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Barreca: Die ’Ndrangheta strebt einen Pakt mit dem Staat an

Nur einer kann enthüllen, wie Gegenwart und Vergangenheit zusammenhängen. Dieser Mensch ist Filippo Barreca, eines der ersten Mitglieder der kalabresischen Mafia, die sich zur Zusammenarbeit mit der Justiz bereit erklärten und Entscheidendes zum Kampf des Staates gegen die ’Ndrangheta beitrugen. 2002 wurde sein Bruder Vincenzo in einem Friseurladen in Reggio Calabria ermordet. Er war der erste ’Ndrangheta-Angehörige, der das Zeugenschutzprogramm in Anspruch nahm, und lebt noch heute, 18 Jahre später, inkognito. Der Staat stellte ihm für seine soziale Wiedereingliederung 1,6 Milliarden alter Lire (umgerechnet etwa 800.000 Euro) zur Verfügung. Heute ist Barreca ein angesehener Unternehmer. Wenn er in einem Prozess aussagt, tut er dies hinter einem Paravent, sodass niemand sein Gesicht und seine Gestalt erkennen kann.

Um verständlich zu machen, welche Rolle Barreca spielte, möchten wir hier Staatsanwalt Nicola Gratteri zu Wort kommen lassen, der uns darüber in einem kürzlich erfolgten Gespräch aufklärte: „Die Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung fand ihren Höhepunkt in den Neunzigerjahren. Damals hatten wir etwa zweitausend Camorra-Angehörige, die mit der Justiz zusammenarbeiteten, etwa eintausend von der Cosa Nostra, und höchstens einhundert von der ’Ndrangheta. Doch unsere kalabresischen Informanten gehörten sozusagen alle zum Fußvolk. Sie konnten uns nichts über die weitergehenden Pläne der Kalabresen mitteilen. Nur zwei hatten eine höhere Position in der Organisation inne: Franco Pino, Boss einer Familie aus Cosenza, und eben Barreca, der in Pellaro, in der Nähe von Reggio Calabria, das Regiment führte. Die Patriarchen der ’Ndrangheta-Clans wie zum Beispiel der Nirta-Romea aus San Luca, der Di Stefano und der Condello aus Reggio Calabria haben nie mit der Justiz zusammengearbeitet. Gestalten wie Tommaso Buscetta oder Giovanni Brusca gab es bei der kalabresischen Mafia nicht. Aber Barreca gehörte zumindest zur ‚Santa‘, also zur Führungsriege, die man auch ‚Società Maggiore‘ nennt, selbst wenn er nur auf der untersten Stufe stand. Nur wenn man zur Santa gehört, kann man gleichzeitig Freimaurer sein.“

Er führt weiter aus: „Nur wenn man zur Santa gehört, hat man Zugang zu den Schalthebeln der Macht. Nur dann kann man im Zweifelsfall auch als Informant für die Polizei arbeiten. Die Santa hat gleichsam Stoßdämpferfunktion. Sie kann, um Morde oder Blutrache zu verhindern, einzelne Mafiosi an die Ordnungskräfte verraten. Sie ist gleichsam eine Art Thermostat, der das Schicksal vieler Menschen beeinflusst. Daher ist es so bedeutsam, wenn jemand Zugang zur Santa hat.“

Barreca stieg schon 1979 zum Santa-Mitglied auf. Er wurde von der copiata gleichsam geweiht. Diese besteht aus dem Triumvirat, das die Geschäfte der Familie leitet: dem capobastone, dem „Dienstältesten“, dem contabile, der für die Finanzen verantwortlich ist, und dem crimine, der die kriminellen Aktivitäten plant. In Barrecas Fall bestand sie aus dem Boss Santo Araniti, aus Natale Iamonte und Turi Scriva. Er gehörte also zur Führungsriege, in die nur hochrangige ’Ndrangheta-Mitglieder wie die Bosse Paolo Di Stefano, Antonio Nirta oder Mommo Piromalli aufsteigen konnten.

Wegen seiner Stellung in der Organisation ist Barreca einer der wertvollsten Kronzeugen überhaupt. Und er hat uns zum Thema Attentate Folgendes zu sagen: „Meine Aussagen haben überhaupt nichts bewirkt. Dabei habe ich sie wohl mehr als tausend Mal wiederholt. Egal, wo man mich verhört hat, ob in Mailand oder in Reggio Calabria, immer wieder habe ich den Staatsanwälten gesagt, dass die ’Ndrangheta die mächtigste Organisation der Welt ist, weil die einzelnen Mitglieder durch Familienbande verknüpft sind. Daher bleiben die Geschäftsgeheimnisse in der Familie. Die ’Ndrangheta hat sich schon seit einiger Zeit dorthin entwickelt, wo die Sizilianer einmal waren. Gleich nach dem zweiten Mafiakrieg, als sich die Gruppe Di Stefano-Tegano-Libri bildete, gründete man eine Art Regionalkommission, die schon seit 1985 alle Geschäfte überwacht. Da der Mafiakrieg gut tausend Tote mit sich brachte und man sah, wohin es führt, wenn die einen dorthin wollen und die anderen dahin, gründete man eine Kommission, die heute alle Aktivitäten verfolgt und sich um die Interessen der verschiedenen Familien beziehungsweise Clans kümmert. Unter dieser Voraussetzung ist es absolut undenkbar, dass hinter den Ereignissen, die ich auch im Fernsehen verfolgt habe, keine lenkende Hand steht. Für mich sind das Warnschüsse.“

„Solche Aktionen können ohne die Genehmigung der Regionalkommission nicht durchgeführt werden“, fährt Barreca fort. „Diese Einschüchterungsversuche haben letztlich einen doppelten Zweck: Zum einen dienen sie als konkrete Warnung an bestimmte Ermittlungsbehörden, zum anderen aber steht dahinter auch eine allgemeine Warnung an den Staat.“

Barreca jedenfalls ist nicht der Meinung, dass es sich bei den Vorfällen um ein regionales Phänomen handelt. Die ’Ndrangheta ist gewachsen. Wie die Cosa Nostra sucht sie nun den Dialog mit den Institutionen. Barreca zufolge ist dieser in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität angesiedelt. Im Grunde handelt es sich um die alten Pfade der Demonstration von Macht und Stärke, die schon von der Cosa Nostra beschritten wurden, als sie die beiden Richter Falcone und Borsellino ermordete: „Heute ist das nicht mehr wie in den Neunzigerjahren. Die Lage hat sich verbessert. Der ’Ndrangheta ist es gelungen, ihren Weg in Politik und Institutionen zu finden. Aber natürlich gab es zwischen der Welt der Mafia und der Welt der Institutionen immer ein gewisses dialektisches Zusammenspiel. Das gilt auch für die Politik, und zwar nicht nur im Süden, wie die Ermittlungen zeigen, die sich heute mit einzelnen Politikern der Lega Nord beschäftigen.“

„Das ging schon mit den Entführungen los. Diese hatten nicht nur ökonomische Bedeutung für die ’Ndrangheta. Sie dienten auch als Botschaft an die Staatsorgane. Diese Botschaft war letztlich ganz einfach: ‚Herrschaften, wir können euch jederzeit erwischen. Und jeder von euch kann ins Visier geraten.‘ Natürlich war es besser, Drogen zu verkaufen als Leute zu entführen, doch mit den Entführungen sicherten wir uns einen gewissen Einfluss auf den Staat, den wir später aufrechterhalten konnten. Wenn also die Organisation am Tag des Präsidentenbesuchs ein Auto voller Sprengstoff am Flughafen stehen lässt, dann heißt das: ‚Achtung! Wir sind da! Wenn ihr nicht tut, was wir wollen, schlagen wir zu.‘“

„Genaueres kann ich dazu auch nicht sagen, da ich ja nicht mehr zur Organisation gehöre“, fährt Barreca fort. „Aber Sinn und Zweck des Ganzen liegen doch auf der Hand: Sie suchen den Dialog. Darum geht es. Worauf es ihnen dabei genau ankommt, ist letztlich nicht so wichtig. Der Dialog ist das, was zählt. Das ist für die ’Ndrangheta von enormer Bedeutung.“

„Als ich von der Autobombe am Flughafen und von den Drohungen an die Staatsanwälte hörte, dachte ich mir: ‚Das ist ja wie 1992.‘ Man kann die aktuellen Ereignisse tatsächlich mit den Attentaten von 1992/93 vergleichen. Diese hatten dasselbe Ziel: in Dialog mit dem Staat zu treten und einen Pakt auszuhandeln. Was mir wichtig erscheint, ist die Tatsache, dass sich die Sizilianer und die Kalabresen diesbezüglich wohl untereinander abgestimmt haben. Da gibt es Mittelsmänner, auch Vertreter des Staatsapparates, die jetzt tätig werden. So ähnlich, wie es mit den Entführungen lief. Heute will man über alles verhandeln. Das ist fast unvermeidlich.“

Mafia-High-Tech

„Zu meiner Zeit“, erzählt Barreca weiter, „hatte die Cosa Nostra zweifelsohne enormen politischen Einfluss. Heute ist das nicht mehr so. Die kalabresischen Bosse haben ihren Weg in die Institutionen gefunden. Und Signale wie die Autobombe dienen dazu, ihre ‚Bedeutung‘ unter Beweis zu stellen, um Einfluss auf den Staat ausüben zu können. Ich wiederhole: Die ’Ndrangheta durchdringt die Gesellschaft und vor allem die Politik. Das liegt nicht zuletzt an ihrer wirtschaftlichen Macht. Das kann ich auch aus persönlicher Erfahrung bestätigen. Ich habe manchmal an einem Tag 25.000 Euro ausgegeben. Ich habe 600 Kilogramm Kokain pro Monat verkauft. Den drohenden Ermittlungen konnte ich mich deshalb entziehen, weil der Staat, kurzsichtig wie er ist, immer wieder denselben Fehler macht: Er unterschätzt die Notwendigkeit aktiver Gegenmaßnahmen. Die Mittel, die den Staatsorganen zur Verfügung stehen, sind der enormen wirtschaftlichen und technologischen Macht der ’Ndrangheta unterlegen.“

Dass der italienische Staat zu wenig zur Verbrechensbekämpfung unternimmt, ist nicht neu. Aber Barreca will uns noch etwas anderes sagen. Man hielt die ’Ndrangheta immer für einen recht rückständigen Verein, der von Geldwäsche keine Ahnung und dem technologischen Sachverstand anderer Organisationen wie der Cosa Nostra wenig entgegenzusetzen hatte. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Die kalabresischen Familien sind, was die logistischen Planungen angeht, seit Jahrzehnten auf dem neuesten Stand. Und sie nutzen die neuesten Technologien, um die Prinzipien der ’Ndrangheta, allen voran das strenge Schweigegebot, aufrechtzuerhalten. Auch diesbezüglich sind Barrecas Aussagen recht interessant: „Ich besaß schon Anfang der Achtzigerjahre ein Telefon, das man einfach an ein beliebiges öffentliches Telefon anschließen konnte. Das hatte zur Folge, dass die Polizei den Anruf nicht zurückverfolgen konnte. Die Leute, die mich verfolgten, mussten halt immer mit den damals üblichen Jetons telefonieren. Und das war eben entscheidend. Wisst ihr, was ich gemacht habe? Ich habe diese Dinger an die Clans aus San Luca verkauft, die damals die Entführungen in Kalabrien durchführten. Bei den Verhandlungen mit dem Staat war es enorm wichtig, telefonieren zu können, ohne entdeckt zu werden. Das war bis heute offensichtlich niemandem so recht klar.“

Die beunruhigenden Beziehungen der Mafia zu den Staatsorganen fanden also – wie Barreca behauptet – schon damals unter dem Schutz der Technologie statt.

Und er erzählt: „Eine bestimmte Episode macht deutlich, welchen enormen strategischen Wert die Entführungen hatten, abgesehen natürlich von den gewaltigen Summen, die sie einbrachten. Eines Tages trafen wir uns auf der Piazza Cavour in Rom mit dem Hochkommissar für den Kampf gegen die Mafia, Domenico Sica. Damals sagte Sica aufgeregt zu mir, wir müssten unter allen Umständen Cesare Casella freilassen, einen jungen Mann, der 1988 in Pavia entführt – und zwei Jahre später freigelassen – worden war. Er war völlig fertig mit den Nerven und wollte das Problem auf der Stelle gelöst sehen. ‚Pippo‘, sagt er zu mir, ‚ich kriege Druck von oben und unten. Ihr müsst mir unbedingt Casella freilassen.‘ Ich schaue ihn an und lache: ‚Na, ich habe ihn ja nicht in der Tasche. Ich kann ihn ja nicht einfach schnappen und dir hierher bringen.‘ Er: ‚Aber du weißt ja, dass unsere Geheimdienste sich darum kümmern werden.‘“

„Sica arbeitete eng mit dem Geheimdienst zusammen“, berichtet Barreca weiter. „Er wusste, dass die Agenten an Casellas Fall arbeiteten. Tatsächlich trat der Geheimdienst über Mittelsmänner an die Entführer heran und bot ihnen 1,5 Milliarden Lire. Geld hatten sie ja genug zur Verfügung. Und so kam Casella frei. Die Entführer haben also nicht nur Geld von der Familie bekommen, sondern auch die 1,5 Milliarden Lire vom Staat, damit er zeitnah zurückkam. Die Entführung hatte viel Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt. Alle Gelder, die durch Entführungen erpresst wurden, landeten am Ende in den Händen der Papalias aus Mailand. Diese reinvestierten das Geld, entweder in den Drogenhandel oder in legale Geschäfte. Das war der Leim, der die Entführungsgeschichten zusammenhielt.“

Der 18-jährige Cesare Casella, Sohn eines Citroën-Vertragshändlers, wurde Opfer eines der langwierigsten Entführungsfälle in der Geschichte Italiens. Bis zum Januar 1990, also zwei lange Jahre, lebte er angekettet in einer Höhle im Aspromonte-Gebirge als Geisel, während seine Entführer mit seiner Familie verhandelten. Zwischen den beiden Parteien stand der Staat, der sich als unfähig erwies, den gefangenen Jungen oder seine Kidnapper zu finden. Das Lösegeld diente dem Clan als Grundkapital zum Einstieg in den Kokainhandel mit den kolumbianischen Drogenkartellen.

Bei der Freilassung setzte man Casella am Kiesufer eines Flusses bei Natile di Careri aus, einem Dorf zwischen Platì und Bovalino in der Region Locri. Seitdem sind mehr als 20 Jahre vergangen, doch Careri ist und bleibt das Gefängnis Casellas – wie im Übrigen ganz Kalabrien. In den unverputzten Betongaragen stehen Autos im Wert von einhundert- oder zweihunderttausend Euro. Die Straßen sind ebenso wie die Häuser in schlechtem Zustand. Niemand käme auf die Idee, dass sich dahinter Wasserhähne aus Gold verbergen.

Reichtum und omertà

„Eines Tages musste ich nach Careri, um einen der ’Ndrangheta-Bosse zu verhaften“, erzählt der stellvertretende Polizeidirektor Carmine Gallo, der Dutzende von Entführungsfällen untersucht hat und als einer der erfahrensten polizeilichen Ermittler gilt. „Die Häuser dort haben keine Hausnummern. Ich wusste folglich nicht, wo der Mann wohnt. Also fragte ich einen der Ortspolizisten. Dieser starrte mich nur schweigend an. Er gab einfach keine Antwort. Ich konnte es nicht glauben, also provozierte ich ihn. „Ich nehme Sie fest, wenn Sie nicht antworten“, sagte ich, um ihm Angst einzujagen. Kein Wort. Er redete nicht einmal, als ich ihm Handschellen anlegte und ihn ins Auto schob. Ich fuhr 40 Kilometer weit, bevor er es wagte, den Mund aufzumachen. ‚Wenn ich Ihnen sage, wo er wohnt, bringen die mich heute Nacht noch um‘, flüsterte er mit ängstlicher Stimme. Ich musste zurück und einer seiner Kollegen zeigte mir schließlich von Weitem, wo der Typ wohnte.“

Dass ein Polizist einem anderen Handschellen anlegen muss, um zu erfahren, wo ein Verbrecher lebt, ist im Norden kaum zu vermitteln. Wenn ein Journalist in der Gegend um Locri unterwegs ist, kommt es schon mal vor, dass die ’Ndrangheta ihn verfolgen lässt. Eine höfliche Beschattung. In Platì, wo das Heiligtum der Madonna von Polsi liegt, die gleichzeitig Patronin der Mafiosi und der Polizisten ist, fährt man Ihnen dann auf einem Motorrad nach. Wenn Sie stehen bleiben, überholt es Sie ganz langsam. Der Beifahrer zeigt mit dem Finger gen Himmel. Das soll heißen: „Besser, Sie überfliegen die Gegend nur. Am allerbesten kehren Sie gleich nach Mailand zurück.“

Überall herrscht die omertà, der Mantel des Schweigens, der über die Mafia gebreitet wird. Wenn Sie auf dem Schulhof der Grundschule von Careri die Kinder nach der ’Ndrangheta fragen, heißt es, man wisse von nichts. Manche antworten erst gar nicht und starren Ihnen nur minutenlang ins Gesicht. Der Direktor ist ein wandelndes Paradebeispiel für diese Art von Opportunismus: „Die ’Ndrangheta? Hier an der Schule gibt es so etwas nicht. Und draußen … keine Ahnung. Das interessiert mich nicht.“

In der Kaserne der Carabinieri geht höchstens gelegentlich eine Anzeige wegen Werkzeugdiebstahls ein. Giovanni Capello, der bis August 2010 dort das Sagen hatte, erzählt: „Als meine Frau schwanger war, lebte sie wie in Quarantäne. Sie ging kaum vor die Tür, ja sie vereinsamte regelrecht. Man sprach nicht mit uns oder behandelte uns mit offener Feindseligkeit. Irgendwann gewöhnt man sich dann daran. Erst heute, nach meiner Versetzung, begreife ich Careri, einen Ort, an dem ich sieben Jahre lang lebte. Und ich kann selbst kaum glauben, dass so etwas möglich ist.“

Dieses winzige Dorf hält einen der schlimmsten vorstellbaren Negativrekorde. Careri ist das Dorf mit dem höchsten Prozentsatz von Mafiaangehörigen in der Bevölkerung: Auf gerade einmal 2500 Einwohner – Frauen und Kinder inbegriffen – kommen 600 bis 700 Mafiosi. Ein anderer Rekord des Örtchens, auf den man jahrzehntelang stolz war, fiel jedoch vor Kurzem. Es hieß immer, aus der Gegend von Careri sei noch nie ein Kronzeuge gekommen. Niemand dort hatte sich je vom Staat, ja nicht einmal vom Tod der bei diversen Bandenkriegen ermordeten Verwandten zu einer Aussage bewegen lassen. Alle waren dem Verbrechen treu ergeben. Verräter gab es dort nicht.

2006 aber kam es dann zum Skandal. Was für eine Schande! Rocco Varacalli, Jahrgang 1970, dreht nach 18 Jahren im Dienst des Clans Cua-Pipicella durch und beginnt, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. „Rocco sagt aus“ – was für ein Schock. Die ganze Familie, auch Bruder Mimmo, trägt wochenlang Schwarz zum Zeichen der Trauer. Für sie ist Rocco gestorben. „Wir sind nicht länger seine Familie“, heißt es in einem Brief an die Presse. „Er ist unser nicht würdig, er war es nie. Er ist es nicht wert, Teil einer sauberen, ehrlichen, einigen Familie zu sein. Kein Urteil würde je dieser Schande gerecht. Wir sind sprachlos angesichts eines solchen Menschen, der – offen gesagt – auch keine Worte verdient hat.“

Die Familie jedenfalls geht auf Distanz, aus Überzeugung oder aus Angst, getötet zu werden. Und letztlich kann man es ihr nicht verdenken. Nicht in dieser Gegend. Nicht in Careri.

Einen „Gevatter“ zu finden, der sich aus diesem Umfeld befreien will, der Hintergründe aufdeckt und Stück um Stück demontiert, der die Organisation und seine Genossen herausfordert, ist für den Staat also ein echter Gewinn. Und ein Schritt vorwärts für die ganze Gesellschaft. Vor allem, wenn er als glaubwürdiger Zeuge das Netz des Einverständnisses zerreißt und enthüllt, wie weit die Mafia bereits in die Politik und Unternehmenswelt vorgedrungen ist.

Die Weihe

„Man wird mich töten!“

Wir kehren noch vier Mal in den Teesalon der Bäckerei zurück, nachdem Di Bella aus dem Zeugenschutzprogramm ausgestiegen ist. Allmählich lernt er, uns zu vertrauen. Und wir treffen ihn viele Male in seiner Wohnung in einem anonymen Wohnhaus, in dem das Leben dieses Mannes, der einst Verbrecher war und jetzt zum Helfer der Justiz geworden ist, sich zu verlieren droht. Kein Name steht an der Klingel, weder unten noch oben, kein Hinweis prangt auf dem Briefkasten. Ein Geist, den wir in seiner schmucklosen Küche besuchen. Der Kaffee schmeckt furchtbar, überdeckt kaum den Nachgeschmack der drohenden Gefahr. Und immer läuft der Fernseher. Damit die Nachbarn nichts hören von den Erinnerungen, den Geschichten, in denen es um Blut und Geld geht, um scheinbar untadelige Bürger, die Hand in Hand mit den Paten arbeiten. Vorsichtshalber bleiben auch die Rollläden unten. „Und kommt in Arbeitskleidung, als wärt ihr Handwerker. Wenn die Polizei vorbeikommt, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist, stelle ich einfach den Werkzeugkasten im Wohnzimmer auf. Dann sagen wir eben, ihr seid … Schlosser, die die Eingangstür reparieren.“ Und tatsächlich legt Di Bella jedes Mal alles bereit – Schraubenzieher und ein altes Schloss. Wenn eine Polizeikontrolle kommt, werden wir sagen, dass wir Handwerker sind und jetzt sofort weg müssen, um ein neues Schloss zu kaufen. Und was, wenn jemand anderer anklopft?

„Wenn sie jetzt kommen, um mich umzulegen, töten sie euch auch, was denkt ihr denn? Das sind nicht die Sizilianer, die wenigstens noch ein bisschen Respekt vor Kindern zeigen. Die ’Ndrangheta achtet nichts und niemanden, auch nicht das Leben der Kleinen. Wenn die beschließen, die ganze Familie umzubringen, dann kommen die und fragen erst gar nicht, ob du mein Cousin bist oder jemand anderer. Die töten alle. Mit einem sizilianischen Mafioso kannst du noch verhandeln, mit einem ’Ndrangheta-Mitglied nicht. Das ist nämlich dämlich, nur wird es von ziemlich intelligenten Leuten gesteuert. Mit Argumenten brauchst du denen nicht zu kommen. Die sagen einfach: ‚Das machen wir nicht selbst. Das lassen wir andere machen. Die Rumänen beispielsweise. Da drücken wir einem eine Pistole in die Hand und dann heißt es: Geh dort vorbei und leg den oder jenen um.‘ Denen ist es egal, ob Kinder darunter sind oder nicht. Bei den Sizilianern hingegen wird der Typ kunstgerecht gefesselt, sodass er sich bei jeder Bewegung selbst die Luft abschnürt. Die wollen, dass man sieht, wer den Kerl umgelegt hat. Da können sie nicht jeden Beliebigen hinschicken, versteht ihr? Aus diesem Grund ist die ’Ndrangheta so gefährlich: Die wollen ihre Rache und sonst nichts. Wenn sie das so beschlossen haben, dann wird das auch so gemacht und damit Schluss.“

„Ich werde mit 99-prozentiger Sicherheit getötet“, fährt Di Bella fort. „Aber an einem bestimmten Punkt muss man einfach einen Schlussstrich ziehen. Du musst deine Rechnung mit dem Leben machen und eine endgültige Entscheidung treffen. Seit ich angefangen habe, als Kronzeuge auszusagen, weiß ich, dass es morgen mit mir vorbei sein kann. Ich kenne mein Risiko. Ich werde nicht eines natürlichen Todes sterben, das weiß ich. Früher oder später werden sie mich bezahlen lassen, aber ich weiß trotzdem, was ich tue … Ja, sie werden mich bezahlen lassen, da bin ich zu 99,99 Prozent sicher. Daher wage ich mich jetzt hier mit euch auch vollkommen aus der Deckung. Es ist besser, wenn alles gesagt ist. Heute lebe ich doch sowieso wie ein Gespenst. Mein einziger Identitätsnachweis ist der Vertrag, den ich mit den Justizbehörden geschlossen habe, die für das Zeugenschutzprogramm zuständig sind. Ein Vertrag, der mir meine Identität genommen, mich aber nicht von meiner kriminellen Vergangenheit befreit hat. Diese habe ich in insgesamt 29 Verhören der Staatsanwaltschaft in Mailand, Lecco und Reggio Calabria erzählt. Und ich bekomme im Moment 1200 Euro für dieses Leben ohne Namen und ohne Illusionen. Mir ist sonnenklar, wie mein Leben enden wird. Das weiß man, wenn man aus der ’Ndrangheta ausgestiegen ist. Aus der ’Ndrangheta tritt man nicht einfach aus. Seine Familie verlässt man nur, wenn man mit den Füßen nach vorne aus dem Haus getragen wird. Das haben sie ja auch geschworen: dass sie dich töten werden.“

Warum aber will er nun einmal über all das reden, was der Anwalt ihm zu verschweigen riet?

„Ich rede nur deshalb, weil meine Frau gestorben ist. Der Krebs hat Federica in nur sechs Monaten dahingerafft. Man hat mir nicht erlaubt, für sie eine bessere Behandlung zu organisieren. Die Richter haben mir nicht geholfen, sie in die Schweiz zu bringen, in eine Spezialklinik, wo man sie vielleicht hätte retten können. Die brauchen sechs Monate, nur um dir eine einfache Briefmarke zu genehmigen, von einer Ausreisegenehmigung ganz zu schweigen. Im Grunde war es die Bürokratie, die sie auf dem Gewissen hat. Und jetzt ist sie fort. Sie wollten noch nicht mal, dass Federicas Eltern zu uns nach Hause kommen, um sich von ihr zu verabschieden. Eine Frage der Sicherheit, hieß es da. Wir leben an einem geheimen Ort, und sie meinten, das dürfe niemand wissen. Aber wie konnte ich meiner Frau verweigern, sich von ihrer Mutter, ihrem Vater zu verabschieden? Nein, ich habe sie kommen lassen, damit sie sich noch einmal umarmen konnten. Aber das war noch nicht alles. Als Federica gestorben war, hat man mir sogar verboten, hinter ihrem Sarg herzugehen. Sie wurde auf dem alten Friedhof in Lecco beigesetzt. Die Leibwache hat mich hingebracht, und nach fünf Minuten musste ich wieder gehen. Ich habe nicht einmal die Beerdigung miterlebt. Es bestand Gefahr für meine Sicherheit. Ich musste mich an der Haustür von ihr verabschieden. Ich lebe unter falschem Namen. Ich bin niemand mehr.“

Pippo Di Bella hat seine Entscheidung, mit der Justiz zusammenzuarbeiten, nie bereut. Doch heute hasst er sich selbst dafür, dass er sein Leben weggeworfen hat, indem er die kriminellen Träume von Coco Trovato umsetzte, die Träume des Bosses, nicht seine eigenen. Denn diese Träume entwickelten sich schnell zu Albträumen: die Festnahme, die Falschaussagen seiner „Genossen“, sein Entschluss zur Aussage, das Leben auf der Flucht und nun der Tod seiner Frau.

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
12 kasım 2025
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321 s. 3 illüstrasyon
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9783711050991
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