Kitabı oku: «Der Fortschritt dieses Sturms», sayfa 3
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Über den Bau der Natur. Wider den Konstruktivismus
EIN GEHÖRIGER FALL VON MISERABLEM HISTORISCHEM TIMING
In Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima stößt Naomi Klein auf ein »miserable[s] historische[s] Timing«: Gerade als das Ausmaß der globalen Erwärmung Wissenschaftler:innen aufschrecken ließ und deren Forderung nach einem drastischen Kurswechsel lauter zu werden begann, verabschiedeten die unter neoliberalem Einfluss stehenden Regierungen die Idee, in den sich selbst regulierenden Markt einzugreifen.1 Dem lässt sich ein weiterer Fall zeitlicher Übereinstimmung zur Seite stellen: Gerade als die Biosphäre anfing, Feuer zu fangen, zog sich die Gesellschaftstheorie immer weiter vor der verstaubten Materie in die ungetrübte Luft ihrer textlichen Welten zurück. Die Einleitung zu einer dem Klimawandel gewidmeten Ausgabe von Theory, Culture and Society verzeichnet daher ein jähes Erwachen: »Die Welt der Kultur und Virtualität hat ihresgleichen gefunden. Die materielle Welt spielt allem Anschein nach doch eine Rolle und kann ›zurückbeißen‹.«2 Eine im Cultural turn verstrickte Gesellschaftstheorie war dem Wandel des Klimas allzu lange schon mit der Weigerung begegnet, dessen Realität außerhalb des Diskurses anzuerkennen – ganz zu schweigen davon einzugreifen –, und erwies sich somit als nicht weniger unvorbereitet als die Regierungen. Kein Wunder also, dass sie die Augen auch weiterhin verschlossen halten wollte.
Als sich die CO2-Konzentration in der Atmosphäre bereits der 400-ppm-Marke näherte, machten sich postmoderne Philosoph:innen gerade für die Ansicht stark, Historiker:innen täten wenig mehr, als Bilder der Vergangenheit zu erfinden. Die wirkliche Vergangenheit, so behauptete etwa Keith Jenkins, »findet nicht tatsächlich, sondern lediglich rhetorisch Eingang in die Geschichtsschreibung«. Sobald die Historikerin vorgebe, Ereignisse zu vermitteln, tue sie nichts anderes, als eine leidenschaftliche, mit ein paar handverlesenen Daten verzierte Rede zu halten. Alle Interpretationen der Vergangenheit seien »fabriziert«, »erfunden«, »metaphorisch«, »selbstreferenziell« – ohne Grundlage außerhalb ihrer selbst – und folglich gleichermaßen valide. Der einzige Grund für die Bevorzugung einer Deutung vor einer anderen liege im persönlichen Geschmack.3 In seiner bereits klassischen Widerlegung einer solchen Geschichtsschreibung, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, führt Richard J. Evans Auschwitz als ein unanfechtbares Exempel an; mutatis mutandis können wir erwarten, von der globalen Erwärmung ähnlich Gebrauch zu machen. Um Evans zu paraphrasieren: Die globale Erwärmung ist kein Diskurs. Sie als Text anzusehen bedeutet, das Leid, das sie hervorbringt, zu verharmlosen. Die erhöhten Temperaturen sind keine rhetorische Figur. Die Erderwärmung an sich ist bereits eine Tragödie und lässt sich weder als Komödie noch als Posse ansehen. Wenn das nun für die globale Erwärmung gilt, dann muss es aber auch für andere Aspekte der Vergangenheit gelten, für andere Ereignisse, Institutionen und Menschen, jedenfalls in einem gewissen Grad.4
Eine unumstößliche Prämisse postmoderner Geschichtsphilosophie lautet: Die Vergangenheit liegt ein für alle Mal hinter uns und lässt sich für die sensuelle Wahrnehmung nicht mehr wiedergewinnen. Historiker:innen haben lediglich Zugang zu Scherben und Fragmenten, die nur rein zufällig den Flammen der Zeit entkommen sind, und ihre Darstellungen der Vergangenheit können nicht für bare Münze genommen werden. Betrachten wir an dieser Stelle noch einmal das Bild der beiden Briten im Regenwald von Labuan. Wie können wir darauf vertrauen, dass die abgebildete Szene, die angeblich irgendwann einmal in der Realität stattgefunden haben soll, korrekt wiedergibt, was einst vorgefallen ist? Aus dieser skeptischen Haltung heraus – das Handwerkszeug der Historiker:innen, wie oftmals betont wurde – ziehen Postmodernist:innen den exzentrischen Schluss, dass Dokumente wie jenes Bild keineswegs als Schlüsselloch in die tatsächliche Vergangenheit dienen, schließlich seien sie durchdrungen von der Macht eines Diskurses, der die Sicht blockiere. Und gewiss, das Bild wird von einer ganzen Reihe diskursiver Konstrukte überlagert: In jungfräulicher Natur nehmen sich weiße Männer heraus, was ihnen zusteht, und beschreiten, gewillt das Chaos zu bändigen, den Pfad des Fortschritts, den »die Wilden« vernachlässigt haben. Gleichzeitig aber scheint es, als beruhe das Bild doch auf einem materiellen Substrat. Zumal wir allen Grund zu der Annahme haben, dass es sich nicht nur auf andere Bilder – von Männern, Natur, Fortschritt, Herrschaft – bezieht, sondern ebenso auf eine tatsächliche Identifizierung der Kohleflöze auf Labuan durch Repräsentanten des Britischen Imperiums.5 Einen dieser Gründe bildet die Erderwärmung selbst. Wenn die Temperatur der Erde steigt, muss es daran liegen, dass sich in der Vergangenheit unzählige Szenen wie jene im labuanischen Wald abgespielt haben, denn: »Die Ursachen realer Wirkungen können nicht unwirklich sein.«6 Die derzeitige Erwärmung legt nahe, dass sich weder Kommandanten der Royal Navy noch neuzeitliche Historiker:innen all die Berge an Beweisen über die vergangenen Verbrennungen fossiler Energieträger ausgedacht haben können. Im Gegenteil – die fossile Ökonomie muss schon lange Zeit vorhanden gewesen sein, bevor sie als historische Entität, unabhängig jeglicher Vorstellungen von ihr, in Erscheinung getreten ist, andernfalls würden wir nicht auf diesem sich erwärmenden Planeten leben. Eine generalisierte Verleugnung der wirklichen Vergangenheit würde bloß sicherstellen, dass sich die Geschichte dieser Wirtschaft nicht oder lediglich als frei flottierende Fiktion schreiben ließe, was uns schwerlich von Nutzen sein dürfte.
So wie die globale Erwärmung lediglich ein weiterer, besonders dringlicher Grund ist, mit dem neoliberalen politischen Paradigma zu brechen, so scheint sie auch nur ein weiterer Nagel im Sarg des Antirealismus zu sein. Denn postmoderne Verleugnung lässt sich schwer totkriegen. Ein Großteil der Gesellschaftstheorie bestreitet nach wie vor nicht nur die Faktizität der Vergangenheit, sondern auch jene der Natur. In dem Buch Making Sense of Nature. Representation, Politics and Democracy etwa, das Forschungsarbeiten mehrerer Jahrzehnte zusammenfasst, schließt sich Noel Castree zunächst der sachlichen Definition an, Natur sei das, was der menschlichen Handlungsmacht vorausgehe und selbst dann noch Bestand habe – wenn auch in veränderter Form –, wenn sich menschliche Akteur:innen an ihr zu schaffen gemacht hätten,7 nur um im nächsten Schritt dazu überzugehen, die Verwerfung ihrer Existenz vehement einzufordern. Da es nämlich dermaßen viele Weisen gebe, über Natur nachzudenken, dermaßen viele verschiedene ihr zugeschriebene Bedeutungen, dermaßen viele einflussreiche »epistemische Gemeinschaften« – einschließlich Geograf:innen wie Castree selbst –, die mit der Repräsentation der Natur ihren Lebensunterhalt verdienten, eine dermaßen lange Tradition, Menschen mittels fadenscheiniger Bezugnahmen auf sie zu regieren, könne Natur letztlich »nicht ›dort draußen‹ existieren (oder ›hier drinnen‹, in uns), darauf wartend, verstanden zu werden«, losgelöst von einem Bewusstsein, bereit, erfahren zu werden. »Dementsprechend halte ich ›Natur‹ für eine besonders wirkmächtige Fiktion.« Oder: »Natur existiert nur, solange wir kollektiv an ihre Existenz glauben« – sie »ist eine Illusion«, »allein das, wofür wir sie halten« – oder schlichtweg: »Es gibt keine Natur«.8 Ihre Wirk lichkeit beziehe sie allein aus ihrer Macht als Ausdruck des Diskurses.
In einer seiner ausgedehnten Fallstudien liest Castree die Broschüren eines Holzunternehmens sowie solche der Umweltschützer:innen, die in den 1980ern gegen die Pläne ebenjenes Unternehmens ankämpften, den Wald von Clayoquot Sound in British-Columbia zu fällen. Erstere schilderten den Wald als eine Ressource, die es zu ernten, Letztere als einen geschützten Lebensraum für Tiere, den es um seiner selbst willen zu verteidigen galt. Ob ihn dabei eine der beiden Seiten adäquater als die andere in Worte gefasst hat? Unmöglich zu sagen. Es gebe schließlich keine »bereits ontologisch vorhandene Entität, die auf verschiedene Weisen neu dargestellt werden konnte«, keine »äußerliche Natur‹«, keinen Wald an sich vor seiner Beschreibung. Die Frage, ob Clayoquot Sound ein seltenes Ökosystem sei, habe demnach keinerlei Relevanz.9 Jegliche Natur werde innerhalb der sozialen Welt konstruiert, und der eine Handlungsstrang sei genauso fiktiv wie der andere. Man gelange nicht hinter die Filter aus Ideen, hinter Affekte oder Projekte, um Stämme und Moose so zu berühren oder so zu riechen, wie sie wirklich sind.
Was aber heißt das für die globale Erwärmung? Castree bleibt seiner Linie hier treu: »Globaler Klimawandel ist eine Idee« – Hervorhebung im Original – »und nicht bloß eine Reihe an ›realen biophysikalischen Prozessen‹, die sich ungeachtet unserer Repräsentationen davon ereignen.«10 Sprich: Die Erderwärmung verfügt über den ontologischen Status einer Idee. Wenn also die Dörfer in einem Tal Pakistans von einem Hochwasser weggeschwemmt werden, eine Population der Monarchfalter kollabiert oder Städten in Kolumbien aufgrund extremer Dürre das Wasser ausgeht, handelt es sich nicht um einen realen biophysikalischen Prozess, sondern um eine Idee, die Wirkung zeigt. Um den Klimawandel aufzuhalten, müsste diese Idee also lediglich verworfen werden. Vielleicht könnten wir sie sogar einfach gegen globale Abkühlung eintauschen. Wenn wir Castree beim Wort nehmen – Klimawandel stellt keinen Prozess innerhalb der biophysikalischen Realität dar, der ungeachtet unserer Vorstellungen davon stattfindet, sondern eine Erfindung des menschlichen Bewusstseins: Nichts anderes ist Natur –, gelangt man zwangsläufig zu diesen Schlussfolgerungen. Es erscheint unwahrscheinlich, dass er sich dafür starkmachen würde, was nahelegt, dass sein Argument schlicht wenig Sinn ergibt und er einer banalen Form des epistemischen Trugschlusses, des »epistemic fallacy«, aufsitzt, der besagt: Gerade weil wir durch Messungen und Vergleiche, durch Konzepte und Ableitungen Kenntnis von der globalen Erwärmung erhalten, sind es diese Dinge, aus denen sie sich zusammensetzt.11 Sollten wir nicht in der Lage sein, diesen Trugschluss zu verwerfen und zu bekräftigen, dass es auf Labuan tatsächlich Natur gab – nicht im Sinne einer Idee, sondern einer objektiven, außerdiskursiven Realität –, in der die Briten Kohle zur ebenfalls in der Natur stattfindenden Verbrennung fanden, was gleichermaßen reale Konsequenzen in der Zukunft nach sich zog, wären wir in einem schwerwiegenden methodischen Nachteil. Denn um dieses historische Phänomen zu verstehen, bedarf es augenscheinlich eines Realismus der Vergangenheit als auch eines Realismus der Natur.
Nun ist Castree bei Weitem nicht der Erste, der die Ansicht vertritt, Natur sei eine Fiktion. Im Jahr 1992, während der Blütezeit der Postmoderne, verkündete Donna Haraway, Natur sei »eine machtvolle diskursive Konstruktion«. Sie sei »eine Trope. Sie ist Figur, Konstruktion, Artefakt, Bewegung, Verschiebung. Die Natur kann nicht vor ihrer Konstruktion existieren«, ebenso wenig wie Organismen oder Körper, die erst diskursiv entstünden.12 Dieser Gedanke bildete einen Eckpfeiler des Postmodernismus und hält sich – zumindest unter gewissen Akademiker:innen – selbst heute noch beharrlich. So behauptet Paul Wapner etwa in dem Buch Living through the End of Nature. The Future of American Environmentalism, Natur sei »keine selbst erhaltende Entität«, sondern »eine kontextualisierte Vorstellung«, »eine ideelle Leinwand«, »eine Projektion kultureller Übereinkünfte«, »eine soziale Konstruktion« – eine Anschauung, die er für gleichermaßen »solipsistisch« wie »zwingend« hält.13 Wir werden noch über viele solcher Fälle stolpern.
Dass eine derart weltfremde Doktrin im Zeitalter der globalen Erwärmung Bestand haben kann, muss als bemerkenswert erachtet werden. Umso mehr, als sie sich verheerenden Gegenargumenten ausgesetzt sieht.14 Der Umstand, dass alle möglichen Ideen über die Natur in dem und um das menschliche Bewusstsein herumwirbeln, rechtfertigt jedoch noch lange nicht den Schluss, diese ließen sich nicht von ihrem Gegenstand unterscheiden: Als Angelegenheit sind Naturkonzeptionen selbstverständlich kulturell bedingt, doch heißt dies nicht, dass der Referent infolgedessen gleichermaßen konstituiert wird. Zehn Hirten können ganz unterschiedliche Porträts derselben Ziege zeichnen, was nicht zur Folge hat, dass die Ziege ein Gemälde ist. Wenn drei Wanderinnen mit voneinander abweichenden Eindrücken einen Berg hinuntersteigen – erstere fand es einen mühelosen Ausflug; die zweite ist hochschwanger und schaffte es nur mit großem Aufwand; die dritte ist vor allem von der Neuartigkeit des Schnees überwältigt –, schließen wir daraus nicht, dass sie drei verschiedene Berge erklommen haben müssen. Wir sind der Meinung, es handle sich um einen einzigen Berg, und dieser besitzt bestimmte Eigenschaften wie Höhe, Steigungsgrad und Schneedeckenmächtigkeit, die an sich existieren, unabhängig davon, wie sie von den Wanderinnen wahrgenommen wurden. Als menschliche Wesen können wir nicht sagen, was ein Sturm ist, ohne Sprache zu verwenden, aber das heißt nicht, dass der Sturm eine linguistische Entität ist oder aus Sprechakten besteht.15
Im Grunde handelt es sich um eine ziemlich banale Auffassung, Naturvorstellungen seien Produkte des sozialen Lebens – ist das doch schließlich bei allen Vorstellungen der Fall –, während die Behauptung, Natur entspräche diesen Vorstellungen und verändere sich ihnen gemäß, äußerst rätselhaft anmutet. Denn damit würde beispielsweise ausgesagt werden, dass die Sonne sich einst um die Erde gedreht und dann den Platz mit ihr getauscht hätte. Entweder der tatsächlich existierende Wald ist reich an wild lebenden Tieren oder nicht; entweder erwärmt sich die Biosphäre, oder sie tut es nicht – wie wir Wildtiere und Erwärmung auffassen, ist jedoch eine ganz andere Frage. Was Castree und andere ihm Gleichgesinnte vertreten, ist eine Form des Konstruktionismus der Natur. Obwohl diese der arglosen Erkenntnis entspringen dürfte, dass wir denken und sprechen, sobald wir über Natur denken und sprechen, versteigt sie sich zu der Behauptung, die Natur würde dadurch überhaupt erst konstruiert, käme durch unsere Vorstellungen in die Welt, und darüber hinaus existierte schlicht keine andere Natur.16 Es handelt sich um einen Konstruktionismus der idealistischen, neu-kantischen, eindeutig postmodernen Sorte.17
Dieser Konstruktionismus scheint jedoch außerstande, zu jener Art von Theorie zu inspirieren, die wir so dringend benötigen. Schließlich steigen die Temperaturen nicht, weil Menschen über Kohle nachgedacht oder sich mentale Bilder von Autobahnen ausgemalt haben: Dadurch kommt es nicht zur Umweltzerstörung. »Kurzum«, um es mit der bemerkenswerten Formulierung Kate Sopers zu sagen, »es ist nicht die Sprache, die ein Loch in ihrer Ozonschicht hat«, kein Text, der sich aufheizt, »und das ›reale‹ Ding wird selbst dann noch verschmutzt und abgetragen werden, wenn wir unsere dekonstruktivistischen Erkenntnisse auf der Ebene des Signifikanten immer weiter verfeinern« – worauf manch Gesellschaftstheorie, sogar wenn sie vorgibt, sich eigentlich mit der Natur zu befassen, nach wie vor geradezu versessen scheint.18 Wie aber würde eine alternative Sicht auf die Natur aussehen? In What Is Nature? Culture, Politics and the Non-Human – mit Abstand die geistreichste Auseinandersetzung mit dieser Frage, die je geschrieben wurde – gibt Soper folgende Antwort: Natur nennt man
jene materiellen Strukturen und Prozesse, die unabhängig von menschlicher Aktivität bestehen (in dem Sinne, dass sie kein von Menschenhand geschaffenes Produkt sind), deren Stärken und kausalen Kräfte die notwendigen Bedingungen jeglicher menschlicher Praxis sind und die darüber entscheiden, welche mögliche Gestalt diese annehmen kann.19
Diese Definition verdient es, erneut gelesen und im Gedächtnis behalten zu werden. Viele andere wurden vorgeschlagen – einige davon werden wir weiter unten eingehender betrachten –, aber wir wollen diese realistische Definition als diejenige behandeln, die bestmöglich einfängt, was wir uns unter dem von uns als Natur bezeichneten Bereich vorstellen. Allein die Existenz dieses so definierten Bereichs ist jedoch bereits heftig umstritten.
DIE PRODUKTION DER NATUR?
Können wir tatsächlich sagen, dass das Klima des Planeten Erde – als eine der wesentlichen Komponenten der Natur – von menschlichen Aktivitäten unabhängig ist, das heißt: nicht von Menschenhand geschaffen? Ist es mittlerweile nicht genau umgekehrt? Dies scheint zumindest für die Theorie »der Produktion der Natur« zu gelten. Von Neil Smith in Uneven Development. Nature, Capital, and the Production of Space dargelegt, besagt sie, dass Natur alles andere als unabhängig sei; in einem lang vergangenen, vormenschlichen Nebel mochte das womöglich sogar noch der Fall gewesen sein, aber mittlerweile sei das eindeutig vorbei. Heutzutage sei die Natur durch und durch gemacht, von innen her und in ihrer Gesamtheit, da die Kräfte des Kapitals die Materie gemäß ihrer jeweiligen Logik umstrukturierten und umarbeiteten. Wann aber die urzeitliche Natur einer solch beeindruckenden sozialen Macht gewichen sein soll? Smith bleibt in diesem Punkt vage. An manchen Stellen wirkt es, als würde er sich dafür aussprechen, dass die Produktion der Natur tatsächlich ein kapitalismusspezifisches Phänomen sei; an anderen deutet er wiederum ein sehr viel früheres Datum menschlicher Vereinnahmung an. Nicht-produzierte Natur erlösche, wo immer eine Spezies Fuß gefasst habe: »Menschen haben jedwede Natur hervorgebracht, die ihnen zugänglich wurde« – nicht erst in den letzten Jahrhunderten, sondern schon seitdem sie sich in Höhlen zusammengerottet und Wälder nach Essen durforstet hätten.20 Der Zweck der Theorie scheint hier nicht darin zu bestehen, eine historische Verschiebung nachzuvollziehen, als vielmehr in dem Versuch, das Natürliche mit dem Sozialen in eins fallen zu lassen, ungeachtet der Daten und Epochen, gewissermaßen a priori. Smith deklariert geradezu »eine gesellschaftliche Priorität der Natur; Natur ist nichts, wenn nicht sozial«.21 Noel Castree, der sich als Geograf oft für Smiths Theorie starkgemacht hat, erklärt, dass diese »beabsichtigt, der Vorstellung einer unabhängigen, nicht-sozialen Natur entgegenzuwirken«, und pocht auf die Vermischung von Gesellschaft und Natur »seit Anbeginn«.22
Worin genau bestehen nun die analytischen Vorteile dieses Schritts? In der Erstausgabe seines 1984 erschienenen Klassikers erwähnt Smith noch den anthropogenen Klimawandel als ein Beispiel für die Produktion von Natur, aber im Nachwort der dritten Auflage von 2008 hat er etwas ganz anderes darüber zu sagen: Wir können nicht wissen, in welchem Maße sich das Klima aufgrund menschlicher Aktivitäten verändert.23 Allein der Versuch würde bereits die irrige Trennung voraussetzen:
Die Bemühung, zwischen dem gesellschaftlichen und dem natürlichen Anteil zu unterscheiden, stellt nicht bloß eine müßige Diskussion dar, sondern entspringt auch einer närrischen Philosophie: Sie belässt die Kluft zwischen Natur und Gesellschaft unangetastet – Natur in der einen Ecke, Gesellschaft in der anderen –, genau jenes Schibboleth modernen westlichen Denkens also, das »die Produktion der Natur«-These zu zerschlagen angetreten war.24
Fast klingt es wie das Zugeständnis, dass dieser Theorie bei der Erforschung der Erderwärmung im Grunde keine sonderlich relevante Rolle zuzugestehen sei. Denn wenn wir darauf verzichten sollten, die Erwärmung als etwas zu beschreiben, das durch soziale und nicht natürliche Faktoren hervorgebracht wurde, wir also auch aufhörten, zwischen den beiden zu unterscheiden – indem wir das eine erwägen und das andere verwerfen –, wie ließe sich dann überhaupt ihre Existenz anerkennen, geschweige denn als Resultat der Geschichte erforschen?
In Alienation and Nature in Environmental Philosophy, der erhellendsten Arbeit, die seit Sopers Buch aus diesem Forschungsgebiet hervorgegangen ist, betont Simon Hailwood, dass gerade die Vorstellung anthropogener Kausalität das Konzept der unabhängigen Natur zwingend erforderlich mache. »Insofern es wichtig ist zu behaupten, dass Menschen das gemacht haben, verursacht haben, dass sie für dies und jenes verantwortlich sind, müssen wir uns auch mit der Vorstellung vertraut machen, dass zumindest manche Vorkommnisse nicht innerhalb unseres Einflussbereichs liegen« – in unserem Fall also das, was der Fossilwirtschaft voranging und ohne sie fortbestanden hätte: das für das Holozän charakteristische Klima.25 Wie Smith selbst einräumt, ließe sich die globale Erwärmung nicht mehr in den Blick nehmen, sobald man den nicht-sozialen Naturhintergrund entfernen würde (und entsprechend seiner Logik würde deshalb nur ein Narr es überhaupt versuchen).26 Offensichtlich folgt daraus, dass irgendeine Form von Unterscheidung zwischen »Gesellschaft« und »Natur« sowohl für die Erforschung der Geschichte der fossilen Ökonomie als auch für die Klimawissenschaft selbst unabdingbar bleibt; nebenbei bemerkt, werden im Bereich der Ereignisattribution Simulationen jüngster Stürme Modellen gegenübergestellt, die zeigen, wie das Wetter in Abwesenheit menschlichen Einflusses verliefe.27 Dadurch werden historische Spuren offengelegt.
Und dennoch: Ist nicht gerade das heutige Klima produziert? Die Erhaltung einer Natur ohne menschlichen Einfluss in kontrafaktischen Computermodellen ist noch lange kein Beweis für ihren tatsächlichen Fortbestand. Könnte sich die Theorie also doch als nützlich erweisen, insofern man sie lediglich auf die letzten beiden Jahrhunderte beschränkte? Um diese Möglichkeit zu untersuchen, müssen wir uns ein paar der anderen Ansätze zuwenden, die behaupten, Natur sei mittlerweile grundlegend sozial.