Kitabı oku: «WattenAngst», sayfa 5
NEUN
Husum, Lundweg
Eine Nachbarin, die auf dem Bürgersteig mehr schlecht als recht das nasse Laub zusammenkehrte, bedachte Wiebke mit einem misstrauischen Blick. Wiebke nickte der alten Frau freundlich zu, dann stand sie vor dem Haus von Erika Brütsch. Es handelte sich um ein unauffälliges Reihenhaus mit geklinkerter Fassade und einem auffallend hohen Spitzdach. Von Grünspan überzogene Waschbetonplatten führten durch einen kleinen Vorgarten zum Eingang des Hauses, das aus den frühen 1960er-Jahren stammte und sich nicht von denen in der direkten Nachbarschaft unterschied.
Inzwischen hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt, der Wiebkes Kleidung und das Haar innerhalb weniger Minuten durchnässt hatte. Sie fröstelte. Seit einigen Tagen versuchte Wiebke, die ersten Anzeichen einer Erkältung zu verdrängen. Doch die Halsschmerzen ließen sich nicht verleugnen. Später würde sie sich Schmerztabletten aus der Apotheke und Zitronen aus dem Supermarkt besorgen.
Doch jetzt gab es Arbeit. Wiebke wollte keine Zeit verlieren, denn alles deutete darauf hin, dass Kerstin Möller entführt worden war.
Eilig durchschritt sie den Vorgarten, nahm die drei breiten Stufen und fand sich unter einem schmalen Vordach wieder, das sie mehr schlecht als recht vor dem Nieselregen schützte. Fröstelnd schlug Wiebke den Kragen ihrer hüftlangen Jacke hoch und versenkte die Hände tief in den Taschen, während sie sich orientierte. Es gab ein in die Fassade eingearbeitetes Klingelbrett. „Brütsch“ stand in vergilbten Lettern darauf. Darunter befand sich eine nachträglich montierte Funkklingel mit der Aufschrift „K. Möller“.
Wiebke betätigte den oberen Knopf und lauschte dem tiefen Gong, der drinnen ertönte.
Die anderthalb Minuten, die Wiebke wartete, fühlten sich an wie eine Ewigkeit, dann wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet.
„Ja bitte?“ Misstrauen lag im Blick der alten Dame, die durch den Spalt spähte. Eine Panzerkette zwischen Tür und Rahmen verhinderte, dass ungebetene Gäste sich Zugang zum Haus verschaffen konnten.
„Frau Brütsch? Erika Brütsch?“ Wiebke blickte in das rundliche Gesicht einer älteren Dame, die sie auf Ende siebzig, vielleicht sogar auf Anfang achtzig schätzte. Die blauen Augen der Frau waren wachsam auf die Besucherin gerichtet.
Wiebke zog den Dienstausweis hervor und stellte sich vor.
„Polizei?“ Die Miene der alten Dame hellte sich auf. Die Tür wurde geschlossen. Wiebke hörte innen das Rasseln der Kette, dann wurde ihr die Haustür wieder geöffnet.
Wiebke ließ den Ausweis verschwinden und lächelte die alte Dame freundlich an. „Sie haben uns angerufen.“
„Weil ich mir große Sorgen um Frau Möller mache.“
Wiebke folgte der Frau in einen schummrigen Flur. Eine altmodische Deckenlampe mit rauchigem Glas verbreitete einen diffusen Lichtschein. Neben der Haustür gab es eine antiquierte Garderobe mit wetterfesten Jacken, überwiegend in Grau- und Brauntönen, daneben ein ovaler Ankleidespiegel. Auf einer Hutablage entdeckte Wiebke einen dunkelbraunen Cordhut, der von einer feinen Staubschicht überzogen war.
„Der gehörte Knut, meinem Mann“, sagte Erika Brütsch, die Wiebkes Blick gefolgt war. Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn dort wegzunehmen, nachdem er …“ Die alte Dame brach ab und senkte den Blick, dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung, so, als könne sie die Erinnerung an ihren verstorbenen Mann damit zu Seite schieben. „Kommen Sie.“
Nacheinander betraten sie die Stube des kleinen Hauses. Wiebke blickte sich um. Auch hier alte, schwere Möbel, die den nicht allzu großen Raum förmlich erdrückten.
Eine Fensterfront in den Garten hinter dem Haus sorgte bei dem trüben Wetter mehr schlecht als recht für Licht.
„Nehmen Sie Platz.“ Erika Brütsch deutete auf den großen Sessel vor dem gekachelten Sofatisch.
Wiebke nahm die Einladung an und beobachtete die alte Dame, die gedankenverloren an das große Fenster trat und hinausblickte. Eine hölzerne Pergola mit Plexi-
glasdach bot einen Freisitz auch bei schlechtem Wetter. Die Terrasse selbst bestand aus einer rissigen Betonplatte, die an den Rändern mit Grünspan bedeckt war.
„Sie haben uns angerufen, weil Sie Ihre Mieterin vermissen“, begann Wiebke das Gespräch.
Die alte Dame nickte, ohne sich zu ihrer Besucherin umzudrehen. „Das kenne ich von ihr nicht. Frau Möller ist eine sehr ordentliche und eine höfliche Frau. Sie meldet sich immer kurz ab, wenn sie das Haus verlässt. So auch gestern Abend. Jeden Abend geht sie joggen, auch sonntags.“
Wiebke schwieg. Sie wollte den Redefluss der alten Dame nicht unterbrechen. Erst als Erika Brütsch verstummte, hakte sie nach: „Immer dieselbe Strecke?“
„Meistens. Entweder in dem Wäldchen bei Mild-
stedtfeld oder draußen, am Dockkoog.“
„Wann ist sie gestern aufgebrochen?“
„Gegen sechs Uhr abends.“
„Gibt es eine gute Freundin, einen Freund oder Familienangehörige, zu denen sie anschließend gefahren sein könnte?“ Obwohl Wiebke wusste, dass der Wagen von Kerstin Möller auf dem Wanderparkplatz stand, stellte sie diese Fragen. Sie erhoffte sich einen Hinweis auf das soziale Umfeld der jungen Frau.
„Es gibt eine gute Freundin, ja. Und seit einigen Wochen sogar einen Mann in ihrem Leben.“ Jetzt drehte sich Erika Brütsch zu Wiebke um. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen. „Die junge Liebe ist so schön“, schwärmte sie mit geröteten Wangen. „Aber ich denke nicht, dass Frau Möller einfach so zu ihm gefahren ist. Sie wollte einkaufen – abgesehen davon hätte sie angerufen, um mir Bescheid zu sagen.“
Wiebke zog einen Notizblick aus der Tasche und machte sich Notizen. „Sicher haben Sie den Namen der Freundin und des jungen Mannes?“
„Aber sicher.“ Erika Brütsch trat an ein Beistelltischchen neben dem großen Sofa. Ihre Hände zitterten, als sie ein kleines, altmodisches Telefonregister nahm und darin blätterte. „Hier“, sagte sie schließlich und zeigte Wiebke ihre krakeligen Notizen. „Sven Gerissen heißt der junge Mann. Er wohnt wohl in der Husumer Neustadt, arbeitet als Verkäufer in einem Autohaus im Industriegebiet.“ Erika Brütsch nannte Wiebke Gerissens Adresse und die Nummer sowie den Namen des Autohauses, bei dem er arbeitete, danach blätterte sie weiter und fand den Eintrag von Kerstin Möllers bester Freundin. „Das ist Christiane Vollmer, sie wohnt in Treia.“ Auch hier diktierte sie Wiebke Adresse und Telefonnummer.
„Haben Sie schon versucht, dort anzurufen?“
„Aber sicher.“ Erika Brütsch nickte. „Leider vergeblich. Sie hat sich weder bei Christiane Vollmer, noch bei ihrem Freund gemeldet. Auch die beiden sind in größter Sorge, haben mich aber gebeten, noch abzuwarten, bevor ich die Polizei einschalte.“
Wiebke horchte auf. „Warum das?“
„Nun ja …“ Die alte Dame legte das Telefonbüchlein zurück und druckste herum. „Weil ich mir wohl zu oft und zu schnell Sorgen mache.“
„Sie haben alles richtig gemacht, als Sie uns angerufen haben“, versicherte Wiebke ihr und deutete auf das Telefonbuch. „Bestimmt haben Sie auch die Nummer von Kerstin Möller notiert?“
„Aber ja.“ Erika Brütsch nahm das Register wieder in die Hände und nannte Wiebke die Nummer. Wiebke zückte das Smartphone und wählte die Nummer. Schon nach dem ersten Freizeichen meldete sich die Mailbox. Wiebke unterbrach den Anruf, erhob sich aus dem bequemen Fernsehsessel und rief die Galerie ihres Handys auf. Schweigend zeigte sie Erika Brütsch das Bild, das sie bei der Grabstätte aufgenommen hatte.
„Ist das ihre Kleidung?“
Die alte Dame betrachtete das Bild auf dem Display. Ihre Augen schimmerten feucht, als sie Wiebke ansah und langsam nickte. „Ja“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Das sind ihre Sachen.“ Sie räusperte sich. „Wurde sie vergewaltigt?“
Wiebke fand, dass die alte Dame bei aller Emotionalität abgeklärt klang. „Das wissen wir nicht. Spaziergänger fanden die Kleidung bei der Grabstätte bei Mildstedtfeld, von Kerstin Möller fehlt uns jede Spur. Um sicherzugehen, würde ich gern einen DNA-Vergleich anordnen“, erklärte Wiebke. „Dürfte ich mich in Kerstin Möllers Wohnung umsehen?“
„Aber sicher doch.“ Sie ging voran zum Flur. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen ihr Apartment.“
ZEHN
Bundesstraße 201 bei Schuby
Es war ein Kinderspiel gewesen, die Überreste von Kers-
tin Möller zu entsorgen. Niemand beobachtete ihn dabei. Obwohl, wenn man es ganz genau nahm, dann sahen ihm sogar Gott und die Welt dabei zu – ohne auf dem Schirm zu haben, was hier, auf der Bundesstraße in Richtung Westen, überhaupt abging. Ein siegessicheres Grinsen stahl sich auf seine Mundwinkel.
Ich bin gut, sagte er sich immer wieder. Verdammt gut.
Seine Hand zitterte ein wenig, als er den unauffälligen Schalter unter dem Armaturenbrett betätigte, ohne den Blick von der Landstraße zu nehmen. Ein gelbes Lämpchen im Armaturenbrett zeigte ihm, dass seine Erfindung funktionierte. Durch den Knopfdruck hatte sich ein geheimes Ventil im Wagenboden geöffnet, durch das die unbrauchbar gewordene Flüssigkeit ins Freie rann.
Zwei Stunden waren vergangen, seitdem er die Anlage erstmals in Betrieb genommen hatte. Bisher hatte sie tadellos funktioniert. Die Brühe, die durch das komplexe Rohrleitungssystem unter dem fahrenden Wagen auf die Straße sickerte, war farb- und geruchsneutral. Und sie war biologisch abbaubar und nicht nachzuweisen. Kein noch so abgedrehter Umweltfreak konnte ihm etwas ans Zeug flicken – vorausgesetzt, sie hatten überhaupt auf dem Schirm, was hier gerade vor sich ging.
Ich bin gut …
Unter anderen Umständen hätte er sich für die geniale Erfindung feiern lassen. Doch dann wäre er für den Rest seines Lebens in den Bau gewandert. Und er hatte noch ganz andere Pläne. Nein, der Knast war keine Option für ihn.
Erst einmal musste er seine Mission fortsetzen.
Ein Zeichen setzen, ihr zeigen, wie mächtig er sein konnte, und ihr beweisen, wie sehr er sie liebte. Doch noch war es nicht so weit. Er musste sich in Geduld üben, um sie zu überzeugen. Doch je länger er darüber nachdachte, umso sicherer wurde er, auf dem richtigen Weg zu sein. Abgesehen davon gab es keinen Weg zurück mehr. Jetzt galt es, aufs Ganze zu gehen.
Die Nachrichten überschlugen sich förmlich: Zu dem rätselhaften Mord an Hans Olaf Berger war eine vermisste Frau gekommen – die Polizei hatte reichlich Arbeit. Da würde ihm so schnell niemand auf die Schliche kommen.
Ein Lichtreflex im Rückspiegel riss ihn aus den Gedanken. Er beugte sich vor und sah einen silbernen VW Passat, der ihm dicht auffuhr und immer wieder die Lichthupe betätigte.
Sein Herzschlag schien einen Moment lang auszusetzen. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. Stimmte etwas mit der Maschine nicht? War man ihm doch auf die Schliche gekommen?
Das war unmöglich, denn er hatte alles gut vorbereitet.
Doch was wollte der verdammte Typ in der Vertreterkarre, der ihm seit einigen Kilometern schon im Kofferraum hing?
„Überhol doch, du Arschloch“, zischte er, nahm den Fuß vom Gas und zog den Wagen so weit an den rechten Fahrbahnrand wie möglich.
Der Fahrer hinter ihm nutzte die Gelegenheit, um noch dichter aufzufahren. Doch er überholte nicht.
Jetzt drang das Dröhnen einer Hupe an seine Ohren.
„Fahr vorbei“, brüllte er wütend. Ich muss cool bleiben, mahnte er sich. Was will der blöde Arsch von mir?, fuhr es ihm durch den Kopf.
Kurz spürte er Unsicherheit aufkommen. Er war versucht, das Ventil im Fahrzeugboden zu schießen, entschied sich aber dagegen. Der nervige Passat-Fahrer konnte unmöglich bemerkt haben, was hier gerade abging. Während er den Wagen mit knapp hundert Stundenkilometern über die Bundesstraße in Richtung Westen rollen ließ, entsorgte er, völlig unbemerkt von der Außenwelt, die Altlasten. Dabei spielte ihm der Nieselregen sogar in die Karten, denn er spülte die Flüssigkeit im Nu von der Fahrbahn.
Bleib locker, mahnte er sich zur Ruhe. Der Typ hat keine Ahnung, was hier gerade läuft. Er warf einen irritierten Blick in den Außenspiegel. Doch nichts wies darauf hin, was gerade passierte, keine auffällige Spur, die er hinter sich herzog, nichts. Wer auch immer ihm da bis auf die Stoßstange aufrückte, er konnte nicht ahnen, was hier gerade geschah. Langsam beruhigten sich seine Nerven. Er atmete zwei-, dreimal tief durch und lehnte sich entspannt im Fahrersitz zurück.
Gut so, dachte er zufrieden. Ich befinde mich mitten unter euch, und ihr bemerkt nicht die Blutspur, die ich durchs Land ziehe. Gut so.
Der Regen tat sein Übriges: Durch die nasse Fahrbahn war der Flüssigkeitsfilm, den er hinterließ, unsichtbar für den Rest der Welt.
Er war so unendlich gut. Zufrieden lehnte er sich im Fahrersitz zurück, als er im Rückspiegel sah, wie der Passat noch dichter aufschloss. Jetzt würde es genügen, den Fuß vom Gas zu nehmen, und der Heini fuhr ihm in die Karre.
„Dann überhol mich, du Arschloch!“, zischte er wütend und ließ den Wagen am rechten Fahrbahnrand weiterrollen. Es war, als hätte ihn der nervige Typ gehört, denn obwohl sich von vorn ein mächtiger Sattelzug näherte, setzte der Passatfahrer zu einem waghalsigen Überholmanöver an. Der Lkw-Fahrer von vorn blendete die Scheinwerfer auf und hupte. Das Quietschen der Bremsen überlagerte das Hupkonzert, dann war der Spuk vorüber.
Im Augenwinkel konnte er noch sehen, wie der Lastwagenfahrer wild gestikulierte und ihm den Scheibenwischer zeigte, dann war er schon vorbei.
Er atmete tief durch und sah, wie sich der Passat Variant in waghalsigem Tempo entfernte. Es war noch einmal gut gegangen. Jetzt wurde er sich darüber klar, dass ein Unfall, in den er, egal ob verschuldet oder unverschuldet, geriet, das Aus bedeuten würde. Doch es war noch lange nicht aus, denn jetzt würde er seine Mission fortsetzen. Davon konnte ihn auch der Typ in der Vertreterkarre von eben nicht abhalten. Gut so.
Es dauerte ein paar Kilometer, bis sich sein Puls normalisiert hatte und er das Lied, das aus den Lautsprechern des Radios an seine Ohren drang, laut mitsang. Die Welt war in Ordnung, und bis er die Küste erreicht hatte, würde auch der Tank seiner Erfindung leergesickert sein. Ja, er war ein Genie.
*
Husum, Lundweg
Das Apartment von Kerstin Möller war modern eingerichtet und sehr sauber. Auf wenigen Quadratmetern hatte sich die junge Frau ein kleines, gemütliches Nest unter dem Dach eingerichtet. In der aufgeräumten Küche befand sich nur eine einzige benutzte Teetasse in der Spüle.
Im Schlafzimmer gab es einen zwei Meter breiten Schrank, in dem sich jedoch nur Frauenkleidung befand. Erst im Bad wurde Wiebke fündig: Auf der Ablage standen zwei Zahnputzbecher mit einer pinkfarbenen und einer tiefblauen Bürste, ein Nassrasierer mit Schaum, daneben zwei Haarbürsten und zwei Deos, einer mit dem Zusatz „For Men“ auf dem Etikett. Zufrieden zog sie Asservatenbeutel aus der Tasche und tütete die Zahn- und die Haarbürste ein.
Auf dem Rückweg zur Diele machte Wiebke am Spiegel der Garderobe halt. Hier hingen einige Fotos, auf denen die Vermisste zu sehen war. Die Bilder zeigten eine lebensfrohe zierliche Frau mit schulterlangen blonden Haaren und lustigen Grübchen. Ihre blauen Augen strahlten Lebensfreude pur aus. Wiebke trat näher, um die Aufnahmen zu betrachten. Auf einigen Bildern, sah sie die Vermisste in Begleitung eines attraktiven Mannes mit einem Lächeln, das für den Werbespot einer Zahnpastamarke taugte. Er war braun gebrannt und breitschultrig, auf manchen Fotos betonte er sein maskulines Äußeres mit einem Dreitagebart.
„Das ist ihr Freund“, kommentierte Erika Brütsch, die ihre Besucherin sehr aufmerksam beobachtete, „der Herr Gerissen. Ein netter junger Mann.“ Jetzt tippte die alte Dame auf ein Bild, auf dem eine dunkelhaarige Schönheit zu sehen war. „Und das hier“, sagte sie, „ist die beste Freundin von Frau Möller, Christiane Vollmer.“
„Sicher darf ich die Bilder mitnehmen?“, fragte Wiebke.
„Aber sicher.“ Erika Brütsch nickte. „Vielleicht erleichtern Ihnen die Fotos die Arbeit.“
Die Zeit drängte, so musste Wiebke Erika Brütsch versprechen, sich zu melden, falls es eine Spur zu Kerstin Möller gab. Nachdem Wiebke sich bei Erika Brütsch für die Zusammenarbeit bedankt hatte, verabschiedete sie sich von der alten Dame. Die Nachbarin, die Wiebke bei ihrer Ankunft misstrauisch beobachtet hatte, war im Haus verschwunden. Jetzt stand sie hinter der Gardine ihres Küchenfensters. Wiebke ignorierte die neugierigen Blicke und wählte Jan Petersens Nummer, nachdem sich ihr Smartphone mit der Freisprech-
einrichtung des Dienstwagens verbunden hatte. Mit wenigen Sätzen schilderte sie ihrem Partner die Situation. „Der Abgleich der DNA-Spuren wird beweisen, dass es sich bei der verschwundenen Besitzerin der Sportbekleidung um Kerstin Möller handelt“, schloss sie ihre Ausführungen.
„Na Mahlzeit“, brummte Petersen am anderen Ende der Leitung. „Dann werd ich mal den ganzen Apparat in Bewegung setzen.“
„Suchhunde, wieder der Hubschrauber und eine Wärmebildkamera“, stimmte Wiebke ihm zu. „Und sieh mal zu, wie schnell wir eine Hundertschaft von der Bereitschaftspolizei bekommen. Und ich brauche eine Handyortung, die Nummer schicke ich dir gleich. Kannst du das veranlassen?“
„Wird gemacht, Christensen kann schon mal mit dem Staatsanwalt telefonieren wegen der Anordnung. Kommst du gleich rein?“
„Bin schon auf dem Weg.“ Wiebke unterbrach die Verbindung, dann wählte sie die Nummer von Sven Gerissen. Erwartungsgemäß meldete sich nach drei Freizeichen die freundlich klingelnde Stimme eines jungen Mannes, der dem Anrufer beschied, nicht anwesend zu sein, aber wer mochte, konnte ihm eine Nachricht hinterlassen.
Wiebke mochte nicht. An einer roten Ampel tickerte sie Petersen eine WhatsApp, dass sie etwas später zum Polizeirevier komme, dann machte sie einen kleinen Umweg zum Industriegebiet.
ELF
Bundesstraße 201 Richtung Husum
Er hatte alles gut vorbereitet. Im Nachhinein ärgerte er sich darüber, dass er sie vor Ort entkleidet und die Sachen nur halbherzig entsorgt hatte. Doch es konnte nur besser werden. Ein teuflisches Grinsen schlich um seine Mundwinkel, als er das Smartphone in den Ruhestand versetzte und in die Ablage im Armaturenbrett legte. Diese kleinen digitalen Zauberkästen waren ein Segen. Sie erleichterten ihm die Arbeit auf seiner Mission.
Er fand, wonach er suchte.
Immer und überall.
Als er den Motor startete, konnte er nicht gleich losfahren. Bei dem kurzen Stopp waren die Scheiben beschlagen. So ließ er den Diesel einen Moment im Leerlauf tuckern und schaltete das Gebläse auf volle Leistung. Er nutzte die Zeit, um den nächsten Schritt zu planen. Sein nächstes Opfer stand bereits fest.
Als er freie Sicht hatte, drosselte er die Leistung des Gebläses, legte einen Gang ein und fuhr langsam vom Parkplatz herunter. Die Fahrt nach Husum dauerte keine zwanzig Minuten. Ein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett sagte ihm, dass er gut in der Zeit war. Alles lief nach Plan.
Er würde die Zeit für einen kleinen Spaziergang durch die graue Stadt am Meer nutzen. Der Lesestoff war ihm ausgegangen. Ohne Buch fühlte er sich unvollständig. Gleich würde er sich in der Buchhandlung mit Nachschub versorgen. Und ihr dabei einen kleinen Besuch abstatten.
Er atmete tief durch, als er das Seitenfenster einen Spaltbreit öffnete und die frische Luft tief in die Lungen einsog. Der Wind trieb graue, unheilvolle Wolken ins Landesinnere und tauchte das flache Land links und rechts der Straße in ein bizarres Licht. Nordfriesland war seine Heimat, hier fühlte er sich wohl. Mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen lauschte er der leisen Musik aus dem Autoradio und summte mit. Als er Husum erreichte, spürte er eine undefinierbare Spannung in sich aufsteigen.
Er hatte Glück und fand einen Parkplatz an der Deichstraße. Ein kühler Wind fegte ins Landesinnere, immerhin hatte der fiese Herbstregen nachgelassen. Er warf eine Münze in den Parkscheinautomaten und löste das Ticket, um es hinter die große Windschutzscheibe zu klemmen. Ein Strafzettel wäre jetzt fatal, denn es galt, nicht aufzufallen in der Masse. Nachdem er sich gründlich versichert hatte, den Wagen abgeschlossen zu haben, zog er den Reißverschluss seiner Jacke hoch, setzte die Pudelmütze auf, versenkte die Hände in den Taschen seiner Jeans und schlenderte am Fischhaus Loof vorbei über die Hafenstraße in Richtung Innenstadt. Ein Lieferwagen parkte vor dem Kulturspeicher. Zwei Männer in Overalls entluden Kisten und schleppten sie in das alte Gebäude. Sie schenkten ihm keine Beachtung. Um diese Zeit herrschte nicht allzu viel Betrieb in der grauen Stadt am Meer. Es war keine Saison, die bunt gekleideten Touristen, die Husum im Sommer bevölkerten, waren im Alltag gefangen und gingen ihren Berufen nach. Er atmete tief durch. Eigentlich ging es ihm gut. Er lebte dort, wo andere Urlaub machten. Er war sein eigener Chef und hatte sein Leben fest in der Hand. Lange war das nicht der Fall gewesen, doch er war gerade im Begriff, die Schieflage wieder zu richten. Und der Anfang war gemacht.
Als er Hunger verspürte, überlegte er, wo er zu Mittag einkehren konnte. An Kneipen, Bars und Restaurants mangelte es nicht. Er entschied sich für einen Abstecher auf das Restaurantschiff „Nordertor“, das seit einigen Jahren unter neuer Flagge an seinem Standort im Binnenhafen lag. Claude Bruhn, der kultige Kapitän, war vor Längerem schon von Bord gegangen, um den wohlverdienten Ruhestand zu genießen. Touristen und waschechte Nordfriesen hatten ihm lange hinterhergetrauert. Claudes Nachfolger führten die alte Tradition auf dem ehemaligen Fahrgastschiff fort, hatten frischen Wind in die Institution gebracht, ohne dem Konzept des Restaurantschiffes untreu zu werden.
Ohne Eile nahm er die leicht schwankende Gangway und fand sich im Vorderdeck des alten Schiffes wieder. Eine kleine Tür führte in den Gastraum, er musste den Kopf einziehen, um sich nicht zu stoßen. Drinnen schlug ihm eine wohlige Wärme entgegen, als er sich an einen freien Tisch setzte, von dem aus er den Blick auf das Hafenbecken und den Tonnenleger „Hildegard“, der als Touristenattraktion seit vielen Jahren auf der stillgelegten Slipanlage vor dem Rathaus ruhte, genießen konnte.
Im Innern der „Nordertor“ herrschte nicht viel Betrieb, und so dauerte es nicht lange, bis ihm die Bedienung die Speisekarte brachte und er eine Apfelschorle bestellte. Eher desinteressiert blätterte er durch die Karte und entschied sich schließlich für eine Portion Backfisch im Bierteig und Bratkartoffeln.
Die Bedienung brachte ihm die Apfelschorle. Er bedankte sich höflich, erwischte sich dabei, der jungen Frau im Weggehen auf den Hintern zu starren, und trank einen Schluck. Dann setzte er das Glas auf dem Untersetzer ab. Schließlich wollte er keine unansehnlichen Ränder auf der Tischdecke hinterlassen.
Während er auf das Essen wartete, das in Deutschlands wohl kleinster Restaurantküche zubereitet wurde, zog er sein Smartphone aus der Tasche und stöberte ein wenig in den sozialen Netzwerken. Dann fand er ihr Foto. Er spürte, wie sich sein Herzschlag bei ihrem Anblick beschleunigte. Es schien, als würde er sie schon seit Ewigkeiten kennen. Da waren diese Vertrautheit, dieses angenehme Lächeln und die Grübchen in ihrem Gesicht, wenn sie lachte. Dass er selber lächelte, bemerkte er nicht.
Bald gehörst du mir. Fast zärtlich strich seine Daumenkuppe über eines ihrer zahlreichen Bilder im Netz.
„So“, riss ihn die Stimme der jungen Kellnerin aus den Gedanken. „Einmal Backfisch und Bratkartoffeln.“
Schnell ließ er das Handy verschwinden und betrachtete das Essen. Erst jetzt spürte er, wie sein Magen knurrte. Höchste Zeit, dass er sich eine warme Mahlzeit gönnte. Hungrig rollte er das Besteck aus der Serviette und machte sich über den Fisch her. Gleich nach dem Essen würde er sie aufsuchen.
Ich habe eine gute Auswahl getroffen, dachte er zufrieden, als ihr Lächeln wieder vor seinem geistigen Auge auftauchte.
Und damit meinte er nicht das Essen, sondern sein nächstes Opfer. Bald schon würde er sie sich holen. Doch ein paar Stunden musste er sich noch gedulden.
*
Husum, Autohaus Reiners, 11.50 Uhr
Es roch nach Reifen und Polierwachs. Der Verkaufsraum mit großer Fensterfront zur Flensburger Chaussee war vollgestellt mit den Neuwagen, die der Hersteller auf der letzten Automobilmesse in Frankfurt erst präsentiert hatte. Auf Plakaten warb man mit „satten Rabatten“ und günstigen Finanzierungen für den Kauf eines neuen Autos. Wiebke schlenderte durch die Reihen der blitzblanken Fahrzeuge und schielte unauffällig zu den gläsernen Büros im hinteren Bereich der Neuwagenausstellung.
Für Wiebke war ein Auto nichts als ein Fortbewegungsmittel, mit dem man – je nach Modell – mehr oder weniger komfortabel von A nach B kam. Sie verstand nicht, dass ein Auto für viele Mitmenschen ein Statussymbol war. Genauso wenig wie sie die Leute verstand, die samstagvormittags Stunden damit verbrachten, den fahrbaren Untersatz zu putzen und zu polieren.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Die freundliche Stimme riss Wiebke aus den Überlegungen. Ohne sich umzudrehen, erkannte sie die Stimme des Mannes, die sie eben schon auf dem Anrufbeantworter gehört hatte. Hinter ihr stand der Mann, den sie von den Bildern an Kerstin Möllers Garderobenspiegel kannte.
Nahezu lautlos war der attraktive Mittdreißiger in gut sitzendem Anzug und einer farblich zum Jackett passenden Jacke hinter ihr aufgetaucht. Der Duft seines Aftershaves umgab ihn wie eine unsichtbare Wolke. Wiebke ertappte sich dabei, genießerisch die Luft durch die verschnupfte Nase einzuziehen.
Sie überlegte, ob sie gleich mit der Tür ins Haus fallen sollte, entschloss sich aber dagegen, sich gleich als Polizistin zu outen. „Ich würde gern mit Herrn Gerissen sprechen.“
Das Lächeln um das kantige Kinn ihres Gegenübers wurde eine Spur breiter. „Da haben Sie großes Glück, ich stehe zur Verfügung.“ Gerissen hielt ihr die Hand hin. Wiebke nahm sie und stellte fest, dass sein Händedruck angenehm fest, aber nicht wie ein Schraubstock war. „Was kann ich für Sie tun?“
„Mein Name ist Wiebke Ulbricht, ich bin Polizistin.“ Sie blickte sich im Verkaufsraum um. „Können wir irgendwo ungestört reden?“
„Aber sicher.“ Das Lächeln auf seinen Lippen erlosch. „Sie kommen wegen Kerstin, nehme ich an?“
„Ja. Ich habe ein paar Fragen an Sie.“
„Natürlich.“ Sven Gerissen machte eine auslandende Bewegung und deutete in Richtung der beiden gläsernen Büros. „Kommen Sie.“
Wiebke folgte ihm in das kleine Büro und nahm vor dem ebenfalls gläsernen Schreibtisch Platz. Während Gerissen den Schreibtisch umrundete, um sich zu setzen, schaute Wiebke sich um. Das Büro war höchstens fünf Quadratmeter groß und recht spartanisch eingerichtet. Es gab einen Schlüsselkasten, in dem sich unzählige Autoschlüssel befanden, einen großen Kalender mit den aktuellen Modellen des Autoherstellers und ein halbhohes, offenes Aktenregal. Auf dem Schreibtisch die Nachbildung eines Autoreifens, die als Stifteköcher diente, daneben eine Zettelbox, die aus einem Miniatur-Motorblock bestand. Darauf erkannte Wiebke das Logo des Autohauses. Auf der linken Ecke stand ein flacher Monitor, zu dem sich Maus und Tastatur gesellten. Ein stehender Bilderrahmen war das einzige persönliche Einrichtungsmerkmal an Gerissens Arbeitsplatz. Wiebke bedauerte, aus ihrem Blickwinkel nur die Rückseite des Rahmens sehen zu können. Es hätte sie interessiert, ob Sven Gerissen das Bild seiner Freundin auf dem Schreibtisch stehen hatte.
„Kerstins Vermieterin ist außer sich vor Sorge“, begann Gerissen das Gespräch, während er die fein manikürten Hände auf der gläsernen Tischplatte faltete.
„Sind Sie nicht in Sorge?“, konterte Wiebke.
„Doch, natürlich.“ Gerissens Antwort kam zu schnell, zu spontan. Sein Blick wurde unstet, während er mit den feingliedrigen Händen rang. „Was denken Sie denn?“ Als er zu Wiebke aufblickte, hatte er die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
Wiebke sparte sich eine Antwort. Sie wollte den Freund der Vermissten aus der Reserve locken.
„Haben Sie denn schon eine Spur?“, riss Gerissen sie aus den Beobachtungen.
„Leider nein.“ Wiebke schüttelte den Kopf. „Wie lange sind Sie schon ein Paar?“
„Seit einem halben Jahr etwa.“ Er lachte trocken auf, als würde er ihr die Vorzüge eines neuen Automodells vorstellen. „Aber Paar, das klingt so hochtrabend.“
Wiebke runzelte die Stirn. „Wie würden Sie es dann bezeichnen?“
„Auch wenn wir zusammen sind, achten wir beide darauf, unsere Freiheit zu behalten.“ Das selbstgefällige Lächeln in seinem Gesicht war wie ausgelöscht.
„Wie muss ich mir das vorstellen?“
„Wir lassen uns unsere Freiräume und legen uns nicht in Ketten. Manchmal haben wir ein paar Tage lang gar keinen Kontakt, an anderen Tagen hängen wir aufeinander wie ein frisch verliebtes Paar.“ Jetzt rang er sich wieder ein Lächeln ab, doch es wirkte aufgesetzt.
„Sie haben eine eigene Wohnung, nehme ich an?“
„Aber sicher. Und die werde ich auch behalten. Mir ist ein Rückzugsort sehr wichtig.“
„Ich verstehe.“ Wiebke machte sich Notizen. Etwas an Sven Gerissen gefiel ihr nicht, doch sie konnte nicht beschreiben, was ihr an ihm missfiel. Unwillkürlich dachte Wiebke an ihre Beziehung zu Eike. Ihr Freund machte auch keinen Hehl daraus, dass er ein eigenständiger Mensch bleiben wollte. Und momentan nutzte er das, was Gerissen eben als Rückzugsmöglichkeit bezeichnet hatte, für sich. Wiebke fragte sich, warum Eike, sobald er mit seiner Band auf Tour war, zu einem ganz anderen Menschen wurde. Sie ertappte sich bei der Frage, wie lange sie es noch an seiner Seite aushielt.
Sie verdrängte die düsteren Gedanken und konzentrierte sich auf den Fall. „Wann haben Sie Ihre Freundin zuletzt gesehen?“
„Vorgestern Abend“, kam Sven Gerissens Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Wir waren eine Kleinigkeit essen und haben geredet. Kerstin war müde und wollte früh zu Bett gehen.“
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.