und der in einer spiralförmigen Spitze endenden Kuppel exemplarisch die Ausgefallenheit und Originalität von Borrominis Architektur, die ihn zum grossen Gegenspieler von Gian Lorenzo Bernini (1598–1680), dem zweiten «Stararchitekten» Roms im 17. Jahrhundert, machte.

Baumeister aus der Familie Porri (Pario) aus Bissone fanden schon vor Mitte des 16. Jahrhunderts ihren Weg nach Schlesien, etwas später auch nach Norddeutschland, Polen und schliesslich nach Schweden, wo sie im Auftrag der Kirche, von Königen, Fürsten, Adel und Städten Sakralbauten, Schlösser, Rathäuser und Festungen im Stil der lombardischen Renaissance errichteten. Giacomo Porri († 1575) arbeitete 1569/70 mit dem Luganeser Baumeister Giovan Battista Quadro († um 1590/91) an der Erweiterung des Warschauer Königsschlosses. Giacomos Bruder Francesco († 1580) trat als königlicher Architekt in die Dienste von Johann III. Wasa von Schweden (1537–1592, König ab 1568), für den er die Schlösser von Uppsala und Stockholm baute.

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