Kitabı oku: «Mitten in Europa», sayfa 4
Die Bautätigkeit von Tessiner Baumeistern in Polen setzte sich im frühen 17. Jahrhundert fort. Matteo Castelli (um 1560–1632) – ein Neffe Domenico Fontanas und Carlo Madernos – wurde 1613 von König Sigismund III. Wasa (1566– 1632, ab 1587 König von Polen) an den Hof nach Warschau berufen, nachdem er zuerst auf Madernos Bauplätzen in Rom als Bildhauer, Vorarbeiter und Planer gelernt und gearbeitet hatte. Castelli arbeitete am Bau des Warschauer Schlosses, eines der ersten Barockschlösser Mitteleuropas, welches den Einfluss der Architektur Fontanas und Madernos verrät. Castelli war es, der 1630 seinen Neffen Costante Tencalla aus Bissone (um 1590–1646) nach Warschau holte, nachdem dieser in der Römer Werkstatt Madernos in die Lehre gegangen war. In Warschau trat Tencalla in königliche Dienste ein und schuf neben zahlreichen Bauten 1644 als eines seiner wichtigsten Werke die Sigismundsäule, das Wahrzeichen Warschaus auf dem Schlossplatz der polnischen Hauptstadt.
Grosse Bedeutung für die Verbreitung des italienischen Barocks nördlich der Alpen kam seit dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert den Baumeistern und Stuckateuren aus dem Misox zu. In der Gegenreformation manifestierte der intensive barocke Sakralbau in der Schweiz, in (Süd-)Deutschland, Österreich, Böhmen und Polen das neu erstarkte Selbstbewusstsein der katholischen Kirche. Diese wurde zur wichtigen Auftraggeberin für Baumeister und Künstler, die die neue Formensprache des Barocks beherrschten. Wie ihre Tessiner Kollegen aus dem Sottoceneri empfahlen sich die Misoxer ihren Bauherren durch eine überlegene Bautechnik und die gute Organisation der Bauplätze. Sie operierten in Bautrupps, die sich der Grösse und den Anforderungen des jeweiligen Bauauftrags flexibel anpassten. Die gemeinsame Herkunft, vielfältige verwandtschaftliche Verbindungen und die häufige Zusammenarbeit bürgten für einen gut eingespielten Baubetrieb, der auch schwierige Aufgaben bewältigte.
Gilg Vältin beziehungsweise Giulio Valentini (um 1540 bis nach 1616) aus Roveredo wirkte in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts im schwäbisch-bayerischen Raum. Vermutlich ging bei ihm Hans Alberthal (um 1575/80 bis um 1657), auch bekannt als Giovanni Albertalli und ebenfalls aus Roveredo stammend, in die Lehre. Dieser war später unter anderem in Dillingen, Augsburg, Eichstätt, Innsbruck, schliesslich in Bratislava tätig und gilt als ein Wegbereiter des Barocks in Süddeutschland.
Hatte der Dreissigjährige Krieg die Bautätigkeit in Süddeutschland längere Zeit zum Erliegen gebracht, so setzte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Residenzen zahlreicher mittlerer und kleiner Fürstenstaaten ein eigentlicher Bauboom ein. Einige herausragende Repräsentanten sollen hier stellvertretend für diese Misoxer Baumeistertradition mit ausgewählten Bauten porträtiert werden.
Giacomo Angelini (1632–1714) – beziehungsweise Jakob Engel, wie er in Deutschland genannt wurde – aus San Vittore stand ab 1661 im Dienst des Fürstbischofs von Eichstätt. Als Hofbaumeister prägte Angelini massgeblich das barocke Stadtbild Eichstätts und errichtete zahlreiche Kirchenbauten in der Umgebung der Bischofsstadt. Sein grösster Auftrag war der Neubau der fürstbischöflichen Residenz ab 1700. Diese wurde von Engels Landsmann Gabriele de Gabrieli (1671–1747) zu Ende gebaut, nachdem dieser in jungen Jahren an der markgräflichen Residenz in Ansbach mitgebaut hatte. 1714 wurde de Gabrieli Engels Nachfolger als Eichstätter Hofbaumeister. In dieser Funktion errichtete er über 30 Kirchen, Schlösser, Adelspaläste und Denkmäler. De Gabrielis Laufbahn bestätigt die Bedeutung landsmannschaftlicher und verwandtschaftlicher Beziehungen in der Tätigkeit der Baumeister aus dem Misox: De Gabrielis Mutter war die Schwester von Gaspare Zuccalli (um 1637–1717), der ab 1688 in Salzburg Hofbaumeister des Erzbischofs war. Als Eichstätter Hofbaumeister wurde de Gabrieli von zwei Brüdern und weiteren Mitarbeitern aus dem Misox unterstützt. Über seinen Onkel Gaspare Zuccalli war de Gabrieli auch mit Enrico Zuccalli (1642–1724) verwandt, der seit 1679 als Hofbaumeister des Kurfürsten von Bayern die oberste Leitung der Bauprojekte der Wittelsbacher innehatte, die ihre politischen Ambitionen im Reich durch eine intensive Bautätigkeit zur Darstellung brachten. Enrico Zuccalli – wie de Gabrieli aus Roveredo gebürtig – vollendete in München die Theatinerkirche und Schloss Nymphenburg, bevor er mit dem Bau der Schlösser Lustheim, des Neuen Schlosses Schleissheim, der Erweiterung von Nymphenburg und ab 1709 mit dem Bau von Kirche und Kloster Ettal massgeblich die bayerische Barockarchitektur prägte. Bei der Erweiterung von Schloss Nymphenburg (1701–1705) arbeitete Zuccalli mit Giovanni Antonio Viscardi (1645–1713) – einem weiteren Misoxer – zusammen, der ihn nach seiner Absetzung durch die kaiserliche Besatzung 1706 als Hofbaumeister ablöste und in Bayern zahlreiche Schlösser und Klosterkirchen errichtete.
Tessiner Baumeister, wie etwa die Solari aus Carona, hatten schon seit dem 15. Jahrhundert für Moskauer Grossfürsten gearbeitet. Russland wurde aber vor allem seit der Regierungszeit von Zar Peter dem Grossen (1672–1725, Zar ab 1682) neben Italien, (Süd-)Deutschland und Polen eine weitere wichtige Wirkungsstätte der Baumeister aus den südalpinen Tälern. Der von Peter dem Grossen seit 1703 in der Newa-Mündung vorangetriebene Bau einer neuen Haupt- und Residenzstadt wurde massgeblich von Domenico Trezzini (um 1670–1734) geleitet. Trezzini aus Astano im Malcantone hatte nach seiner Lehrzeit in Rom zuerst für König Friedrich IV. von Dänemark (1671–1730, König ab 1699) in Kopenhagen an der Hafenbefestigung und am Wiederaufbau der Börse gearbeitet, bevor er zum Baumeister des Zaren berufen wurde. Er verwirklichte selber mehrere herausragende Gebäude, die bis heute das Stadtbild St. Petersburgs prägen, so die Peter-und-Paul-Festung (1706–1734), die Peter-und-Paul-Kathedrale mit ihrem markanten Glockenturm (1712–1732), den Sommerpalast der Zaren (1710–1714) oder das Alexander-Newski-Kloster (1715–1720). Trezzini steht am Anfang einer bemerkenswert langen Präsenz von Tessiner Architekten im Zarenreich, die bis weit ins 19. Jahrhundert andauerte. Landsmannschaftliche Netzwerke spielten auch hier eine Rolle, stammten doch die in Russland tätigen Baumeister aus den Familien Adamini, Gilardi, Rossi, Rusca und Visconti alle aus dem Umland von Lugano. Mehrere Generationen der Adamini aus Bigogno und der Gilardi aus Montagnola prägten mit ihren Bauten für die Herrscherfamilie, den Hochadel und die orthodoxe Kirche das (spät-)klassizistische Erscheinungsbild von St. Petersburg und Moskau.
Das Wanderschicksal der Tessiner und Bündner Baufachleute teilten auch manche Schweizer Maler und Bildhauer aus Gebieten nördlich der Alpen.
Schweizer Künstler aus Orten nördlich der Alpen mit einer Tätigkeit im Ausland (Auswahl, 16.–19. Jahrhundert)15
Seit der Reformation galten insbesondere die bilderfeindlichen reformierten Kantone als schwieriges Pflaster für Künstler, da diese in der frühen Neuzeit noch zu einem erheblichen Teil von kirchlichen Aufträgen lebten. Doch auch die katholischen Kantone, wo im 17. Jahrhundert ein intensiver barocker Sakralbau einsetzte, boten Künstlern weniger Beschäftigungsmöglichkeiten als das Ausland. Die auf Sparsamkeit und unmittelbare Nützlichkeit bedachten eidgenössischen Republiken waren mit Aufträgen für profane Repräsentationsbauten wesentlich knauseriger als die Monarchen und der Adel in den europäischen Fürstenstaaten, für die eine ostentative Zurschaustellung höfischen Glanzes und die mäzenatische Förderung der Kunst zum ständischen Selbstverständnis gehörten. Der Zürcher Maler Johann Caspar Füssli (1706–1782), der 1724–1731 in Wien und an süddeutschen Höfen als Porträtist tätig gewesen war und dessen Sohn Johann Heinrich Füssli (1741–1825) später in Rom und vor allem in London als Historienmaler sowie Professor an der Royal Academy Karriere machen sollte, schilderte in seiner «Geschichte der besten Künstler in der Schweiz» die Gründe, die Schweizer Künstler zur Auswanderung zwangen.
Johann Caspar Füssli zur Zwangsmigration von Schweizer Künstlern im Ancien Régime (1769)
«Es ist schwerer, als man glaubt, eine Geschichte der Künstler zu schreiben, von einer Nation, wo der grössere Teil bei einer edlen Einfalt der Sitten und einer glücklichen Mittelmässigkeit der Reichtümer ihren Aufwand mehr auf das Nötige verwendet, und wo folglich der Künstler, um zu einer wahren Grösse zu gelangen, aus Mangel von Kunst Sachen, und folglich auch Aufmunterung, sein Vaterland verlassen, und auswärts sich bilden muss, will er dann die Früchte seiner Kunst geniessen, so findet er sein Glück leichter und gewisser in Königs Städten und in Ländern, wo Pracht und Aufwand keine Grenzen haben.»16
GELEHRTE UND HAUSLEHRER
Zur Migrationsgeschichte der alten Schweiz gehören nebst den Söldnern, Zuckerbäckern, Kaminfegern und Baumeistern auch die Gelehrten und Hauslehrer – gewissermassen Migranten im Dienst der Wissenschaft und Erziehung. Diese hoch qualifizierten Spezialisten waren ausgeprägte Einzelwanderer und wurden bislang zu wenig in ihrer Bedeutung für eine schweizerische Verflechtungsgeschichte beachtet. Viele von ihnen verliessen das Land in der Erwartung, im Ausland eine bestimmte Lebensphase zu verbringen und dann mit besseren Aussichten auf eine angemessene berufliche und soziale Stellung in die Schweiz zurückzukehren. Für einige trat die Option der Rückkehr im Verlauf ihres Auslandsaufenthalts in den Hintergrund, weil sie ihre Kontakte zur alten Heimat gelockert und sich ihnen im Ausland attraktive Karriereperspektiven eröffnet hatten. Gelehrte und Gebildete verliessen die Schweiz, weil ihre geistige und kulturelle Kompetenz im Ausland mehr gefragt war als zu Hause, wo sie sich mit ihrem Wissen nicht das Ansehen und die Position verschaffen konnten, die ihren Kollegen im Ausland in Aussicht standen. Die Beschäftigung mit der Auswanderung von Schweizer Gelehrten und Gebildeten berührt auch die grundsätzliche Frage nach dem Status des gelehrten Wissens in der alten Schweiz. Fallbeispiele sollen die Chancen und Risiken der Gelehrtenwanderung aus der Schweiz erhellen.
Die Biografie Albrecht (von) Hallers (1708–1777) verdeutlicht den Spagat eines Mannes, der sich als Mediziner und Botaniker eine enorme Reputation in der europäischen Gelehrtenrepublik erwarb und zugleich als Angehöriger einer Familie am Rand des bernischen Patriziats darauf bedacht sein musste, seinen Nachkommen ein standesgemässes Auskommen in der aristokratischen Republik Bern zu sichern.
Haller galt im 18. Jahrhundert als einer der bedeutendsten Gelehrten Europas. Als Begründer der experimentellen Physiologie und als herausragender Botaniker gehörte er den wichtigsten europäischen Wissenschaftsakademien an. Die Reichweite seines Korrespondenznetzes zeigte seinen Rang und Einfluss an. Hallers Netzwerk umfasste 1200 Korrespondenten und reichte von Schweden bis Südspanien und von Irland bis Moskau. Der junge Haller war nach dem Studium der Medizin in Tübingen und Leiden 1729 nach Bern zurückgekehrt, wo er zunächst als Arzt praktizierte und sich erfolglos um die Stelle des Stadtarztes und eine Professur an der Hohen Schule bewarb. 1736 wurde er als Professor der Anatomie, Botanik und Chirurgie an die neue Universität Göttingen berufen, die als Reformuniversität die experimentelle Forschung förderte. Haller trug mit seinen Forschungen und Publikationen massgeblich zum Aufschwung der Göttinger Universität bei, an der er auch das Präsidium der Akademie der Wissenschaften übernahm. Gleichwohl kehrte er 1753 zur grossen Überraschung seiner Gelehrtenkollegen nach Bern zurück. Die Rückkehr erfolgte aus Gründen der langfristigen Familienökonomie. Die Haller waren wohl Burger der Stadt Bern und gelangten ab und zu in den Grossen Rat der Republik, doch gehörten sie nicht zur patrizischen Elite. Albrecht Haller war 1745 – noch von Göttingen aus – dank der Protektion des Berner Schultheissen in den Grossen Rat gewählt worden, doch war ihm sehr wohl bewusst, dass er nur mit seiner Anwesenheit in Bern sich selber und seinen Söhnen eine Perspektive im bernischen Magistratenstand sichern konnte. Im höheren Interesse der Familie brach Haller seine glänzende universitäre Karriere ab, verzichtete auf die Forschungseinrichtungen in Göttingen und hoffte, nach seiner Rückkehr auf eine einträgliche Landvogtei gewählt zu werden, die ihm und seinen Angehörigen ein standesgemässes Auskommen sichern sollte. Den sehnlichst erhofften Sprung in den Kleinen Rat schaffte er allerdings trotz neunmaliger Bewerbung nie. Um in der Berner Aristokratie ganz nach oben zu gelangen und dort zu bleiben, waren nicht wissenschaftliche Pionierleistungen gefragt, sondern die richtige Geburt.
Hallers Beispiel verdeutlicht, was für ein hartes Pflaster die Schweiz im 18. Jahrhundert für Gelehrte war. Die einzige Universität in Basel sowie die reformierten Hohen Schulen in Genf, Bern, Zürich und Lausanne waren keine Stätten der wissenschaftlichen Forschung, sondern dienten der Ausbildung von Theologen, Pfarrern und Juristen. Für Gelehrte, die wie Haller Wissenschaft als empirische Naturforschung betrieben und für ihre Experimente an Tieren und Pflanzen Labors und botanische Gärten benötigten, gab es in der Schweiz keine institutionelle Wirkungsstätte. Hier fehlten auch Akademien der Wissenschaften, die in den grossen Monarchien seit dem 17. Jahrhundert als neuartige Forschungseinrichtungen zum Nutzen der Gelehrsamkeit sowie zum Ruhm der Monarchen gegründet worden waren. Die kleinen eidgenössischen Republiken hätten es nie als ihre Aufgabe betrachtet, mit Staatsgeldern Wissenschaftsakademien zu unterhalten – nicht etwa, weil ihnen das Geld dazu gefehlt hätte, sondern weil dies ausserhalb ihres kulturellen Horizonts und ihres Staatsverständnisses lag. Sie investierten wohl Geld in die Ausbildung von Pfarrern, die nützlich waren, um die Menschen im richtigen Glauben und in der christlichen Moral zu unterrichten, aber nicht in die Forschung, den ergebnisoffenen Prozess der Akkumulation von Wissen.
Schweizer Gelehrten, die sich wie Haller mit ihren Forschungen und Publikationen in der europäischen Gelehrtenrepublik profilieren und von der Wissenschaft leben wollten, blieb nur die Auswanderung übrig.
Schweizer Gelehrte der frühen Neuzeit im Ausland (Auswahl, 16.–18. Jahrhundert)17
Was für Haller der Aufenthalt in Göttingen gewesen war, wurde für andere Schweizer Gelehrte der Aufenthalt an der Akademie in Berlin oder in St. Petersburg. Im 18. Jahrhundert stammte zeitweilig ein Drittel der Mitglieder der Berliner Akademie aus der Schweiz. Besonders eindrücklich war die Schweizer Präsenz an der russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, wo ein eigentliches helvetisches Netzwerk die Politik der Akademie im 18. Jahrhundert wesentlich bestimmte.
Als die noch von Peter dem Grossen 1725 gegründete Akademie in St. Petersburg unter Zarin Katharina I. (1684–1727, regierende Zarin ab 1725) ihre Tätigkeit aufnahm, musste sie als Erstes renommierte Gelehrte aus dem Ausland gewinnen. In Russland selber, das sich unter Zar Peter kulturell stark nach Westeuropa hin geöffnet hatte, fehlte das geeignete Personal. Unter den 22 Ausländern, die zwischen 1725 und 1727 ihre Arbeit als residierende Akademiemitglieder in St. Petersburg aufnahmen, befanden sich auch die Basler Mathematiker Jacob Hermann (1678–1733), Leonhard Euler (1707–1783) sowie Nicolaus (1695–1726) und Daniel Bernoulli (1700–1782).
Basel war im späten 17. und im 18. Jahrhundert ein europäisches Zentrum der Mathematik, Physik und Mechanik. Dies hatte weniger mit der Qualität der dortigen Universität zu tun als mit der Tatsache, dass sich die Bernoulli – eine ursprünglich aus Antwerpen stammende Frankfurter Refugiantenfamilie – 1622 in Basel eingebürgert hatten. Mit den Gebrüdern Jakob (1654–1705) und Johann (1664–1748) stellte diese Familie zwei der besten Mathematiker ihrer Zeit. Die Bernoulli-Brüder begründeten eine eigentliche Gelehrtendynastie, deren Angehörige zusammen mit ihren Schülern Jacob Hermann und Leonhard Euler im frühen 18. Jahrhundert in Europa den Ruhm der Basler Mathematik und Physik begründeten.
Nicht von ungefähr holte sich die junge Petersburger Akademie also ihre Mathematiker in der Stadt am Rheinknie. Sie nutzte dabei die Dienste angesehener, gut vernetzter Gelehrter in Mitteleuropa. Für die St. Petersburger Akademie suchte Christian Wolff (1679–1754), der berühmte Philosoph, Jurist und Mathematiker der deutschen Aufklärung, im deutschsprachigen Raum nach geeigneten Gelehrten, unterbreitete der Akademie Personalvorschläge und handelte teilweise direkt mit den Kandidaten die Anstellungsbedingungen aus. Wolff knüpfte auch die ersten Kontakte zu Johann I. Bernoulli, der zwar selber die Anfrage ablehnte, doch an seiner Stelle seine Söhne Nicolaus und Daniel empfahl. Beide zogen in der Folge nach Russland, wo Nicolaus sehr früh verstarb und Daniel bis zu seiner Rückkehr nach Basel 1733 wirkte. Auf der Basis dieser frühen persönlichen und institutionellen Verbindung zur Akademie konnten sich die Beziehungen zwischen Russland und Basel verstetigen und dauerhaft für die Rekrutierung neuer Gelehrter genutzt werden.
Bei den Berufungen an die russische Akademie der Wissenschaften zog das Basler Netzwerk im 18. und frühen 19. Jahrhundert die Fäden. Besonders erfolgreich war das Gespann Daniel Bernoulli (in St. Petersburg 1725–1733) und Leonhard Euler (in St. Petersburg 1725–1741, 1766–1783), die beide als Schaltstellen bei der Rekrutierung von Akademieangehörigen aus der Schweiz fungierten. Nur zwei Schweizer Gelehrte – der Schaffhauser Botaniker Johann Ammann (1707–1740; ab 1733 in St. Petersburg) und der Basler Mathematiker Jacob Hermann (in St. Petersburg 1725–1731) – verdankten ihre Mitgliedschaft in der Akademie nicht unmittelbar diesem Netzwerk. Daniel Bernoulli holte beziehungsweise vermittelte nicht nur seinen Bruder Johann II. (1710–1790; in St. Petersburg 1732–1733), sondern auch Euler selbst nach Russland. Leonhard Euler wiederum holte den Neuenburger Schneidersohn und Mathematiker Frédéric Moula nach St. Petersburg (1703–1782; in St. Petersburg 1733–1735/36 [?]). Gemeinsam warben Daniel Bernoulli und Euler in Basel auch den Schreinersohn und Mathematiker Niklaus Fuss (1755–1825; in St. Petersburg 1773–1825) sowie den Mechaniker für mathematische Instrumente Isaak Bruckner (1686– 1762; in St. Petersburg 1733–1745) an. Euler sicherte den langfristigen Einfluss dieses Beziehungsnetzes. Nach einem ersten längeren Aufenthalt in St. Petersburg 1727–1741 war er von 1741 bis 1766 als Direktor der Mathematischen Klasse der preussischen Akademie in Berlin tätig, ohne aber die Beziehungen nach Russland abzubrechen. Mehr als die Hälfte der deutschen Gelehrten, die zwischen 1741 und 1766 an die St. Petersburger Akademie wechselten, verdankten ihren Ruf Eulers Empfehlung. Als Zarin Katharina II. (1729–1796, Kaiserin ab 1762) Euler 1766 nach St. Petersburg zurückholen wollte, sagte dieser unter der Bedingung zu, seinen in Russland geborenen Sohn Johann Albrecht (1734–1800) – selber Physiker und Mathematiker, Mitglied der preussischen Akademie und Direktor der Berliner Sternwarte – mit nach Russland nehmen zu können. 1769 wurde Johann Albrecht Euler zum Sekretär der St. Petersburger Akademie ernannt, was ihm grossen Einfluss auf die Tätigkeit der Akademie verschaffte. Er lud die beiden Genfer Astronomen Jean-Louis Pictet (1739–1781) und Jacques-André Mallet (1740–1790) ein, in Russland 1769 den Gang der Venus vor der Sonne zu beobachten und naturkundliche Forschungen in Lappland anzustellen. 1786 holte Johann Albrecht Euler seinen Schwiegersohn Jacob Bernoulli (1759–1789) nach St. Petersburg. Vater Leonhard Euler, ab 1771 praktisch erblindet, zog 1773 den jungen Basler Niklaus Fuss als ständigen Gehilfen nach. Fuss wurde 1783 selber Professor für Mathematik und folgte 1800 seinem Schwiegervater Johann Albrecht Euler als Sekretär der Akademie nach, womit sich der Einfluss des Basler Netzwerks auf die Berufungspolitik der russischen Akademie um eine weitere Generation verlängerte. Fuss war massgeblich an der Ernennung seines Schwagers Jacob Bernoulli beteiligt und wirkte bei der Berufung der beiden Zürcher Hans Jakob Fries (Chirurg; 1749–1801) und Johann Kaspar Horner (Astronom, Geograf; 1774–1834; in St. Petersburg 1806–1809) an die Akademie mit. Fuss’ Sohn Paul Heinrich (1798–1855) – wiederum ein Mathematiker – folgte seinem Vater als Sekretär der Petersburger Akademie nach.
Vater und Sohn Euler sowie Niklaus Fuss, der als Gatte der Euler-Tochter beziehungsweise -Enkelin zu diesem familiären Netzwerk gezählt werden muss, bestimmten über ein Jahrhundert lang die Entwicklung der Petersburger Akademie mit und stiegen in Russland bis in höchste Staatsämter auf. Die temporäre oder dauerhafte Auswanderung schweizerischer Gelehrter brach nach diesen ersten Pioniergenerationen keinesfalls ab, sondern setzte sich im 19. Jahrhundert verstärkt fort und war damit Teil einer insgesamt beachtlichen Wanderung von Schweizerinnen und Schweizern nach Russland, die mit der Russischen Revolution 1917 abrupt abbrach.
Die Aufenthalte Albrecht Hallers in Göttingen und der Basler Mathematiker in Russland stellen die Spitze eines breiteren Phänomens dar. Als diese Gelehrten mit ihren Forschungen Wissenschaftsgeschichte schrieben, waren zahlreiche gut ausgebildete Schweizerinnen und Schweizer als Erzieher, Hauslehrer und Gouvernanten im Ausland tätig. Erzieher und Hauslehrer sind eine charakteristische Erscheinung der europäischen Schul- und Bildungsgeschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts. Adelige und wohlhabende Bürger, die es sich leisten konnten, stellten Privatlehrer für die individuelle schulische Bildung und Erziehung ihrer Kinder an. Die Pädagogen hielten sich für eine vertraglich vereinbarte Zeit im Haushalt ihres Dienstherrn auf und schulten die ihnen anvertrauten Kinder im Einzelunterricht. Zu ihren Aufgaben als Erzieher konnte es auch gehören, die ihnen anvertrauten Zöglinge im fortgeschrittenen Alter auf Bildungsreisen durch Europa oder beim Studium an die Universität zu begleiten. Viele Schweizer Abgänger von Universitäten und Hohen Schulen überbrückten im 18. Jahrhundert die Wartezeit bis zur Anstellung als Pfarrer oder in einem anderen Amt mit der zeitweiligen Beschäftigung als Erzieher und Hauslehrer im Ausland. In der zweiten Jahrhunderthälfte war das Überangebot an Theologen in der reformierten Schweiz so gross, dass viele unter ihnen lange – mitunter vergeblich – auf die Wahl auf eine vakante Pfründe warteten. Für ledige Frauen bot die Anstellung als Erzieherinnen in adeligen und grossbürgerlichen Familien des Auslands im späten 18. und 19. Jahrhundert eine attraktive, ihren geistigen und kulturellen Fähigkeiten entsprechende Erwerbsmöglichkeit, die für sie in der Schweiz erst mit dem starken Ausbau der Volksschule im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstehen sollte.
Besonders Männer und Frauen aus der reformierten französischsprachigen Schweiz empfahlen sich mit einer guten Ausbildung für Anstellungen als Pädagoginnen und Pädagogen im Ausland. Sie beherrschten die französische Sprache und hatten den richtigen, protestantischen Glauben. Französischkenntnisse waren im 18. Jahrhundert eine unabdingbare Voraussetzung nicht nur für eine berufliche Karriere in Politik und Diplomatie, sondern auch für die Gesellschaftsfähigkeit von Angehörigen der Oberschicht. Gleichzeitig kam der religiös-moralischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen ein hoher Stellenwert zu, weshalb protestantische Fürsten, Adelige und Bürgerfamilien in Deutschland, den Niederlanden, Skandinavien und Russland ihre Zöglinge lieber Pädagogen und Gouvernanten aus Neuchâtel, der Waadt und Genf anvertrauten als katholischen Franzosen.
Ein Gesamtbild dieser Pädagogenmigration zu vermitteln, ist schwierig, doch schätzt man, dass Hunderte von Schweizerinnen und Schweizern im 18. und 19. Jahrhundert im Ausland tätig waren. Wiederum ragen einzelne Figuren heraus, die nach ihrer Tätigkeit als Hauslehrer und Erzieher beziehungsweise Erzieherinnen in anderen Positionen Berühmtheit erlangten. Stellvertretend für zahlreiche andere kann hier Frédéric-César de la Harpe (1754–1838) genannt werden, der Waadtländer Revolutionär und Mitglied des Helvetischen Direktoriums 1798–1800. Zwischen 1783 und 1795 war er für die Erziehung von Alexander und Konstantin Romanow, der beiden Enkel von Zarin Katharina II. von Russland, verantwortlich gewesen und hatte damit die Basis für eine lebenslange, enge Beziehung zur russischen Zarenfamilie gelegt. Dies gilt ebenso für Jeanne Huc-Mazelet (1756–1852) aus Morges, die von 1790 bis 1794 für die Erziehung von Alexanders jüngerer Halbschwester Maria Pawlowna (1786–1859) zuständig war. Beide Waadtländer nutzten ihre Beziehungen zu Zar Alexander I. (1777–1825, Zar ab 1801) beziehungsweise zu dessen Schwester, als es nach dem Zusammensturz der Herrschaft Napoleons 1813– 1815 für die Waadtländer Politik darum ging, die Diplomatie der Grossmächte gegen Berns Ansprüche auf die Restauration der Herrschaft über die Waadt zu mobilisieren und die Souveränität des jungen Westschweizer Kantonalstaats abzusichern.
Schweizer Erzieherinnen bzw. Erzieher und Hauslehrer im Ausland (Auswahl, 17.–19. Jahrhundert)18
Die Beobachtungen zur Auswanderung und Rückwanderung von Gelehrten, Erziehern und Hauslehrern geben Anlass zu einigen allgemeinen Feststellungen zur Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schweiz. Im Vergleich zum Ausland, wo Wissenschaftsakademien und Reformuniversitäten das höhere Bildungswesen und die Dynamik der Forschung in Medizin und Naturwissenschaften bestimmten, fällt die Rückständigkeit der höheren Bildungseinrichtungen in der Schweiz des Ancien Régime auf. Hier richteten erst die liberalen Regierungen im 19. Jahrhundert Universitäten als zeitgemässe Forschungs- und Bildungsanstalten ein. Die alte Schweiz hingegen bot ihren Gelehrten keine deren Fähigkeiten entsprechenden Beschäftigungsmöglichkeiten. Ihre Forschung betrieben die Schweizer Gelehrten in ihrer Freizeit und als Mitglieder zahlreicher privater gelehrter Gesellschaften, sicherten sich daneben aber ihre Existenz in einem Brotberuf als Pfarrer oder Magistraten, sofern sie nicht als Privatgelehrte von ihrem Vermögen leben konnten. Nicht zufällig stammten zahlreiche Schweizer Gelehrte des 18. Jahrhunderts aus Familien der soziopolitischen Elite. Der Ruf an eine Universität oder Akademie im Ausland bot demgegenüber die Gelegenheit, aus der Vereinzelung eines privaten Gelehrtendaseins hinauszutreten und die Forscherneugier in einem engen institutionellen Austausch mit Gleichgesinnten und gegen Bezahlung befriedigen zu können. Besonders die Zugehörigkeit zu einer Wissenschaftsakademie versetzte die Gelehrten in einen prestigeträchtigen Kontext am Hof eines grossen Monarchen, wo sich mit innovativer Forschung nicht nur Ruhm und Ehre in der Gelehrtenrepublik, sondern auch die Gunst und Zuwendung eines mächtigen Patrons erwerben liessen – ganz im Unterschied zu den republikanisch-aristokratischen Kleinstaaten zu Hause, wo wissenschaftliche Leistungen keine Karriereperspektiven eröffneten und die Obrigkeiten keinerlei Interesse bekundeten, die Staatseinnahmen für die Finanzierung wissenschaftlicher Forschung statt für die Alimentierung der regierenden Geschlechter zu verwenden.
WER GEHT, WER KOMMT? ZUR SCHWEIZER SIEDLUNGSWANDERUNG
Siedlungswanderungen waren aufgrund ihres kollektiven Charakters und der Perspektive der Migrierenden auf die dauerhafte Niederlassung am Zielort in der Regel organisierte Unternehmungen. Sie wurden von interessierten Kreisen in den Zielländern vorangetrieben und sollten grössere Gruppen zur dauerhaften Verlegung ihres Lebensmittelpunkts bewegen.
Grössere Gruppen von Schweizer Siedlungswanderern wanderten erstmals gegen Ende des Dreissigjährigen Kriegs in den 1640er-/1650er-Jahren aus. Im Dreissigjährigen Krieg hatten Württemberg oder die Pfalz Bevölkerungsverluste von bis zu 70 Prozent hinnehmen müssen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden diese Gebiete erneut durch Kriege zwischen Frankreich und dem Reich in Mitleidenschaft gezogen. Die Landesherren dieser Territorien in der näheren und weiteren Nachbarschaft warben deshalb in der vom Krieg verschonten Schweiz um Bauern, die die entvölkerten Landstriche wieder besiedeln sollten. Zwischen 1660 und 1740 zogen 15 000 bis 20 000 Menschen in Richtung Freigrafschaft Burgund, Elsass, Pfalz, Baden, Württemberg, Bayern und Brandenburg weg.
Europäische Destinationen schweizerischer Siedlungswanderung (17.–18. Jahrhundert)19
Die geschätzten Werte vermitteln wenig von der sozialen Dynamik und den organisatorischen Herausforderungen von Siedlungswanderungen in der frühen Neuzeit. Regionalstudien vermögen besser die Ausmasse und die lokalen Muster der permanenten Auswanderung aufzuzeigen.
Aus 22 Dörfern des bernischen Aargaus wanderten zwischen 1648 und 1700 jeweils 5 bis 115 Personen in die Pfalz aus. Zwischen 10 und 40 Prozent der Bewohner dieser Dörfer verliessen in diesem Zeitraum definitiv das Land.20 Dabei konnten sich regionale Auswanderungstraditionen einspielen, die sich über mehrere Generationen erstreckten, wie das Beispiel der Kirchgemeinde Ottenbach im Zürcher Knonauer Amt zeigt: Zwischen 1649 und 1749 verliessen insgesamt 667 Personen die Gemeinde, mehr als 75 Prozent in Richtung Elsass, Zweibrücken und Pfalz. Die Auswanderung erfolgte dabei keineswegs kontinuierlich, sondern in ausgeprägten Wellenbewegungen.21
Die Auswanderer aus dem Knonauer Amt waren überwiegend sogenannte Tauner, das heisst Angehörige der ländlichen Unterschicht, deren Haushalte sich von den bescheidenen Gütlein und der Betätigung im Landhandwerk kaum ernähren konnten und die folglich in Ernte- und Teuerungskrisen als Erste unter Hunger und Not zu leiden hatten. Auch Knechte und Mägde zogen weg, die im Ausland wegen des Arbeitskräftemangels gute Beschäftigungsmöglichkeiten fanden. Eine eigene Gruppe stellten die Täufer, Angehörige einer in der Reformation entstandenen Freikirche, dar, die sich trotz der Verfolgung durch die Obrigkeit meist in peripheren ländlichen Räumen hatten halten können. Die Auswanderung eröffnete dieser Glaubensgruppe die Aussicht, sich ein für allemal der Verfolgung durch Kirche und Obrigkeit zu entziehen und in der Fremde eine sichere Existenz mit herrschaftlich garantierter Glaubensfreiheit aufzubauen. Im Elsass und in anderen Gebieten gehörten die fleissigen Täufer aus der Schweiz bald einmal zu den Pionieren des Landbaus, die auf ihren Höfen erfolgreich Methoden zur Steigerung der agrarischen Erträge ausprobierten.
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