Kitabı oku: «Blutrausch», sayfa 2
Dienstag, 16.10 Uhr
Nachdem sich die Tür hinter der letzten Kundin für heute geschlossen hatte, dachte Marleen Schubert noch einmal an Frau Wolf zurück. Die Frau war zur Mittagszeit bei ihr gewesen und obwohl bereits mehrere Stunden vergangen waren, ging ihr die neue Kundin nicht aus dem Kopf.
Eine außergewöhnliche Frau, so höflich und bescheiden. Schade, dass nicht alle meine Kunden so sind, dachte Marleen.
Sie warf einen Blick auf das ausgefüllte Datenblatt, rechnete kurz nach und machte vor Erstaunen große Augen. Die muss sich verschrieben haben, schoss es ihr durch den Kopf. Diese Frau ist niemals neunundvierzig. Die sieht ja knuspriger aus als ich und ich bin neun Jahre jünger.
Marleen schüttelte fassungslos den Kopf. Für das Aussehen dieser Frau würde sie, ohne zu zögern, zehn Jahre ihres Lebens hergeben. Na ja, fünf – vielleicht?
Mein Gott, und was für schöne Hände die Frau hat. Makellos schlanke lange Finger und so zarte Haut.
Marleen hielt ihre Hände hoch und betrachtete sie kritisch. Dann seufzte sie tief, doch bevor sie sich groß Gedanken machen konnte, riss sie ein leises Rascheln, das nach dem Zusammenknäulen von Folie klang, aus ihren Gedanken.
Sie erhob sich und wollte in den hinteren Raum gehen, aus dem das merkwürdige Geräusch zu ihr gedrungen war, da sah sie aus den Augenwinkeln den weißen Octavia mit ihrem Mann Dirk am Steuer auf den Parkplatz fahren.
Pünktlich wie immer, freute sie sich und verschob auf der Stelle ihren Erkundungsgang auf den nächsten Tag. Eine Tüte mit Kosmetikpads wird heruntergefallen sein, darum kümmere ich mich morgen, sagte sie zu sich selbst.
Schnell warf Marleen Schlüssel, Telefon und Portemonnaie in ihre Handtasche, nahm die Tageseinnahmen aus der Geldkassette, verließ den Laden, verschloss gründlich die Tür hinter sich und eilte zu ihrem Mann.
Dienstag, 16.30 Uhr
Er empfand weder Enttäuschung noch Wut. Inzwischen hatte er sich an dieses Gefühl gewöhnt. In gewissen Situationen hatte er gar den Eindruck, wie ein unbeteiligter Beobachter neben sich selbst zu stehen, so wenig brachten ihn die Vorgänge und das Leben in der Stadt aus dem Gleichgewicht. Dabei war er weder phlegmatisch noch an seiner Umwelt desinteressiert. Zurückschauend musste er sich eingestehen, dass das nicht immer so gewesen war. In der Kindheit und Pubertät hatte ihn nichts von seinen Klassenkameraden unterschieden. Er hatte mit ihnen gelacht und war über Ungerechtigkeiten ebenso empört gewesen wie die anderen.
Jetzt, mit einem gewissen Abstand, glaubte er, dass die Ereignisse, die sein Leben verändert hatten, kein Zufall gewesen waren und ihn neu geformt hatten.
Es war Schicksal.
Er war auserwählt worden und hatte Macht in die Hände gelegt bekommen. Dieser Macht musste er sich würdig erweisen und furchtlos den neuen Weg beschreiten.
Natürlich war die Veränderung nicht von heute auf morgen über ihn hereingebrochen. Es war ein langwieriger Prozess gewesen, voller Selbstzweifel, Angst und Wut. Ein schwächerer Mensch wäre mit Sicherheit an dieser Metamorphose zugrunde gegangen – er jedoch war wie ein Phönix aus der Asche gestärkt ins Leben zurückgekehrt.
So machte es ihm heute nicht das Geringste aus, dass die Kosmetikerin nicht die ihr zugewiesene Rolle gespielt hatte. Dabei kostete es endlose Mühe einen Plan auszuarbeiten und wenn dann wegen einer Kleinigkeit das Vorhaben scheiterte, wäre es nur natürlich, wenn die Emotionen in ihm hochkochen würden.
Warum musste die Frau ausgerechnet heute ihr Geschäft überpünktlich verlassen? Für gewöhnlich machte sie sich noch einen Kaffee und räumte auf. Er wüsste zu gern, was sie zu der ungewöhnlichen Hast getrieben hatte. Vermutlich würde er das nie erfahren und eigentlich kümmerte ihn das auch nicht. Wenn er in sich hineinhorchte, stellte er fest, dass er die Sache entspannt sah. Morgen war auch noch ein Tag.
Genieße deine vierundzwanzig geschenkten Stunden, Mädchen!
Gerade als er das Kosmetikstudio verlassen wollte, fiel ihm im letzten Moment ein, dass Frau Schubert ihn gehört haben könnte. Es war nicht erforderlich, ihr Misstrauen zu wecken. Unnötiges Grübeln gräbt Falten in die Haut und schadet dem guten Aussehen und schließlich wusste er, mit welcher Sorgfalt die Kosmetikerin ihr Äußeres pflegte.
Über seinen Witz grinsend, nahm er eine Tüte mit Kosmetikpads aus einem offenstehenden Schrankfach und ließ sie zu Boden fallen.
Das gelegentliche Rascheln, das sich bei seiner Arbeit trotz größter Vorsicht nicht vermeiden ließ, war ein Ärgernis. Aber eine andere Möglichkeit, sauber und diskret zu arbeiten, sah er nicht.
Nach einem letzten prüfenden Blick, dass er auch keine Spuren hinterließ, verließ er das Studio durch die Hintertür, durch die er es zuvor betreten hatte. Dabei versäumte er es nicht, den Schlüssel zweimal im Schloss umzudrehen. Genauso, wie es Frau Schubert stets tat.
Dienstag, 16.40 Uhr
Ständig zur Uhr schauend, eilte Karin nach Hause. Die letzten Meter rannte sie. Im Konsum, an der Käsetheke, hatte sie zu lange getrödelt und beim Juwelier hatte sie länger als geplant warten müssen, bis sich zwei blutjunge, ständig kichernde Mädchen endlich für zwei identische Halsketten entschieden hatten. Zusätzlich war die Kommissarin eine Haltestelle später aus der Bahn gestiegen, um beim Gemüsehändler auf der Österreicher Straße Blumen zu kaufen.
»Wäre ich doch nur mit dem Auto gefahren«, schimpfte sie leise und suchte mit ihren Blicken misstrauisch die Straße hinter ihrem Wohnblock ab.
Erleichtert stieß Karin die Luft aus. Sandras himmelblauer SEAT parkte noch nicht auf der Straße – ihr blieb eine Gnadenfrist.
Wie von Furien gejagt, hetzte sie die Treppe in das vierte Stockwerk hinauf, schleuderte achtlos ihre Sandaletten von den Füßen, schaltete ihren Rechner an und verstaute Käse und Wein im Kühlschrank. Im Küchenschrank fand sie eine passende Vase für den Blumenstrauß. Der kleine Umweg hatte sich gelohnt. Onkel Vu hatte die schönsten Blumen in der ganzen Gegend.
Atemlos wählte sie anschließend am Monitor ein hübsches Porträtfoto von Sandra aus, druckte es auf Fotopapier und befestigte die gerade erworbenen Ohrstecker an den Ohrläppchen, die unter den Haaren hervorlugten. Ein kurzer prüfender Blick auf ihr Werk, dann huschte sie ins Wohnzimmer und versteckte das Bild mit dem Schmuck in der Schrankwand hinter den Büchern, damit sie es im passenden Moment zur Hand hatte.
Jetzt kam die große Ruhe über Karin. Zufrieden lächelnd, zog sie sich aus und marschierte ins Bad. Fünfzehn Minuten später stand sie frisch geduscht vor dem Spiegel und föhnte ihre Haare. Durch das Rauschen des Haartrockners bemerkte sie Sandras Ankunft erst, als sich die Badtür öffnete und zwei große braune Augen sie anstrahlten.
Karin schaltete den Föhn aus, legte ihn auf der Waschmaschine ab, spitzte ihre Lippen und bot sie Sandra zum Begrüßungskuss. Danach hielt sie der Freundin vor Stolz strahlend ihre Hände entgegen.
»Wow«, meinte Sandra beeindruckt. »Jetzt sehen deine Nägel nicht mehr aus, als hätte ein besoffener Biber dran rumgeknabbert.«
Karin holte tief Luft, der Protest erstarb jedoch auf ihren Lippen. Mit all ihren Sinnen spürte sie Sandras Blicke, die jeden Quadratzentimeter ihres nackten Körpers abtasteten.
Verführerisch lächelnd, trat Sandra nah an sie heran und legte ihr die Hand auf den Po. »Wenn du mich im Evakostüm empfängst, brauchst du dich nicht wundern, wenn ich spitz werde wie Nachbars Lumpi.«
In Karins Unterleib wuchs ein wohlig warmes Gefühl. »Vor dem Essen?«
Statt einer Antwort lächelte Sandra, zog ihr Shirt über den Kopf und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich glaube, du hast dich umsonst geduscht. In spätestens einer halben Stunde bist du wieder durchgeschwitzt.«
In diesem Moment klingelte Karins Telefon.
Dienstag, 17.10 Uhr
Glücklich kniff Patricia die Augen zusammen und lächelte. Der Abend versprach wunderschön zu werden. Eigentlich schade, dachte sie ein wenig wehmütig, dass ich mich nicht auf meinen kleinen Balkon setzen und bei einem Glas Roten die Dämmerung genießen kann. Verdient hätte ich es, nach der Schinderei im Fitnesscenter. Doch sie tröstete sich schnell, die Nacht würde auch so lustig werden.
Mit der Sonne um die Wette strahlend, bückte sie sich zu ihrem Fahrrad, öffnete das Schloss und radelte los. Vor zwei Tagen hatte sie die Annonce im Supermarkt entdeckt, kurzerhand die angegebene Nummer gewählt und war nur wenige Stunden später stolze Besitzerin eines flotten Drahtesels geworden. Patricia lächelte stolz. Drahtesel, was für tolle Vokabeln sie inzwischen beherrschte. Ihr Deutsch wurde von Tag zu Tag besser.
Sie konnte sich nicht beschweren. Alle Projekte, die sie in den letzten sechs Monaten angepackt hatte, haben sich zu Senkrechtstartern gemausert.
Vor drei Jahren war Patricia von Brighton nach Dresden gezogen. Hatte ihr Architekturstudium begonnen und es vor einem halben Jahr abgebrochen. Sie weinte dem Campus keine Träne nach. Das Entwerfen von Gebäuden hatte ihr nicht wirklich Spaß gemacht, ihr zu Beginn als Nebenerwerb geplantes Kellnern dagegen schon. Jeden Abend lernte sie in der Bar neue Leute kennen, jeden Abend neues Leben, neue Geschichten. Patricia fühlte sich wie geschaffen für diese bunte Welt. Die Trinkgelder, die sie allabendlich einstrich, waren okay und von der Aushilfe war sie zur fest angestellten Kellnerin aufgestiegen. Sie konnte sich eine eigene Wohnung leisten, der WG den Rücken kehren und obwohl ihr Nest noch nicht fertig eingerichtet war, fühlte sie sich pudelwohl.
Ein ihr mit Blaulicht entgegenkommender Wagen ließ sie am Straßenrand anhalten. Sie blickte verwundert hinterher. Tatsächlich, die Polizei bog in ihre Straße ein. Was können die in dem friedlichen Viertel nur wollen? Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und nachgesehen. Aber das konnte sie vergessen, sie war ohnehin viel zu spät.
Den Muskelkater ignorierend, trat sie kräftig in die Pedale, rief einer Nachbarin ein fröhliches »Hallo« zu und vergaß den Streifenwagen. Es gab wichtigere Dinge, bekam sie doch heute endlich die Gelegenheit, der Welt ihren neuen Sommeroverall zu präsentieren. Auch gab ihr die lange Fahrt zur Arbeit die Möglichkeit, ein wenig ihren Träumen nachzuhängen. Und davon hatte Patricia jede Menge. Sobald sie genügend Geld auf die hohe Kante gelegt hatte, wollte sie eine Ausbildung zum Sommelière beginnen. Patricia schmunzelte vergnügt. Später war vielleicht, mit einem Spritzer Glück, ein eigenes feines Weinrestaurant für sie drin.
Ja, das Leben meinte es gut mit ihr und Patricia war sich sicher, sollte eine Wahrsagerin zu ihrer Zukunft eine Kristallkugel befragen, würde diese rosarot aufglühen.
Dienstag, 18.20 Uhr
Hauptkommissarin Karin Wolf stieg aus ihrem Ford Fiesta und schaute missmutig in die Runde. Dabei streifte ihr Blick eine Harley-Davidson, die aufgebockt am Straßenrand stand. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen und sie schnaufte empört. Zum wiederholten Mal hatte sie das Wettrennen gegen das schwere Motorrad des Rechtsmediziners verloren.
Während sie versuchte, ihre Niederlage zu vergessen, musterte sie die Umgebung. Der Tatort lag im Nordosten von Dresden, im Stadtteil Weißig. Die Bautzner Landstraße war einen halben Kilometer entfernt und die einzigen Geräusche wurden von den Kollegen der KTU beim Entladen ihrer Gerätschaften verursacht.
Der Nachmittag mit seinen hochsommerlichen Temperaturen war einem milden Sommerabend gewichen. Ideal für ein gemütliches Abendessen, für Käse, Baguette und Wein. Idylle pur. Karin seufzte tief. Sie war müde und sehnte sich nach einem schönen Abend mit Sandra. Warum zum Teufel mussten die Leute sich umbringen lassen, wenn sie gerade auf Wolke sieben schwebte?
Natürlich war Sandra gleichfalls enttäuscht gewesen, hatte ihre gute Laune inzwischen aber wiedergefunden. Mit einem strahlenden Lächeln begrüßte die Hauptkommissarin ihre Kollegin Oberkommissarin Heidelinde Grün. »Bist du schon mal mit Karin gefahren, wenn sie mies drauf war?«
»Ja, und bei diesen Gelegenheiten habe ich eine Menge neuer Schimpfworte gelernt.«
Karin tat, als hätte sie nichts gehört und kam zur Sache. »Und? Wer versaut uns diesen Abend?«
Da Heidelinde aufgrund ihres fotografischen Gedächtnisses kein Notizbuch benötigte, fasste sie die bisherigen Erkenntnisse aus dem Kopf zusammen. »Norbert Weise, vierundvierzig. Anwalt mit eigner Kanzlei.«
»Oh Gott.« Sandra verdrehte die Augen. »Da gibt es sicher eine Million Verdächtige.«
Ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, fuhr Heidelinde in ihrem Telegrammstil fort: »Wohnhaft war Norbert Weise hier. Haus und Grundstück gehören ihm. Ob er noch andere Immobilien, Grundstücke, Wohnwagen oder dergleichen besitzt, weiß ich noch nicht. Bringe es aber in Erfahrung. Gefunden hat ihn Melanie Bergmann, die er in seiner Kanzlei als Assistentin beschäftigte.« Heidelinde wies mit einem knappen Nicken zu einer jungen Frau, die ruhelos neben dem Haus auf und ab tigerte. »Die dort mit dem sauren Gesicht. Sie geht uns allen auf die Nerven, fragt alle paar Minuten, ob sie endlich nach Hause zu ihrer Tochter gehen kann. Ich habe sie aber bis jetzt dabehalten, da ich nicht wusste, ob du sie noch befragen willst«, sagte sie an Karin gewandt.
Die schüttelte nur den Kopf und gähnte ausgiebig. »Wenn du mit ihr gesprochen hast, ist alles okay. Mir erzählt sie auch nicht mehr. Lass sie gehen, wir melden uns morgen bei ihr. Hat der Mann Angehörige?«
»Nur die Eltern. Ich habe Brückner zu ihnen geschickt.«
Karin zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe.
»Du musst nicht so kritisch gucken. Mit älteren Herrschaften kann er sehr gut umgehen.«
Karin, die wusste, dass Oberkommissar Brückner bei seinen Eltern lebt, biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und segnete Heidelindes Entscheidung ab.
»Da Weise in seiner Kanzlei keinen Partner hat, sich also niemand querstellen kann«, Heidelindes Wangen überzogen sich mit einer zarten Röte, »und ich nicht abwarten konnte, bis ihr hier auftaucht, habe ich deiner Entscheidung vorgegriffen, Karin.«
Obwohl Karin wusste, was jetzt kommen würde, und sie mit Heidelindes Vorgehen einverstanden war, konnte sie es wieder mal nicht lassen, ihre Kollegin an der Nase herumzuführen. Sie unterdrückte ein Grinsen und setzte eine strenge Miene auf.
Verunsichert sprach Heidelinde weiter: »Da ich hoffe, dass wir in seinen Unterlagen relevante Informationen finden, habe ich Jan mit Frau Bergmanns Schlüssel losgeschickt, damit er sich in der Kanzlei umsieht.«
Karin holte tief Luft, doch Sandras Faustschlag auf ihren Oberarm stoppte sie. »Quäl die arme Heidi nicht so. Siehst du nicht, wie sehr es sie mitnimmt, dass sie sich nicht an die Vorschriften gehalten hat? Du hättest es genauso gemacht, allerdings hättest du im Gegensatz zu Heidi kein schlechtes Gewissen.« Sandra trat zu der blonden Kommissarin und legte ihre Hand auf deren Arm. »Du hast alles richtig gemacht, Heidi. Und du musst auch nicht unbedingt mit Karin sprechen. Ich habe denselben Dienstgrad und vielleicht werde ich die Leitung der Morduntersuchung übernehmen.«
Jetzt lächelte Heidelinde. Zum Teil aus Erleichterung, aber auch weil sie Sandras Gedanke amüsierte. Allen war klar, dass nur außergewöhnliche Umstände ihren Chef, Kriminalrat Haupt, davon abhalten würden, Karin mit der Ermittlungsleitung zu betrauen.
»Eigentlich wollte ich nur sichergehen«, setzte Heidelinde ihren Bericht fort, »vermutlich hat das Verbrechen nichts mit der Arbeit des Anwalts zu tun. Alle Indizien deuten darauf hin, dass Weise einen Einbrecher überrascht hat und ihm das zum Verhängnis wurde. Doch ich will nicht vorgreifen. Am besten ihr seht euch die Bescherung selbst an.«
Karin und Sandra ließen sich von einem Kriminaltechniker Schutzanzüge geben, schlüpften hinein und betraten das Haus. Sie sahen auf den ersten Blick, dass Heidelindes Theorie nicht aus der Luft gegriffen war. Die Kabel für den Fernseher und den DVD-Player lugten traurig hinter dem gläsernen Rack hervor und eine leere Laptop-Tasche neben der Couch sprach Bände. Die Fächer und Schubladen der Wohnwand zeigten ebenfalls Anzeichen einer gründlichen Suche.
Karin blieb in der Mitte des Raumes stehen und ließ die Atmosphäre des Zimmers auf sich wirken. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft. Süßlich und leicht metallisch. Der Geruch des Todes. Obwohl sie die Leiche ausblendete, glaubte sie einen kalten Hauch auf ihrer Haut zu spüren. So, als würde der Geist des Toten neben ihr stehen. Augenblicklich stellten sich die Härchen auf ihren Unterarmen auf. Ein Verbrechen verändert einen Ort, fuhr es ihr durch den Kopf. Nicht nur äußerlich, in Form von Blut und dem Chaos einer Durchsuchung, sondern auch in der Ausstrahlung. Die Wände, der Fußboden, alles sandte bedrohliche Signale aus. Sie schüttelte die Empfindung ab und ging zu Sandra, die gerade zu dem Opfer getreten war.
Dr. Bretschneider, der Rechtsmediziner, widmete sich mit Hingabe der Leiche. Karin nickte dem Doktor knapp zu, Sandra dagegen beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte – laut genug, dass es alle Anwesenden hören konnten – in sein Ohr. »Hallo Mario, hast du Karins Zähne knirschen gehört, als du uns kurz nach Bühlau überholt hast?«
»Gehört nicht, gedacht habe ich es mir allerdings. Hallo, Karin.« Er winkte der schwarz gekleideten Hauptkommissarin fröhlich zu.
Die klappte mental die Ohren zu und das vertraute Gefühl von Frustration überkam sie bei der Erinnerung an Dr. Bretschneider, der mit einem eleganten Schlenker an ihnen vorbeigezogen war. Was konnte sie dafür, dass ihr Fiesta keine Chance gegen eine Harley hatte?
Ohne die beiden Scherzkekse eines Blickes zu würdigen, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Toten. Das schmerzverzerrte Gesicht und die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen holten Karin auf der Stelle in die Realität einer Mordermittlung zurück. Das Bild schockierte sie in seiner Brutalität so sehr, dass sie ihre Augen abwenden musste. Sie hatte in ihrer langen Dienstzeit viele schrecklich zugerichtete Leichen sehen müssen, aber ein derart gewaltsames Vorgehen war nicht alltäglich. Dieser Mann war einen qualvollen Tod gestorben. Die Blutlache neben dem Körper und die verkrampften Hände, die der Anwalt im Todeskampf an seinen Bauch gepresst hatte, verrieten der erfahrenen Kommissarin eine Menge über die Art seines Todes.
Mühsam löste Dr. Bretschneider die Finger des Opfers und unterzog die großflächige Wunde einer näheren Betrachtung. »Es sieht so aus, als hätte ihm der Täter das Messer in den Unterbauch gerammt und es anschließend nach oben gerissen. Anders kann ich mir die starke Blutung nicht erklären. Näheres erfahrt ihr morgen.«
»Kannst du schon sagen, wann er ermordet wurde?«
»Dass ihr es nie abwarten könnt.« Bretschneider wiegte nachdenklich den Kopf. »Festlegen will ich mich nicht, aber da die Totenstarre voll ausgeprägt ist, liegt er mindestens zwölf Stunden hier – wahrscheinlich sogar länger. Anhand der Körper- und Umgebungstemperatur tippe ich auf zwanzig bis fünfundzwanzig Stunden. Morgen kann ich es euch genau sagen.«
Von Sandra war sämtliche Fröhlichkeit abgefallen. Bedrückt starrte sie auf den Toten und hatte nur den Wunsch, sich fest an Karin zu klammern. Bei den vielen Kollegen im Raum verbot sich das jedoch von selbst. Dass Karin und sie ein Paar waren, wusste außer ihren engsten Mitarbeitern niemand. Wenn die Polizeiführung von ihrer Beziehung erfahren würde, dürften sie nicht mehr in derselben Abteilung arbeiten. Und das wollten die beiden um jeden Preis vermeiden.
Karin überwand ihre Schwäche und zwang sich, den Toten gründlich zu mustern. Jede Kleinigkeit prägte sie sich ein und wusste dabei genau, dass dieser grässliche Anblick sie in den kommenden Nächten in die schwärzesten Träume schicken würde. »Der hatte gestern Abend auf jeden Fall noch etwas vor«, sagte sie mehr zu sich selbst, »die Camouflage-Klamotten sind definitiv zu unbequem für einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher.«
»Vielleicht wollte er sich einen Kriegsfilm ansehen. Authentizität ist bei einem aktiven Zuschauer ein Muss.«
Der schwarze Humor des Gerichtsmediziners vertrieb Karins Beklommenheit. Dankbar grinste sie Dr. Bretschneider von der Seite an und zeigte auf die Pantoffeln, die der tote Anwalt noch an den Füßen trug. »Müsste er da nicht zackige Armeestiefel tragen?«
Ehe der Doktor antworten konnte, meldete sich Sandra. »Neben der Haustür stehen ein Paar blitzblank geputzte Wanderschuhe. So sauber, wie dieses Wohnzimmer ist, lief der niemals mit Straßenschuhen durchs Haus.«
Karin presste die Lippen aufeinander. Dieses Detail war ihr entgangen.
Die schweren Tritte von Günther Lachmann, dem Chef der KTU, stoppten ihre Selbstvorwürfe. Er kam die Treppe hinuntergestiegen. »Mir reicht es langsam mit diesem Mist. Ich glaube, ich habe in meinem Leben genug Leichen und Tatorte gesehen. Dieser Fall ist definitiv mein letzter.« Er holte tief Luft. »Es ist höchste Zeit für meinen Ruhestand.«
Karin hatte schon lange mit dieser Ankündigung gerechnet, die Entscheidung war längst überfällig, doch jetzt, da er es klar formulierte, wurde sie traurig. Verstehen konnte sie ihren alten Freund gut. Er wollte seinen Lebensabend mit Frau, Kindern und Enkeln verbringen und nicht mehr ständig mit den Händen in Dreck, Blut und Kot wühlen. Es würde einen Abschied geben und Karin wusste, dass trotz aller Beteuerungen, man würde sich ja oft treffen, dieser Abschied endgültig wäre.
Doch hier und heute war es noch nicht so weit. Betont fröhlich begrüßte sie ihn und fragte: »Dürfen wir uns bereits in den oberen Räumen umsehen?«
»Könnt ihr, wir haben alle Spuren gesichert. Viel gibtʼs da aber nicht zu sehen.«
Wie Günther es gesagt hatte, bot die obere Etage keine Überraschungen.
»Sieht gar nicht nach einer Junggesellenwohnung aus«, stellte Sandra nach dem Rundgang durch Bad, Arbeits- und Schlafzimmer fest. »Eigentlich recht geschmackvoll eingerichtet, sauber und ordentlich.«
Karin war derselben Meinung. »Dass die Buden von alleinstehenden Männern unaufgeräumte Drecklöcher sind, ist ein Klischee. Hier stimmt eigentlich alles. Wenn nicht gerade ein Mord in diesem Haus passiert wäre, könnte ich es mir durchaus vorstellen, hier einzuziehen.« Sie seufzte tief. »Allerdings wäre es mir lieber gewesen, eine verschrobene Hütte vorzufinden. Ein paar makabre Wohnaccessoires, zum Beispiel Schrumpfköpfe oder stapelweise Pornofilme, würden ungemein bei der Erstellung einer Charakterstudie helfen.«
»Schade, dass sein Computer weg ist. Da findet man solche schönen Dinge, vor allem bei Menschen mit Vorzeigewohnungen.«
Karin gab Sandra im Stillen recht und ging ein weiteres Mal langsam durch die Räume. Im Schlafzimmer blieb sie stehen. Eine Jogginghose und ein Sweatshirt fesselten ihren Blick. Die Kleidungsstücke lagen ordentlich über einem Stuhl. Sie nahm die Sachen und schnüffelte daran.
»Frisch gewaschen oder getragen?« Sandra sah ihre Partnerin erwartungsvoll an.
»Eindeutig benutzt. Vermutlich wollte er sie nach seiner Rückkehr sofort wieder überstreifen. Ich würde zu gern wissen, wohin er noch wollte.«
Sandra hob die Schultern. »Kann uns das nicht egal sein? Er ist in seinem Haus überfallen worden und fertig.«
Da Karin kein Gegenargument einfiel, überging sie die Bemerkung. »Ich kann nichts Außergewöhnliches entdecken. Sobald die KTU mit dem Haus fertig ist, lassen wir Jan von der Leine. Er ist ein absoluter Pedant. Wenn es etwas zu finden gibt, spürt er es auf.«
Sandra nickte zustimmend und stieg mit Karin die Holztreppe in das große Wohnzimmer hinunter.
Da die KTU noch mitten in der Arbeit steckte, war an ein Herumschnüffeln nicht zu denken. Die beiden Kommissarinnen sahen sich lächelnd an, hier kamen sie erst mal nicht weiter. Vielleicht war ihr gemeinsamer Abend noch zu retten.
Karin wollte gerade Heidelinde zu sich rufen, um ihr Anweisungen für das weitere Vorgehen zu geben, da winkte Günther Lachmann sie zu sich. »Schaut mal, was ich hinter dem Müllsack gefunden habe.« Er hatte den Inhalt eines Rucksacks auf dem Fußboden ausgebreitet und wirkte hocherfreut. »Das wirft ein besonderes Licht auf den Abendspaziergang unseres Anwalts.«
»Wow, ein Infrarot-HD-Digital-Nachtsicht-Monokular.« Sandra war in ihrem Element. Alles, was mit Technik auch nur im Entferntesten in Verbindung stand, zog sie magisch an. »Mit dem Teil kannst du Filme und Fotos in 4K-Auflösung aufnehmen. Super Qualität, muss sauteuer gewesen sein. Wieso hat der Einbrecher das nicht mitgehen lassen? Aha, weil er es hinter dem Rucksack nicht gesehen hat«, beantwortete sie selbst ihre Frage.
»Damit kannst du nachts filmen? Wie mit einem Nachtsichtgerät?«, wollte Karin wissen.
»Definitiv.« Sandra hatte sich bereits das nächste Gerät geschnappt und unterzog es einer eingehenden Betrachtung. »Der Herr Anwalt muss Großes vorgehabt haben. Zusätzlich zur Kamera hatte er ein digitales Nachtsichtgerät mit 7-facher Vergrößerung dabei. Also jetzt interessiert es mich schon, was er in der Dunkelheit getrieben hat. Dürfen wir die Teile schon mitnehmen?«, fragte sie Günther und sah ihn hoffnungsvoll an.
Der fand die Frage amüsant. »Natürlich nicht. Wir müssen noch Fingerabdrücke nehmen und Daten sichern.«
Einer der Techniker kam ins Haus und trat zu ihnen. »Wir haben neben einem Rosenstock einen Fußabdruck gefunden, der nicht zum Hausherrn passt.« Ohne einen Kommentar abzuwarten, drehte er sich um und ging zurück ins Freie.
Günther folgte ihm gespannt mit Karin und Sandra auf den Fersen. Vor dem Abdruck blieb er stehen und schüttelte bestätigend den Kopf. »Der ist eindeutig nicht vom Anwalt. Der hat maximal Größe 43 und das hier ist wenigstens eine 48.«
»Das sind keine Schuhe mehr, das sind Kindersärge.« Sandra ging vor der Fußspur in die Knie und grinste. »Das sieht aus wie gemalt, sogar das Profil ist ganz deutlich. Der Täter muss es sehr eilig gehabt haben, dass er hier auf die weiche Erde gelatscht ist.«
Lachmann brummte zustimmend. »Der wollte sicher vermeiden, dass ihn ein aufmerksames Auge beim Verlassen des Hauses bemerkt.«
Karin gab keinen Kommentar ab, nachdenklich zog sie die Unterlippe zwischen die Zähne, dann zuckte sie mit den Schultern, ging zu Heidelinde und übertrug ihr die Verantwortung vor Ort. Mit einem kurzen »Kommst du?« in Sandras Richtung lief sie zu ihrem Fahrzeug.
In dem Moment als Karin ihre Hand auf den Türgriff legte, machte Günther mit einem Winken auf sich aufmerksam und kam schnell zu ihnen gelaufen. »Fast hätte ich es vergessen. Da ist noch eine Sache, die mir Magendrücken verursacht. Wir konnten weder an der Tür noch an den Fenstern Einbruchsspuren entdecken. Was das bedeutet, müsst ihr euch selbst zusammenreimen.«
Karin nickte düster. Bereits in der Wohnung hatte sie ein merkwürdiges Gefühl beschlichen. Doch vorerst behielt sie ihre Befürchtungen für sich, denn dieser Gedankengang war so absurd und ungeheuerlich, dass sie ihn sofort aus ihrem Kopf verbannte. Diesmal musste ihr Instinkt sich einfach irren. Jedenfalls hoffte sie das mit jeder Faser ihres Herzens.
Bevor Karin ins Auto stieg, ließ sie ihren Blick über die Häuser wandern, die die abgelegene Straße säumten. Ein paar Zaungäste hatten Posten an den Fenstern bezogen und schauten dem Treiben der Polizisten zu. Doch das war nicht mit den Ansammlungen vergleichbar, die sich innerhalb weniger Minuten in der Innenstadt zusammenrotteten, wenn es galt, sich an dem Leid anderer zu laben.
Weder sie noch einer ihrer Kollegen bemerkten das unscheinbare Fahrzeug am Straßenrand, in dem ein Mann saß, der interessiert das Treiben auf dem Grundstück des Anwalts beobachtete.