Kitabı oku: «Metastasen», sayfa 4
Zu guter Letzt: die Rituale respektieren
Die letzte Regel hat mit den Ritualen der ’Ndrangheta zu tun. Die Organisation gewinnt ihren Zusammenhalt, weil sie sich auf traditionelle Hierarchien gründet, auf bestimmte Kodizes, aber auch auf uralte Riten und Gebräuche.
„Das wichtigste Ritual“, so Di Bella, „ist die Taufe. Damit wird man offiziell in die Familie aufgenommen. Das ist ein wirklich bedeutender Schritt. Der capobastone, der ‚Dienstälteste‘ der Familie, führt den Neuling ein. Dabei riskiert er viel, denn wenn er den falschen Mann zur Aufnahme vorschlägt, ist auch er ein toter Mann. Wenn er als ‚Vorarbeiter‘ der Gruppe einen Mann zur Aufnahme vorschlägt, der sich dann als Spion, als Polizist herausstellt, bringt man ihn ohne viel Federlesens um.“
„Wenn er seinen Mann taufen lässt, sagt der Dienstälteste damit, dass der Junge Mumm hat. Dabei ist die Taufe nur der letzte in einer ganzen Reihe von Schritten. Man muss sich diesen capobastone ein bisschen so vorstellen wie einen Fußballtrainer. Er ist in den Bars, in den Lokalen unterwegs, und wenn er jemanden findet, der es seiner Ansicht nach verdient hat, stellt er ihn auf die Probe. Besteht er die Prüfungen, die man ihm gibt, entscheidet man, dass er getauft wird. Da heißt es zum Beispiel: ‚Da oder dort ist ein Gestüt. Dort steht ein Pferd, das 20.000 Euro wert ist. Bring uns den Kopf.‘ Manchmal trägt man ihm auch einen Mord auf. Wenn er das dann tut, hat er – wie sie sagen – bewiesen, dass er was in der Hose hat, also Mumm besitzt.“
„Der Dienstälteste entscheidet dann zusammen mit dem Familienoberhaupt, ob der Junge getauft wird. Denn viele sind gar nicht Mitglied der Organisation. Von den 1500 Männern, die für Franco gearbeitet haben, sind vielleicht 500 getauft worden. Die anderen sind keine Mitglieder, aber stets bereit, es zu werden. Wenn man beschließt, den Mann zu taufen, wird er an einen ‚heiligen‘ Ort eingeladen. Dann gibt man ihm ein Bild. Das Ritual dient dazu, ihn seine Ursprünge, seine Familie, seine Eltern vergessen zu lassen. An dem Tag, an dem man sagt: ‚Ja, ich nehme an‘, hat man geschworen, die Regeln zu beachten. Wenn sie dir dann befehlen, deine Mutter umzubringen, musst du das tun. Einer der Sätze des Rituals lautet: ‚Möge mein Fleisch verbrennen, wie dieses Bild verbrennt.‘ Man hält dabei ein Heiligenbild in der Hand, meist von der Madonna oder von einer anderen Heiligen, und es muss ganz verbrennen, während man es in der Hand hält. Du darfst nicht einmal zucken, weil du sonst nichts taugst. So wird man zum Angehörigen der ’Ndrangheta. Dann musst du dich an den Kodex halten, vom Moment der Taufe bis zum Grab. Wenn ein ’Ndranghetista stirbt, muss er in der Erde beigesetzt werden. Er darf nicht verbrannt werden. Man muss zur Erde zurückkehren. Weil wir Erde sind und zur Erde zurückkehren. Weil wir Staub sind und zu Staub zurückkehren werden.“
Doch die ’Ndrangheta verlässt man auch als Toter nicht. Für die Angehörigen jedenfalls wird nach dem Ableben des Mitglieds entsprechend gesorgt, je nachdem, welchen Rang die Person einnahm. So geht die Zugehörigkeit zur ’Ndrangheta auf die Familie über, für deren Wohl gesorgt wird. Das ist eine Art Lebensversicherungspolice, welche die Bande zwischen den Mitgliedern noch stärkt.
„Im Jahr 2002“, berichtet Di Bella, „erhielt so ein junger Mann im unteren Rang 5000 bis 6000 Euro im Monat, ein Getaufter, der schon ein paar Jahre im Geschäft war, bekam 10.000 Euro. Und dann gibt es noch die eine oder andere Extrazahlung, denn wenn es etwas Wichtiges zu tun gab, brauchte man auch einen Extra-Anreiz. Der Dienstälteste bekam monatlich etwa 20.000 Euro, und all seine Familienmitglieder waren voll abgesichert. Wenn du zur ’Ndrangheta gehörst und in Ausübung deines Berufes dein Leben verlierst, wird die Familie automatisch versorgt.“
„Die Organisation verpflichtet sich schon beim Treueeid, die Familie zu unterhalten, falls etwas passiert. Zu Weihnachten beispielsweise besucht einer die Familien der Organisation und bittet um eine Spende für die Hinterbliebenen ehemaliger Mitglieder und für diejenigen, die im Gefängnis sind. Dann werden Alimente gezahlt, die Frau erhält Geld, die Kinder bekommen eine ordentliche Ausbildung … Das geht aber nur, wenn sie versprechen, danach für die Organisation zu arbeiten. Sagt die Witwe hingegen: ‚Nein, ich will keine Probleme mehr mit Verbrechen haben. Der ganze Ärger ist mir einfach zu viel‘, dann wird sie aus der Bindung entlassen. Sie und ihre Kinder haben der Organisation gegenüber keinerlei Verpflichtung mehr.“
Die strengen Regeln der Organisation wirken sich auch auf das Zusammenleben der Paare aus. Di Bella fährt fort: „Wenn einer heiratet, hat er nicht das Recht, seine Frau zu betrügen. Diese Regel nimmst du mit der Taufe an. Wenn sie erfahren, dass du dich nicht daran hältst, wirst du vorgeladen. Wenn die Frau sich gar an die Organisation wendet und ihr den Namen der Geliebten mitteilt, werden entsprechende Vorkehrungen getroffen. Da wird einer hingeschickt, der ihr sagt: ‚Für diesmal lassen wir es noch durchgehen. Du haust ab und Schluss. Wenn du deine Finger nicht von unserem Freund lassen kannst, bist du selbst schuld.‘“
„Doch die meisten betrügen ihre Frauen trotzdem. Auch Franco meinte immer, man könne seine Eier nicht alle in einen Korb legen … Er hat seine Frau nach Strich und Faden beschissen. (Ich weiß das. Ich habe seine Geliebten schließlich alle gekannt.) Aber er hat es immer gut versteckt. Oder seine Frau war einverstanden.“
„Mitunter üben die Frauen auch eine aktive Rolle in der Organisation aus. Wenn eine Schneid hat, kann sie schon mal eine Gruppe führen. Oder sich um die Prostituierten kümmern … In Francos Gruppe allerdings gab es keine Frauen in höheren Positionen, auch nicht, nachdem er verhaftet wurde. In den Neunzigerjahren haben sich die Frauen um die Kinder gekümmert, um ihre Familie. Die Ehefrau hat immer so getan, als wüsste sie von nichts. Aber natürlich war sie sich über alles im Klaren.“
„Meine Frau hat nie auch nur die kleinste Aufgabe für die Organisation übernommen. Sie wollte nicht. Und sie hätten zu ihr auch kein Vertrauen gehabt. Ich habe ihr die gefährlichsten Sachen erzählt, vom Coup meines Lebens allerdings habe ich ihr nichts gesagt. Und habe mich zu den Versaces aufgemacht.“
Sommer 1997. Die Aussage von Pippo Di Bella führt uns mitten in eines der dunkelsten Geheimnisse der jüngeren italienischen Geschichte. Bei dem, wie unser Kronzeuge meint, die ’Ndrangheta eine bedeutende Rolle spielt. Es geht um den Mord an dem Modeschöpfer Gianni Versace.
Versace lebt?
Der Coup seines Lebens
Im Dezember 1997 steht Pippo Di Bella vor dem Coup seines Lebens. Ein richtig dickes Ding. Das liegt zum einen an der Familie, die Gegenstand der Operation ist, zum anderen am Geld, das auf dem Spiel steht. Außerdem handelt es sich nicht um die üblichen ’Ndrangheta-Geschäfte. „Nachdem Versace im Sommer 1997 in Miami ermordet wurde“, erzählt Di Bella, „bekamen wir von der ’Ndrangheta den Auftrag, die Urne des Modeschöpfers zu stehlen. Wir erhielten 150 Millionen Lire als Anzahlung. Das Problem war nur, dass das Grab gesichert war: massive Ketten, Alarmanlage, Videoüberwachung und Wachposten. Aber in der Silvesternacht 1997 fuhren wir mit zwei Autos zum Friedhof. Wir waren zu fünft, alles Vertrauensmänner von Franco Coco Trovato. Ich war mit Agostino Rusconi unterwegs, der vor nichts und niemand Halt macht. Wenn jemand umgebracht werden muss, dann erledigt Agostino das, ohne mit der Wimper zu zucken. Im anderen Auto saßen Tonino Lo Cocco, der aus Corsico in der Mailänder Gegend kam, und zwei Brüder, die ich noch nie gesehen hatte. Lo Cocco hatte in einem Koffer Vorschlaghammer und Schlägel mitgebracht.“
Der Friedhof von Moltrasio ist ein relativ abgelegener Ort. Er befindet sich auf einer Anhöhe am Comer See und wirkt wie eine Weihnachtskrippe. Man kommt auf einem schmalen Weg dorthin, der sich hinter den ersten Häusern der Gemeinde vorüberschlängelt. Der Friedhof selbst ist nicht besonders groß. Um den Weg in Kreuzform liegen 30 Grabreihen. Als der Trupp dort ankam, blieb einer der Brüder als Wachposten am Eingangstor zurück. Die anderen vier ziehen die Halstücher übers Gesicht und marschieren über den Weg auf das Grab zu, immer auf der Hut vor etwaigen Infrarotstrahlen oder den Kameras der Videoüberwachung.
„Um die Asche Versaces hatte es schon einigen Aufruhr gegeben“, fährt Di Bella fort. „Erst vor ein paar Monaten, im August, hatte man einen Kerl aufgegriffen, der die Absperrkette um die Kapelle aufgebrochen hatte und die Urne stehlen wollte. In der Folge hatte die Familie Versace Vorkehrungen getroffen. Das Grab wurde Tag und Nacht überwacht. Ich hatte schließlich zwischen Weihnachten und Neujahr den Ort inspiziert, nachdem ich den Auftrag angenommen hatte. Ich ging hin, um die Wege abzumessen und die Zeit zu kalkulieren, die wir in etwa brauchen würden. Und ich wollte wissen, wer zu welcher Zeit den Friedhof besuchte.“
Am letzten Abend des Jahres 1997, kurz nach Mitternacht, befindet sich dort keine Menschenseele. Doch die vier Einbrecher fürchten, von einem der Überwachungssysteme erfasst zu werden. Wenn sie das Tor zur Kapelle aufbrechen, stehen innerhalb von fünf Minuten die Carabinieri mit ihren M12-Maschinenpistolen da. Doch sogar wenn der Einbruch gelingen würde, wüsste am nächsten Tag die ganze Welt Bescheid: Die Polizei würde nach Fingerabdrücken suchen und Straßensperren aufstellen. Eine Katastrophe.
Doch die „Familie“ der ’Ndrangheta will keine Aufmerksamkeit, kein Blut, kein Geschrei. Denn im Norden, vom Piemont zum Veneto, aber auch in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden bewegt die ’Ndrangheta sich lautlos, ohne die Gemüter zu erregen. Dort dringt sie seit Jahrzehnten, seitdem die Bosse der kalabresischen Mafia in den Norden ausgewandert sind, immer weiter und weiter ins gesunde Gewebe der Gesellschaft vor. Zuerst werden kleine Geschäfte gekauft, dann Rechtsanwälte, Betriebswirte, schließlich Politiker, Unternehmen, ganze Industriezweige. Alles schön gemächlich, Schritt für Schritt.
Aber um die Asche Versaces zu stehlen, braucht es Fingerspitzengefühl, so als wolle man einen Tresor knacken, ohne Spuren zu hinterlassen. Denn am Neujahrstag kommen vielleicht die Geschwister Donatella und Santo, die Nichte Allegra, um den Verstorbenen zu beweinen. Und natürlich dürfen sie nicht merken, dass die Asche verschwunden ist.
„Dummerweise sah man die Hand vor Augen nicht“, erzählt Di Bella weiter. „Der Himmel war schwarz und voller Wolken. Und Agostino machte mit seinen Militärstiefeln einen Heidenlärm auf dem Kies. Ich sagte ihm, er solle leiser gehen, aber er wollte nicht hören, sondern meinte, ich solle mich zum Teufel scheren. Schließlich hatten wir keine Erfahrung mit so etwas. Wer geht schon auf einen Friedhof? Gewöhnlich waren wir nicht einmal bei der Beerdigung unserer eigenen Leute, damit die Antimafia-Leute uns nicht fotografierten. So eine Arbeit hatten wir noch nie gemacht.“
Bei der ’Ndrangheta sind die Aufgabengebiete gewöhnlich streng getrennt. Wer sich um das Geld kümmert, fasst keine Waffe an. Wer mit Kokain handelt, überlässt anderen die Entführungen und so weiter. „Die Asche eines Toten vom Friedhof zu stehlen, noch dazu eines so wichtigen Toten, nein, das hatten wir wirklich noch nie gemacht“, fährt Di Bella fort. „Außerdem bin ich katholisch: Ich habe ja nichts gegen einen Diebstahl, aber das war doch ein bisschen hart. Die Toten lässt man normalerweise in Ruhe. Asche, Leichen, das sollte man in Frieden lassen, finde ich.“
„Zum Glück waren noch andere mit von der Partie. Zum Beispiel Agostino. Wenn der so etwas organisiert, dann rennt man da am Tag rein, mit Pumpguns, und holt das Ding raus, als wäre man im Wilden Westen. Dem ist es gleichgültig, was die Leute denken. Der fackelt nicht lange. Er macht einfach. Dem ist das Leben der Leute egal, die nicht zur Organisation gehören. Und das ist immer gut. Wer mit Agostino arbeitete, hatte quasi eine Leibwache. Dem konnte man wirklich vertrauen. Der ließ dich nicht in der Scheiße hocken, wenn du in Schwierigkeiten warst. Wenn man in der Welt des Verbrechens lebt, gibt es immer Schwierigkeiten mit der einen oder anderen Familie. Wenn du dann einen neben dir hast, der sich vor Angst halb in die Hosen macht, bist du am Arsch. Hast du aber Agostino dabei, musst du dir keine Sorgen machen. Der lässt sich lieber selbst erschießen, als dich im Stich zu lassen. Das meine ich mit ‚Der macht einfach‘. Er hat keine Angst.“
Die Kapelle der Familie Coccini ist ein stilvoller Bau. Eindrucksvoll erhebt sie sich über einer kleinen Treppe. Die vier steigen langsam hinauf. Das Gitter davor wird von zwei Marmorsäulen gehalten. Etwa ein halbes Dutzend Grabplatten sind mit Schrauben an der gegenüberliegenden Wand befestigt. Dazwischen Blumen und Lichter. Die einzige Wand des Gebäudes, die sich vermutlich durchbrechen lässt, liegt linkerhand. Dort gibt es einen Gang, in dessen Wände mehrere Grabstellen eingelassen sind. Es ist dunkel, eine Taschenlampe flammt auf. Agostino fängt an zu fluchen, dann beruhigt er sich. Eine Hälfte von ihm ist Maurer und befühlt die Wand, um herauszufinden, wo er am besten durchkommt. Er wird zwei Gräber ausräumen müssen, dann die Trennwand durchbrechen, die aber höchstens zwei Finger dick ist. Schließlich werden sie einen mehrere Meter langen Tunnel graben müssen, um von hinten in die Kapelle zu gelangen. So bleibt das Gitter intakt. Agostino will sofort loslegen. Er ist ein ungeduldiger Typ. „Los, her mit dem Hammer. Wir schnappen uns die Urne und überbringen sie gleich, dann kriegen wir das Geld.“
„Ich bin eher von der vorsichtigen Sorte“, berichtet Di Bella. „Immer schon gewesen. Sogar heute noch, nachdem ich mehr als dreißig Jahre lang im Clan von Coco Trovato und gut zehn Jahre als Kronzeuge mit verdeckter Identität gelebt habe. Vielleicht gerade deshalb. Ich habe zum Beispiel nie Koks genommen. Agostino hingegen schnupfte. Das ist der Unterschied zwischen mir und vielen von Francos Männern: Agostino hatte nichts im Hirn, er war einfach nur Handlanger. Du hast zu ihm gesagt: ‚Den musst du umlegen!‘, und er hat es oft noch am selben Tag erledigt. Es war ihm völlig egal. Wenn mir jemand sagt: ‚Den oder jenen musst du töten!‘, dann sage ich erst mal: ‚Nein, danke.‘ Wenn wirklich jemand getötet werden musste, habe ich solche Aufträge immer weitergegeben. Ich wollte mir die Hände nicht schmutzig machen. Das war der Unterschied zwischen mir und Agostino. Daher sagte ich ihm, er solle Ruhe geben. Zuerst vermaßen wir mal die Wände. Das war ohnehin eine Sache, die für unliebsame Aufmerksamkeit sorgen konnte. Dann prüften wir noch, ob es andere Möglichkeiten gab, in die Kapelle zu gelangen, fanden aber keine. Wir mussten die Särge rausräumen und diese Wand durchbrechen.“
Die Milliarden-Asche
Die Asche von Gianni Versace war vor etwa fünf Monaten nach Moltrasio gekommen. Am 18. Juli 1997 wurde sie mit einem Privatflugzeug aus den USA eingeflogen, 72 Stunden nach dem Mord. Der Modedesigner war von zwei Schüssen in den Hinterkopf getötet worden. Dann war er auf den Stufen seiner Villa am 1116 Ocean Drive in Miami Beach zusammengebrochen. Die Villa ist übrigens heute ein Luxushotel, Zimmer für 4000 Dollar pro Nacht.
Santo und Donatella Versace hatten die Asche im Hubschrauber von Bergamo nach Moltrasio gebracht. Dann hatte Don Bartolomeo Franzi schnell eine Messe zelebriert, und die Urne war in der mit einhundert weißen Rosen geschmückten Kapelle der Familie Coccini beigesetzt worden. Emma Coccini hatte den Versaces dieses Angebot gemacht. 1923 geboren, war sie eine Dame vom alten Schlag. Nachdem 1989 ihr Mann gestorben war, widmete sie sich ganz dem Dienst an ihren Mitmenschen. Und so hatte sie gleich nach dem Mord den Bürgermeister des Dorfes angesprochen, in dem Gianni Versace seinen Sommersitz hatte, um der Familie anzubieten, die Asche des Designers in ihrer Kapelle beisetzen zu lassen. „Ich hatte gelesen“, erzählte sie den Journalisten vom Corriere della Sera, „dass der Bürgermeister sich nicht in der Lage sehe, die Asche von Gianni Versace auf dem Friedhof von Moltrasio beisetzen zu lassen. Also habe ich ihn angerufen, um ihm zu sagen, dass man Versace in der Kapelle unserer Familie bestatten könne.“ Was dann auch geschah. Ein geschützter Ort, nicht einmal einen Kilometer von der Villa Fontanelle entfernt, in der die Versaces am Comer See leben. Dorthin zog Gianni Versace sich zurück, wenn er über seine neue Kollektion nachdenken wollte, dort empfing er enge Freunde wie Elton John und Naomi Campbell. Natürlich war dies nur als vorübergehende Lösung gedacht, bis die Versaces die Erlaubnis erhalten würden, ein Grabmal im Park des wunderschönen Anwesens zu errichten.
Doch der Ärger ließ nicht auf sich warten. Zunächst einmal riss der Besucherstrom am Grab nicht ab. Touristen und Paparazzi stürmten den kleinen Friedhof. Von den Geiern einmal völlig abgesehen. Der Friedhof des ruhigen Dorfes wird zum Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Gianni Versace ist einer der berühmtesten Modeschöpfer der Welt. Und er ist auf tragische Weise durch die Hand eines Serienmörders gestorben. Am helllichten Tag. Als wolle man eine Rechnung begleichen.
Die Neugier schlägt bald in ein morbides Interesse um. Und es kommt immer wieder zu merkwürdigen Zwischenfällen auf dem Friedhof. Zum ersten Mal Anfang August. Am 9. August, drei Wochen nach der Beerdigung, wird die mit einem Vorhängeschloss gesicherte Kette vor der Gittertür der Kapelle gesprengt. Alarm wird ausgelöst und nicht deaktiviert. Die Eindringlinge nehmen nichts mit. Sie fliehen, vermutlich, weil sie vom Alarm überrascht wurden. Die Familie Versace verstärkt die Wachmannschaft. Durch einen merkwürdigen Zufall wird mit der Überwachung ein Unternehmen beauftragt, in dem Giuseppe Di Bella von 1980 bis 1986 gearbeitet hat: ILVI. Dort hat er etwa eine Million alter Lire monatlich verdient, umgerechnet nicht einmal ganz 500 Euro, Nacht- und Gefahrenzulage eingeschlossen. Dieser Job dient ihm als Deckmantel, damit niemand merkt, dass er für die ’Ndrangheta arbeitet.
Doch auch die neuen Sicherungssysteme reichen nicht aus. Eine Woche später, am Samstag, den 16. August, kommt es zu einem weiteren Zwischenfall. Jemand nutzt die Pause, in der die Wachmannschaft der privaten Sicherheitsfirma abgelöst wird, aus, um eine Holzschachtel durch das Gitter in die Kapelle zu werfen. Sie hat zwei Löcher, als sei sie von zwei Kugeln durchschlagen worden. Darin findet sich eine in Stücke geschnittene Krawatte. Gianfranco Paesano, 48, aus dem Friaul stammend, jetzt aber in Rumänien lebend, erzählt dem ermittelnden Staatsanwalt Vittorio Nessi aus Como eine unglaubliche Geschichte. Er behauptet, von zwei Albanern zu der Tat gezwungen worden zu sein. Diese hätten die Familie Versace um eine Million Schweizer Franken erpressen wollen. 2001 wird Paesano wegen Grabschändung und versuchtem Diebstahl der Asche zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Staatsanwalt Nessi fasst zusammen: „Leider ist es uns nicht gelungen, diese Geschichte vollkommen aufzuklären. Wir haben nie herausgefunden, ob Paesano einfach ein chronischer Lügner ist oder ob sich hinter dem Versuch, die Asche Gianni Versaces zu stehlen, tatsächlich mehr verbarg.“ Doch das Schlimmste sollte noch kommen.
Di Bella erzählt weiter von jener Nacht auf dem Friedhof. „Wir haben uns so langsam wie möglich bewegt. Ich nehme mich vor Alarm- und Videoüberwachungsanlagen höllisch in Acht. Denn wenn man uns erkennt, wenn die Polizei auch nur einen von uns identifiziert, ist der Teufel los. Und trotzdem sehen wir plötzlich einen Wachmann. Ich weiß nicht, ob er einfach nur einen Kontrollgang macht oder ob er wegen der Geschichte mit der Asche im Sommer vorsichtig ist. Aber er geht dauernd vor dem Grab auf und ab. Fast hätte er uns entdeckt. Doch wir versteckten uns in einem kleinen Gang zwischen der Friedhofsmauer und der Wand eines anderen Grabmals. Der Wachmann mit der Taschenlampe geht weiter. Das ist noch mal gut gegangen. Ein echter Glücksfall, aber jetzt wird es Zeit zu verschwinden. Wir müssen den Zeitplan der Wachen besser studieren. Oder den Wachmann während seines nächtlichen Rundgangs beschatten, damit wir hinter seine Route kommen. Aber für dieses Mal lassen wir es gut sein. Wir kehren nach Hause zurück, wo Frau und Kinder auf uns warten, um mit uns Silvester zu feiern. Um drei Uhr morgens sind wir daheim. Meine Frau hat eine Flasche Spumante mitgebracht, und so stoßen wir an und feiern.“
„Den Auftrag hatte ich ein paar Wochen vorher von Alpha [Codename eines Beteiligten, der unter Umständen Gegenstand neuer Ermittlungen wird, Anm. d. Autors] bekommen. Der Sohn dieses Mannes ist in der Modebranche, er selbst arbeitet für Franco. Offiziell ist er Geschäftsmann. Er kauft Wein, Lebensmittel und so weiter. In Wirklichkeit aber ist er der Geldverleiher der ’Ndrangheta-Familie. Er lebt zwischen Caslino d’Erba und Canzo in einer prachtvollen Villa. Er kennt sich aus. Er weiß, wie er seine Leute aussuchen muss. Wir kennen uns seit 20 Jahren. Der Staatsanwaltschaft habe ich nie von ihm erzählt, weil ich Angst hatte: Er ist frei, mächtig und kennt viele Leute zwischen Mailand, Lecco und Como. Ich habe für ihn verschiedene kleinere Jobs erledigt, habe Geld eingetrieben bei Leuten, die Schulden bei ihm hatten und dann nicht zahlen konnten.“
„Eines Abends lässt er mich rufen. Ich suche ihn auf, und er sagt zu mir: ‚Willst du dir ein bisschen Geld verdienen?‘ – ‚Womit?‘, frage ich zurück. ‚Ich hätte da einen besonderen Auftrag zu erledigen. Jemand muss die Asche Versaces entwenden.‘ – ‚Und was soll ich damit anfangen?‘ Hätte Coco Trovato mir den Auftrag gegeben, hätte ich natürlich niemals nachgehakt, aber mit Alpha lagen die Dinge anders. Außerdem lassen mir – wie schon gesagt – Friedhöfe, Gräber und Schwarze Messen die Haare zu Berge stehen. Es gefällt mir nicht, wenn ich auf einem Friedhof die Asche von Toten stehlen soll. Diese Art von Arbeit ist nicht normal. Außerdem widerspricht sie meinem Glauben. Aber er bot mir eine Riesensumme an. Eine Milliarde alter Lire. Also ließ ich mir die Sache durch den Kopf gehen, dachte darüber nach, welche alten Bekannten mir eventuell helfen könnten. Aber so ganz klar war mir das Ganze nicht. ‚Was willst du denn mit der Asche?‘, fragte ich. ‚Red mal Klartext, in Ordnung? Wenn mir hinterher was zu Ohren kommt, was nicht in Ordnung ist, dann unterhalte ich mich noch mal mit dir.‘ Ich hatte mit ihm schon das ein oder andere Problem gehabt. Einmal hätte ich ihm fast das Fell gegerbt. Ich wollte nicht, dass er mir irgendeinen Mist erzählte. Also senkte er die Stimme, setzte sich aufs Sofa und sagte zu mir: ‚Der Tod Versaces war inszeniert. Als man den Mord in Miami plante, hielt er sich in Wirklichkeit in Zürich auf und nicht in den USA. Jetzt müssen wir die Asche verschwinden lassen, weil man sonst die DNS kontrollieren kann.‘ Ich weiß nicht, was zu jener Zeit passiert ist, aber jedenfalls hatten sie Angst, dass irgendwelche Kontrollen kommen könnten. Mir kam das alles höchst fantastisch vor, aber wenn sie mir solch ein Ding befahlen, musste etwas Wichtiges dahinterstecken.“
„Ich weiß nicht, ob das tatsächlich stimmt oder nicht. Die Amerikaner meinen ja, es sei ein Mord gewesen und man hätte den Mörder erwischt. Aber damals habe ich Alpha jedenfalls geglaubt. Schließlich bot er mir unglaublich viel Geld an. Der gibt mir doch nicht eine Milliarde, wenn die Geschichte nicht stimmt. Aber natürlich wollte ich ihn auf die Probe stellen. ‚Gut, aber ich brauche mehr Leute dazu‘, sagte ich. ‚Da brauche ich sofort einen Vorschuss.‘ Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er redet ohnehin nicht viel, und zu jener Zeit hatte er immer gut und gerne 200 bis 300 Millionen Lire in bar zu Hause. Schließlich war er Geldverleiher. Also marschierten wir in den Salon, er öffnete den Safe und gab mir 150 Millionen Lire. Mehr musste ich gar nicht wissen. Mir war sofort klar, dass Franco den Job in Auftrag gegeben hatte. Der war zwar mal im Gefängnis, mal wieder draußen, doch die Familie befehligte immer noch er. Alpha verlor auch nicht viele Worte. Er fing erst gar nicht an mit dem Käse von wegen ‚Sag bloß niemandem etwas!‘. Er wusste, dass ich diese Angelegenheit als Auftrag von Franco behandeln würde. Vermutlich war ihm auch klar, dass ich Agostino bitten würde, mir zu helfen, denn wir erledigten oft zusammen das ein oder andere. Und so akzeptierte ich. Ich verlasse sein Haus, gehe direkt zu Agostino, treffe mich mit Lo Cocco. Aber ich lasse kein Wort über das Ziel der Operation verlauten. Hätte ich Agostino erzählt, dass Alpha glaubte, Versace sei noch am Leben, hätte der mir bloß Chaos angerichtet.“
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