Kitabı oku: «WattenAngst», sayfa 2

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Der Schmerz wurde von seiner Sorge um sie verdrängt. War ihr etwas zugestoßen? Er versuchte, den Atem anzuhalten, lauschte. Im Haus herrschte Stille. Befand sich der Einbrecher noch hier, oder war er längst über alle Berge?

Ein gequälter Laut kam über seine Lippen. Mit schmerzverzerrter Miene richtete er sich auf. Vorsichtig tastete er über die dicke Beule an seinem Hinterkopf. Sofort spürte er eine klebrige Substanz zwischen den gespreizten Fingern. Sein eigenes Blut. Er verdrängte den Schmerz, so gut es ging. Die Angst um sie trieb ihn vorwärts. Er musste zu ihr, nach dem Rechten sehen. Schwerfällig richtete er sich auf. Jeder Muskel bereitete ihm Höllenqualen.

Sekundenlang kämpfte er gegen den Schwindel an, umklammerte die Lehne des Küchenstuhls, sammelte Kräfte und atmete tief durch.

Schwankend verließ er die Küche. Wenn ihr etwas zugestoßen war, würde er sich dafür die Schuld geben, dann würde er versagt haben. In seiner Angst spürte er gar nicht, dass er barfuß inmitten der Glasscherben gestanden hatte und jetzt mit jedem Schritt eine Blutspur durch das Haus zog. Mit zitternden Händen umschloss er das Treppengeländer. Mühsam zog er sich nach oben, jede Stufe ein Kampf. Übelkeit stieg wieder in ihm auf. Schwer kämpfte er gegen die drohende Ohnmacht an.

Noch eine Schwäche wollte er sich nicht erlauben. Er musste da sein für sie, wollte sie beschützen. Allein der Gedanke, dass er möglicherweise bereits zu spät kam, trieb ihn voran.

Dunkel lag der obere Flur jetzt vor ihm. Er hielt am Treppenabsatz inne, um zu lauschen. Kein Laut drang an seine Ohren. War der Einbrecher hier oben, war er bei ihr?

Der Gedanke trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. So schnell es ging, setzte er seinen Weg zum Schlafzimmer fort. Hier überholte ihn das Grauen, denn der Anblick, der sich ihm bot, entlockte seiner Kehle einen dumpfen Laut.

Sie war da. Lag neben dem Bett, fast so, als wäre sie herausgefallen. Auf dem Rücken, den starren Blick an die Decke des Schlafzimmers gerichtet, der Mund einen Spalt breit geöffnet. In ihrem Blick lag die pure Todesangst. Grotesk standen Arme und Beine von ihrem Körper ab, die Beine gespreizt, die Arme angewinkelt, der rechte Oberarm nach unten, der linke nach oben.

Fast wie ein Hakenkreuz, durchzuckte es ihn. Wie gebannt blickte er in ihr Gesicht, versuchte, Leben in ihren gebrochenen Augen zu erkennen, eine Regung an ihrem Körper zu registrieren.

Vergeblich. Der Einbrecher war schneller gewesen, hatte es sich zunutze gemacht, dass er ihn außer Gefecht gesetzt hatte.

Alles, nur das nicht, schrie alles in ihm, während er sie aus tränenverschleierten Augen betrachtete.

Erst im zweiten Augenblick wurde ihm klar, dass sie inmitten einer Blutlache lag. Mit einem Schrei brach er zusammen.

Ich habe versagt.

Sie war gestorben, weil er sich von dem Angreifer hatte niederstrecken lassen. Wut mischte sich unter die Trauer über den Verlust, dann spürte er, wie seine Kräfte schwanden. Das Letzte, an das er dachte, war, dass sein Leben keinen Sinn mehr hatte, dann würgte er und konnte nicht verhindern, dass er sich auf dem Fußboden im Flur übergab.

ZWEI

Ostenfeld, 1.35 Uhr

Sie hatte schlecht geschlafen. Die Sache mit Eike machte Wiebke seit Wochen schon zu schaffen. Ihr Freund war als Frontmann der Band „Sleepless“ auf Deutschlandtournee und meldete sich seit Tagen nicht bei ihr. Auch ihre vergeblichen Anrufe und Wiebkes Textnachrichten ignorierte er hartnäckig. Gäbe es nicht das Profil seiner Band auf Facebook, Wiebke würde sich ernsthafte Sorgen machen, ob er überhaupt noch lebte. Seit einigen Monaten schon führten sie eine dieser „On/Off“-Beziehungen. Immer, wenn Eike bei ihr war, zeigte er sich als verständnisvoller, einfühlsamer Mann, als leidenschaftlicher Liebhaber, als guter Zuhörer und als bester Freund für die Kommissarin. Doch sobald er in den Tourbus stieg, schien er in eine andere Welt einzutauchen. In die eines Rockstars, der nur für die Bühne lebte und der kein Privatleben hatte. Wiebke wagte es nicht sich, auszumalen, was er nach den Auftritten im Hotelzimmer tat.

Alles um sich herum, sein bürgerliches Leben, seine kleine Tochter, seine Freundin, all das ließ er vor dem Bus zurück. Einmal auf Tour, war Eike Godemann ein anderer Mensch.

Wiebke war fast dankbar, als sie den Klingelton ihres Handys wahrnahm, der wie durch Watte an ihre Ohren drang und sie aus dem Halbschlaf weckte. Das Smartphone lag auf dem Ankleidestuhl neben dem Bett. Die Vibration des Akkus erinnerte Wiebke an eine wütende Hummel. Das Telefon wanderte über den Stuhl und drohte, zu Boden zu fallen.

Schnell richtete sich Wiebke auf, sie gähnte herzhaft und spürte einen stechenden Kopfschmerz in der Stirn. Ihr war, als hätte sie einen dicken Kloß in ihrem Hals, ihre Stimmbänder und ihre Mandeln schmerzten.

Oh nein, dachte sie. Eine Erkältung kann ich jetzt nicht gebrauchen.

Schlaftrunken fischte sie nach dem Handy, warf einen Blick auf das Display und erkannte, dass es sich bei dem Anrufer um Jan Petersen handelte. Es hatte sicher nichts Gutes zu bedeuten, wenn ihr Kollege sie zu dieser Zeit anrief.

„Moin“, sagte ihr Partner viel zu gut gelaunt, nachdem sie das Gespräch angenommen hatte. „Kannst dich flott aufhübschen und dann ausrücken. Wär nett, wenn du mich mitnimmst.“

„Was ist passiert?“, krächzte Wiebke in den Hörer. Sie gähnte herzhaft und fuhr sich mit der freien Hand durch das Gesicht.

„Mann Mädchen, ist alles gut bei dir? Du klingst, als hättest du eine Hafenkneipe leergetrunken.“ Petersen klang besorgt.

„Na danke auch“, erwiderte sie heiser und räusperte sich. „Ich glaube, ich hab mir was eingefangen.“ Wieder räusperte sie sich. „Wie dem auch sei – solange ich den Kopf nicht unter dem Arm trage, bin ich ansprechbar. Also, was ist los?“

„Es hat eine Schießerei draußen in Hockensbüll gegeben.“ Seine Stimme klang ebenfalls rau, was aber an zig Zigaretten und literweise Whisky lag – so klang es jedenfalls. Dabei trank er nicht. Auch das Rauchen hatte der geschiedene Endvierziger vor Jahren schon aufgegeben. Manchmal fragte Wiebke sich, was ihr Partner in seiner Freizeit trieb. Sie stellte fest, dass sie noch immer nicht viel von ihm wusste, und das, obwohl sie im Dienst Tag und Nacht zahlreiche Stunden Seite an Seite verbrachten.

„So kann die Woche ja anfangen“, murmelte Wiebke schlaftrunken. Es war Montag. Hinter ihr lag ein ruhiges Wochenende, das sie einmal mehr ohne Eike verbracht hatte. Wiebke verdrängte die düsteren Gedanken und konzentrierte sich auf Jan Petersens Anruf. „Weiß man schon mehr?“

„Mord. Ein Heckenschütze hat den Geschäftsführer der Messegesellschaft in seinem Haus erschossen.“

„Ein Anschlag auf den Fürsten von Husum?“ Wiebke war auf der Stelle hellwach. „Hans Olaf Berger ist tot?“ Der Unternehmer war in Nordfriesland bekannt wie ein bunter Hund. Da ihm nachgesagt wurde, die Finger in allen Geschäften zu haben und dass seine Macht auch bis in die Politik reichte, bezeichnete man ihn als den „Fürst von Husum“.

„Jo“, machte Petersen. „Berger ist am Fenster seiner Villa abgeknallt worden.“

„Um diese Uhrzeit?“ Wiebke runzelte die Stirn. „Was gibt es da am Fenster zu sehen?“ Die rot glühenden Ziffern ihres Weckers zeigten, dass es fast zwei Uhr morgens war. Hinter dem Dachfenster ihres kleinen Schlafzimmers herrschte Dunkelheit, nicht einmal der Mond und Sterne hatten es in den letzten Stunden geschafft, die tief hängenden Wolken zu verdrängen.

„Wann wäre es dir denn lieber?“ Petersen lachte. „Am helllichten Tage geschieht so etwas eher selten.“

„Also ein gezieltes Attentat?“ Wiebke versuchte vergeblich, ihre Gedanken zu ordnen.

„Klar. So was ist ja kein Zufall“, schnaubte Petersen.

Wiebke begab sich durch den langen Flur ihrer Dachgeschosswohnung in Richtung Küche. „Sind die Flensburger schon im Boot?“

„Die Kollegen von der Bezirkskriminalinspektion wissen Bescheid und sind im Anmarsch.“ Petersen räusperte sich. „Aber wenn du schnell bist, sind wir die Ersten, Mädchen.“

„Ich bin immer schnell.“ Wiebke lächelte, was Petersen am anderen Ende der Leitung nicht sah. Sie klemmte das Telefon zwischen Schulter und Kinn und schaltete das Küchenlicht ein, um die Kaffeepadmaschine startklar zu machen. Sie rief sich in Erinnerung, was sie über das Mordopfer wusste. Hans Olaf Berger war in Husum beliebt und gefürchtet zugleich. Seine Kritiker sagten ihm nach, dass er seine Hände überall dort im Spiel hatte, wo große Geschäfte gemacht wurden. Immer wieder wurde Berger hinter vorgehaltener Hand mit dem Begriff Korruption in Verbindung gebracht. Seine Freunde hingegen attestierten dem Unternehmer ein glückliches Händchen, wenn es darum ging, den Umsatz zu steigern und Kohle zu machen, wo es ging. Berger war prominenter als der Bürgermeister der grauen Stadt – er lächelte überall dort in die Kameras der Reporter, wo ein neues Gebäude feierlich und damit pressewirksam eröffnet wurde. Ihm gehörten Kaufhäuser, Gastronomiebetriebe, zwei Hotels in Büsum und Sankt Peter-Ording, ein Golfplatz auf Sylt und die Messe von Husum. Zusätzlich war er an privat geführten Krankenhäusern und einem Altenheim beteiligt gewesen.

„Bring mich auf Stand, Jan – was ist genau passiert?“

„Nachbarn sind vom Klirren der Scheibe aufgewacht, das muss einen Höllenlärm gemacht haben.“

„Ich bin in zwanzig Minuten da“, versprach Wiebke, während sie das blinkende Licht der Kaffeemaschine beobachtete. Sie nahm eine Tasse aus dem Regal über dem kleinen Tisch, schob sie unter den Ausguss und drückte den Knopf, als das Lämpchen dauerhaft leuchtete.

„Ich nehm auch einen Kaffee“, bemerkte Petersen, der das sonore Brummen der Maschine am anderen Ende der Leitung richtig deutete.

„Bring ich dir mit.“

„Zwei Stück Zucker und viel Milch – wie immer.“

„Kriegst du.“ Wiebke lachte. „Du bist mir ein Heini.“

„Danke, dann spring ich jetzt auch mal in die Buchse.“ Petersen beendete das Gespräch. Wiebke legte das Smartphone auf den Tisch, nahm zwei Thermobecher aus dem Hängeschrank, füllte den Kaffee um und bereitete gleich einen zweiten vor. Dann überlegte sie es sich anders und setzte den Wasserkocher in Gang. Ein heißer Tee mit einer Portion Honig würde gegen die Heiserkeit und die Halsschmerzen besser helfen als der Kaffee. Sie verschwand im Bad, um sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht zu werfen. Es gab Arbeit – vielleicht war das gut so, um ein wenig Ablenkung von ihren Beziehungsproblemen zu bekommen.

DREI

Wenningstedt/Sylt, drei Monate zuvor

„Was starrst du mich denn so an?“, fragte sie lächelnd, als sie seinen angsterfüllten Blick sah. Noch immer toste der Sturm um die Mauern des reetgedeckten Hauses. Irgendwo klapperte ein Fensterladen.

„Du lebst?“ Er konnte es nicht fassen, hatte sie doch eben noch blutüberströmt und regungslos dagelegen. Jetzt richtete sie sich im Bett auf und nahm im Schneidersitz vor ihm Platz. Die Laken waren zerwühlt, was aber nicht der Attacke eines Einbrechers zuzuschreiben war, sondern ihrer leidenschaftlichen Liebesnacht, die hinter ihnen lag.

„Annika, ich …“

„Ja?“ Mit fragender Miene legte sie den Kopf schräg, blies sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und streckte die Hand aus, um ihn zu berühren.

Er benötigte einen Moment, bis er in der Realität angelangt war und registrierte, dass er die schreckliche Szene, die er eben erlebt hatte, offenbar nur geträumt hatte. Alles war so real gewesen, so grausam. Sein Herz raste, sein Mund war trocken. Er schluckte, dann rang er sich ein Lächeln ab.

„Ich glaube, ich hatte einen schrecklichen Albtraum“, stammelte er tonlos. Er starrte sie an wie einen Geist, konnte nicht glauben, dass sie lebte.

„Das glaube ich auch“, sagte sie einfühlsam, krabbelte an den Bettrand und zog ihn zu sich. „Ich lebe“, hauchte sie ihm zwischen zwei Küssen ins Ohr. „Und wie ich lebe.“ Sie schickte ihre Hände auf Wanderschaft, zog mit ihren Fingerkuppen größer werdende Kreise auf seinem Oberkörper, hauchte ihm Küsse auf die Haut und sorgte dafür, dass der Albtraum verblasste. „Was auch immer es war, ich bin lebendig, sehr lebendig sogar, und ich habe Lust auf dich.“

Er spürte, wie die Hitze in seine Lenden stieg, umarmte sie, genoss ihre Nähe und erwiderte ihre Küsse. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte ihn eine Frau derart um den Verstand gebracht, nie zuvor hatte er eine solche Leidenschaft gespürt. Es war, als hätten sie sich gesucht und gefunden, es schien, als wären sie füreinander gebaut.

Als sie ihren Kopf in seinen Schoß sinken ließ und ihn mit ihren Lippen umschloss, war der Albtraum schon fast nicht mehr greifbar. Er legte den Kopf in den Nacken und gab sich ihren Liebkosungen hin. Als sie zurück ins Laken sank und ihm fordernd das Becken entgegenstreckte, war es ihm, als hätte er diesen schrecklichen Albtraum nie zu zuvor gehabt. Es gab nur noch sie beide in dieser Nacht, es schien, als wäre die ganze Welt um sie herum versunken. Als ihrer Körper miteinander verschmolzen, hatte er längst vergessen, warum er kurz vorher aufgewacht war.

VIER

Husum, Süderstraße

„Weißt du“, sagte Petersen, als er eine Viertelstunde später in Wiebkes kleinen Fiat stieg und ihr die Adresse des Einsatzortes genannt hatte, „was mir am meisten stinkt?“ Umständlich schnallte er sich an und nahm dankbar den Thermobecher mit Kaffee entgegen, den sie ihm reichte. Wiebke beantwortete die Frage ihres Partners nicht. Sie steuerte den Panda durch die nächtlichen Straßen von Husum und ließ Petersen reden.

„Mir stinkt es, dass wir aus dem Bett geklingelt werden, die Drecksarbeit machen dürfen und nur die Vorhut für die Kollegen aus Flensburg sind.“

„Das ist nun mal unser Job“, erwiderte sie und gab ihm in Gedanken recht. Wiebke wusste, wovon ihr Partner sprach. Es würde keine zwei Stunden dauern, bis ihre Kollegen vom K 1 aus Flensburg anrollten und sich den Mordfall unter den Nagel rissen. Seitdem die Kriminalpolizei Husum und Flensburg vor Jahren fusioniert wurden, galt es, Hand in Hand zu arbeiten. „Aber wir sind schon vor Ort, und wir kennen uns hier aus.“

„Ja ja, die Ortskenntnisse.“ Petersen winkte ab, nahm einen Schluck von seinem Kaffee, verbrannte sich prompt die Lippen und fluchte ungestüm. „Dabei kennen wir unser Opfer – im Gegensatz zu den Flensburgern. Wir wissen, wer Hans Olaf Berger war und was er für Husum bedeutet hat.“

„Und wir wissen, dass er nicht überall beliebt war“, stimmte Wiebke ihm zu. Sie beobachtete im Augenwinkel, wie Jan Petersen das Smartphone aus der Tasche seiner Lederjacke zog und den Namen des Mordopfers in eine Suchmaschine eingab. Im Widerschein des Handy-Displays schimmerte sein unrasiertes Gesicht bläulich.

„Da“, sagte Petersen triumphierend und hielt das Handy hoch. „Die Mäuler hat man sich über ihn zerrissen, weil er angeblich in krumme Geschäfte verwickelt war, weil er immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht wurde und weiß der Geier was.“

„Das sind doch alles Halbwahrheiten“, entgegnete Wiebke. „Was wissen wir wirklich über Berger?“ Sie dachte einen Moment lang nach und gab sich dann selbst die Antwort. „Er war ein einflussreicher

Geschäftsmann. Ihm gehörte eine Baufirma, zahlreiche Geschäfte, und er saß im Vorstand von einem Altenheim. Ach ja, er war Geschäftsführer der Messegesellschaft, die sich vor einigen Jahren mit der Hamburger Messe um die Windkraft-Ausstellung gestritten hat.“

„Und er wurde schon öfters wegen Steuerhinterziehung angeklagt, ihm wurden wechselnde Damenbekanntschaften nachgesagt, und man munkelt von Bestechung, um Geschäfte durchsetzen zu können.“

„Nachweisen konnte ihm niemand etwas“, nickte Wiebke, die sich an die Berichte in den Husumer Nachrichten erinnerte. Sie überlegte, was sie von seinem Privatleben wusste. Viel war es allerdings nicht. „Soweit ich weiß, war Berger verheiratet, Kinder gibt es aber wohl keine“, fasste Wiebke zusammen. Sie ließ den Panda über das Kopfsteinpflaster der verlassenen Norderstraße und den Markt rollen. Der Tine-Brunnen und die Marienkirche waren angeleuchtet, der Marktplatz lag verwaist zu ihrer linken Seite.

„Da“, machte Petersen und deutete nach rechts, als sie das Einkaufszentrum auf der rechten Seite passierten. „Das würde wohl auch nicht existieren, wenn Berger nicht seine schmutzigen Hände im Spiel gehabt hätte.“

Wiebke seufzte. „Fakt ist, dass Berger seinerzeit als einer der Investoren viel Geld in das Bauvorhaben gesteckt hat. Ob da alles mit rechten Dingen zuging, weiß wohl kaum jemand.“

„Fakt ist aber auch, dass Hans Olaf Berger eine schillernde Person im Husumer Geschäftsleben war, die nicht nur Freunde hatte“, resümierte Jan Petersen und nippte an seinem Kaffee.

„Was die Suche nach dem oder den Tätern nicht gerade leichter macht“, stimmte Wiebke ihrem Partner zu.

„Meine Rede“, nickte Petersen.

„Damit können sich dann die Kollegen aus Flensburg beschäftigen“, erwiderte Wiebke. Fast war sie ein wenig erleichtert darüber, denn sicherlich würde niemand aus Bergers Dunstkreis erfreut sein, wenn die Polizei unbequeme Fragen stellte. Einflussreiche Menschen konnten sich die besten Anwälte leisten, die den Ermittlern die Arbeit unnötig erschwerten.

Wiebke bog kurz, nachdem die Schobüller Straße zur Nordseestraße wurde, nach links in einen schmalen Weg ab. Als der kleine Fiat durch ein Schlagloch rumpelte, rutschte Petersen das Smartphone aus der Hand. Fluchend bückte er sich in den Fußraum, um nach dem Handy zu suchen. „Verdammt – wo wohnt Berger denn hier? Das ist ja voll in der Pampa“, bemerkte er.

Wiebke musste grinsen. „Fast so, als müsse er sich in seiner Freizeit verstecken.“ Jetzt verlief der Westerweg fast schnurgerade auf die Salzwiesen zu. Den Einsatz-

ort sahen sie von Weitem. Das Blaulicht der Streifenwagen zuckte gespenstisch durch die Nacht. Am Ende der Straße hielt sich Wiebke links. Die Straße wurde schmaler und führte parallel an der Salzwiese entlang. Einzelne Häuser und ein heruntergekommener Bauernhof, weiter hinten reetgedeckte Häuschen mit Backsteinfassaden.

Das Haus der Bergers befand sich auf der linken Seite. Es strahlte auf den ersten Blick schon den Reichtum und die Macht seines Besitzers aus. In der Einfahrt standen zwei Rettungswagen, ein Streifenwagen und der Sprinter der Kriminaltechnik. Trotz der nachtschlafenden Stunde hatten sich zahlreiche Schaulustige am Absperrband versammelt. Es hatten sich Gruppen gebildet, die in teils heftige Diskussionen verwickelt waren. Einige hielten ihre Smartphones hoch, um zu fotografieren und zu filmen.

„Ich kotz gleich im Kreis“, brummte Petersen.

Wiebke spürte auch eine gewisse Abneigung gegen die Gaffer. „Das ist unsere schöne multimediale Zeit“, versuchte sie, sich diplomatisch auszudrücken.

„Da ist der Mord an Berger schon auf YouTube, bevor wir die ersten Zeugen befragen können“, ächzte Petersen kopfschüttelnd.

„Die Kollegen vom Streifendienst halten die Gaffer ja schon auf Distanz.“

„Platzverweise sollten sie erteilen, damit wir in Ruhe unsere Arbeit machen können“, maulte Petersen. Wiebke gab ihm in Gedanken recht. Sie griff nach dem Thermobecher mit dem Tee, dann stiegen sie aus. Wiebke fröstelte, als der kühle Nordseewind ihr ins Gesicht wehte. Sie schlug den Kragen ihrer gesteppten Jacke hoch und zog den Reißverschluss zu. Zwei Kollegen vom Streifendienst hielten an der Absperrlinie Stellung. Die Schaulustigen tuschelten leise, als sich Wiebke und Petersen einen Weg durch die Menge bahnten.

„Moin“, sagte Wiebke und nahm einen Schluck Tee. Der Honig schmeichelte ihrem Hals. Der Polizist, der ihnen am nächsten stand, nickte ihnen zu. Wiebke kannte den uniformierten Kollegen flüchtig. Jens Carstensen, ein strohblonder, hagerer Typ mit wachen blauen Augen. Wiebke registrierte mit einem einzigen Blick, dass der Kollege ihm viel zu ausgeschlafen erschien. Sie schmunzelte. „Und?“

Der Kollege vom Streifendienst winkte Wiebke und Petersen über das Absperrband außerhalb der Hörweite aller Schaulustigen. „Warum ihr hier seid, wisst ihr ja“, erklärte er. „Attentat auf Hans Olaf Berger. Er hat am Fenster gestanden, als ihn der tödliche Schuss traf, stürzte in die Tiefe und war sofort tot.“

Wiebke folgte seinem Blick. Unter dem großen Fenster glitzerten Scherben. Eine Gestalt lag darunter in einem Meer aus Glassplittern und Scherben. Arme und Beine standen in verrenkter Haltung vom Körper ab. Man hatte eine dunkle Folie über dem Leichnam ausgebreitet.

„Warum steht man mitten in der Nacht am Fenster?“, brummte Petersen und kratzte sich am Hinterkopf.

„Womöglich, weil der Hund angeschlagen hat“, erklärte Carstensen. „Das haben Nachbarn berichtet: Erst das Hundegebell, dann der Schuss und das Klirren der großen Fensterscheibe und dann der Schrei einer Frau.“

„Also gibt es eine Zeugin?“ Wiebke warf Petersen einen schnellen Blick zu.

„Ja, Berger war wohl nicht alleine zum Zeitpunkt des Attentates.“

„Seine Frau muss unter Schock stehen“, vermutete Wiebke.

Carstensen schüttelte mit säuerlicher Miene den Kopf. „Nee, die wird wohl eher vor Wut schäumen, wenn sie davon erfährt. Es war die Geliebte von Hans Olaf Berger, die mit ansehen musste, wie ihr Lover erschossen wurde. Eine gewisse Annika Rüther.“

„Sieh einer an“, bemerkte Petersen. „Vielleicht war es sogar die gehörnte Ehefrau, die sich so rächen wollte.“

„Das herauszufinden ist euer Part, Kollegen“, grinste der Streifenpolizist.

„Das werden wir tun, worauf du dich verlassen kannst“, nickte Petersen. Er wandte sich Wiebke zu. „Dann mal los, lass uns mal nach dem Rechten schauen.“

Wiebke zögerte. „Wie geht es der Geliebten von Berger?“, fragte sie.

„Annika Rüther hat Schnittwunden an den Füßen, weil sie wohl barfuß in den Scherben gestanden hat. Prellungen an Knien und Ellbogen, weil sie sich mit einem Satz nach hinten in Sicherheit bringen wollte. Und sie steht natürlich unter Schock, wird vom Notarzt und Seelsorger im RTW versorgt.“ Der junge Polizist zeigte auf einen der beiden Rettungswagen. Wiebke schaute an Carstensen vorbei und ließ die Szenerie auf sich wirken. Eine mannshohe, blickdichte Hecke schützte die Hausbesitzer vor neugierigen Blicken. Nur durch das offen stehende Tor konnte man vom Weg aus einen Blick vom großzügig angelegten Grundstück der Bergers erhaschen. Der Rasen war penibel kurz geschoren, eine breite, gepflasterte Einfahrt führte vom Tor aus vor das Portal. Das Haus von Hans Olaf Berger war zweigeschossig. Der modern anmutende Bau wurde von großen Fensterflächen beherrscht. Vor dem Eingang gab es ein Vordach, das von zwei massiven Steinsäulen gestützt wurde. Darüber befand sich eine Art Balkon, daneben eine große Fensterfront, die zerstört worden war. Der Wind verfing sich in den bodentiefen Vorhängen. Im Haus selber brannte trügerisch anheimelndes, dezentes Licht. Wiebke vermutete, dass man von dort aus über die Salzwiesen auf das Meer blicken konnte.

„Zeugen?“, fragte sie, ohne sich von dem Anblick loszureißen.

„Indirekt“, antwortete Carstensen. „Barbara Gerlach bewohnt eines der benachbarten Ferienhäuser. Gesehen hat sie wohl nichts, aber sie wurde vom Lärm geweckt, als das große Fenster zu Bruch ging.“

„Kein Auto, das sich mit hohem Tempo entfernt hat, nichts?“, versuchte es Petersen.

„Nein, absolut nichts Auffälliges.“ Carstensen schüttelte den Kopf. „Womöglich befindet sich der Schütze noch in der Nähe.“

„Wir sollten einen Heli kommen lassen“, schlug Petersen vor.

„Schon dabei.“ Wiebke zückte das Handy und forderte einen Hubschrauber an, der die Gegend mit einer Wärmebildkamera absuchte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Täter so auf der Flucht gestellt wurde. „Und wir brauchen Verstärkung, die sich um die Anwohner kümmert“, sagte sie an Carstensen gewandt.

„Das habe ich bereits veranlasst, Kollegen. Müsste jeden Moment eintreffen.“

„Sehr gut“, lobte Wiebke. „Dann würde ich jetzt gern ins Haus.“

„Sprich das mit Piet ab, dazu kann ich euch nichts sagen.“

„Wird gemacht.“ Wiebke nickte Petersen zu. Seite an Seite marschierten sie die Auffahrt zum Haus hinauf. Sie ließen Carstensen zurück. Wiebke erhoffte sich einen vorläufigen Bericht von dem schrulligen Kriminaltechniker, fürchtete aber, dass er noch nicht viel zum Geschehen sagen konnte.

„Piet wird sich bedanken, wenn wir ihm jetzt schon auf den Sack gehen“, raunte Petersen und sprach Wiebkes Gedanken aus.

„Da muss er durch, fürchte ich.“ Sie hatte zuerst die offen stehende Haustür erreicht, Petersen stand einen Schritt hinter ihr und überließ ihr den Vortritt. Wiebke blieb an der Schwelle stehen und rief nach Piet Johannsen, dem Leiter der Husumer Kriminaltechnik.

„Wer stört?“, ertönte eine dumpfe Stimme aus dem Obergeschoss.

„Sabbel nich‘, trau dich runter“, rief Petersen nach oben. Einen Moment später kam Johannsen die Treppe herunter. Er trug einen weißen, faserfreien Overall.

„Ausgeschlafen?“

„Abgebrochen.“ Wiebke hatte keine Lust auf Sprüche. „Hast du schon was für uns?“

„Zwei Weingläser, eine fast geleerte Pulle Rotwein, eine verrammelte Wolldecke auf dem Sofa und unzählige Scherben.“

Wiebke hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Dürfen wir trotzdem gucken? Ich würde mir gern einen Überblick vom Tatort verschaffen.“

„Wenn ihr auf dem Trampelpfad bleibt und nichts anfasst.“

„Wie lange sind wir bei dem Trachtenverein, für wie blöd hältst du uns, Piet?“ Petersen hob eine Augenbraue.

„Kommt schon, damit ich weitermachen kann.“ Johannsen gab ihnen ein Zeichen. Sie folgten ihm in den quadratischen Flur des Hauses. Wiebke fiel der kühle Einrichtungsstil sofort auf. Die typischen Dekoelemente anderer Wohnhäuser gab es hier nicht – keine Buddelschiffe auf der Fensterbank, keine hölzernen Möwen und keine großen Bilder mit Leuchttürmen, nichts. Stattdessen neben der Tür und an der Treppe ins Obergeschoss übergroße Gemälde mit abstrakten Motiven, die Wiebke nicht zuordnen konnte. Sie war keine Kunstkennerin, konnte einen farbenfrohen Kandinsky kaum von den Werken eines Marc Chagall unterscheiden. Kurz schloss sie die Augen und sog die Luft durch die Nase ein. Es roch nach Reinigungsmitteln.

„Hier – anziehen bitte.“ Johannsen war vor einer Alukiste in die Hocke gegangen und fischte zwei Einmalanzüge, Handschuhe und Überzieher für die Schuhe heraus. Beides hielt er Petersen und Wiebke hin.

„Muss das sein?“, maulte Petersen.

Anstelle einer Antwort stöhnte Piet Johannsen gequält auf.

Petersen zwängte sich umständlich in den Overall. Wiebke konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nachdem sie in die dünnen Overalls geschlüpft waren und die Überzieher über den Schuhen trugen, folgten sie Johannsen über die breite Treppe in das Obergeschoss des luxuriösen Hauses.

Der kühle Einrichtungsstil aus dem Erdgeschoss setzte sich hier oben fort. Berger schien die kühle Eleganz geschätzt zu haben. Wiebke stellte die Wertigkeit der Einrichtung nicht infrage, war aber sicher, dass sie sich in diesem Haus niemals hätte wohlfühlen können. Für ihren Geschmack durfte die Einrichtung etwas wohnlicher sein. Aufmerksam blickte sie sich um und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Seite an Seite stand sie mit Johannsen und Jan Petersen an der Schwelle zu einem Wohnraum, der fast so groß war wie ihre ganze Wohnung im beschaulichen Ostenfeld.

„Leck mich fett, muss der Kohle gehabt haben“, tuschelte Petersen sichtlich beeindruckt. „Das ist mal ’ne Stube.“

„Stube?“ Johannsen lachte. „Du untertreibst, Jan.“

Wiebke blendete das Geplänkel ihrer Kollegen aus. Ihr Blick schweifte über die Einrichtung. Es gab ein Bücherregal, eine unfassbar große Wohnlandschaft, auf der sich unzählige Kissen und eine zerwühlte Wolldecke befanden. Davor ein niedriger Tisch, auf dem ein Kerzenhalter stand, zwei Gläser und die Flasche Wein, die Johannsen schon erwähnt hatte. Ein kleines Sideboard und an der Wand ein Flatscreen, der zu WM-Zeiten als Public-Viewing-tauglich durchgegangen wäre. Auf dem Boden lagen Kleidungsstücke, die davon zeugten, dass sich die beiden vor dem Attentat vergnügt hatten.

Ein leises, metallisches Klackern lenkte Wiebkes Aufmerksamkeit auf die große Fensterfront. Scherben, soweit das Auge reichte, bedeckten den Parkettboden. Der Wind der nahen See wehte in den Raum, verfing sich in den Vorhängen und erzeugte ein leises Klackern. Wiebke war versucht, den Raum zu durchschreiten, an das Fenster zu treten, um einen Blick in die Tiefe zu wagen. Etwas hielt sie ab.

So schloss sie die Augen und versuchte, sich vorzustellen, was kurz vor dem Attentat hier geschehen war.

Ein Schäferstündchen zwischen Berger und seiner Geliebten. Wahrscheinlich in aller Heimlichkeit. Wiebke fragte sich, ob Bergers Frau wusste, dass er sich die Zeit mit einer anderen vertrieb. Hier, in ihrem Haus, in ihrem Refugium. Kurz dachte Wiebke an ihre eigene Beziehung. Sie wusste auch nicht, was Eike tat, wenn er mit der Band durch die Republik tourte. Sekundenlang legte sich ein schwerer Bleigürtel um ihre Brust. Wiebke atmete tief durch, verdrängte die privaten Sorgen um Eike und nahm einmal mehr den Duft nach chemischen Reinigungsmitteln wahr.

Sie stellte sich vor, wie die beiden gestört worden waren. Was hatte die Zweisamkeit gestört?

Hatte der Täter geklingelt? Hatte er sich an die Einfahrt gestellt und gerufen, bevor der Hund angeschlagen hatte?

Berger war, von der Störung verunsichert, aufgestanden, um nach dem Rechten zu sehen. Natürlich hatte er wegen des Seitensprungs mit Annika Rüther ein schlechtes Gewissen. Womöglich hatte er befürchtet, dass seine Ehefrau früher als erwartet heimkehrte, um ihn hier in flagranti zu erwischen.

Vielleicht konnte ihnen die Zeugin dazu später mehr berichten. Ich werde es herausfinden.

Wiebke legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Es war, als würde sie die tragische Geschichte des Hauses inhalieren.

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Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
Hacim:
400 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783827184030
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