Kitabı oku: «Metastasen», sayfa 3
Im Clan von Coco Trovato
Wenn Di Bella von seiner Weihe erzählt, hört sich das an wie ein Filmdrehbuch. „Letztlich aber bin ich an der ganzen Misere selbst schuld. Als ich noch jung war, wollte ich einfach nicht auf meinen Vater hören, der ein durch und durch ehrlicher Mann war. Ich habe Franco getroffen, Franco Coco Trovato, jenen Mann, der die ’Ndrangheta in den Norden Italiens gebracht hat. Ich lernte ihn im Oratorium von Maggianico kennen, gar nicht weit von Lecco entfernt. Da war ich 15, vielleicht auch schon 16 Jahre alt. Er war gerade von Marcedusa hierher gezogen. Das liegt bei Catanzaro. Und er benahm sich schon ganz wie einer, der das Sagen hat. Mit den Jahren tauschte er den Fußball und später seine Arbeit als Maurer gegen das Vergnügen, andere über den Tisch zu ziehen. Ob es nun seine Kokain-Mulis waren, die Ermordeten, in den Achtziger- und Neunzigerjahren die Armee oder in den letzten Jahren seine Erben. Man sah ihm schon als Junge an, wie er gestrickt war. Er hatte ein durch und durch kriminelles Wesen. Mir fiel sofort auf, wie gut er andere einschüchtern konnte und wie selbstverständlich er Befehle erteilte.“
„Und doch löste ich mich für eine Zeit von Coco Trovato, weil mein Vater dagegen war: Er wusste, was das für ein Typ war, und das gefiel ihm nicht. Aber Franco und ich waren nun mal Freunde und so fingen wir bald wieder an, gemeinsam etwas zu unternehmen. Zu ,arbeiten‘, aber auf unsere Art. Das ging mit den Motorrädern los. Franco war ziemlich schlau, also suchte er die Opfer aus. Er beobachtete sie von der Bar aus und wählte den ungeschicktesten Gleichaltrigen aus. In einer Sekunde war er draußen, zog ihn vom Sattel herunter, schnappte sich das Motorrad und zischte: ‚Halt bloß das Maul, kapiert? Was willst du? Zur Polizei gehen? Bist du dir da sicher?‘“
Diese anfangs noch ungeschickten Drohungen eines Jugendlichen wurden mit der Zeit immer geschickter. Tag um Tag schlossen sich ihm neue Leute an, bis sich allmählich eine Organisation gebildet hatte, die ihre kriminellen Aktivitäten ausweiten konnte.
„Wir sind einfach so aufgewachsen. Die Autos, die Erpressung, da und dort ein bisschen Drogenhandel, dann die Raubüberfälle. Unser Radius vergrößerte sich allmählich, bis er auch Olginate erfasste, Lecco, die Brianza-Region. Wo er seinen Fuß hinsetzte, war sein Territorium. Er riss alles an sich und ließ niemand anderen neben sich zu.“
Als er etwa 19 Jahre alt ist, hat Franco Coco sich eine Bande aufgebaut. In den nächsten 20 Jahren wird die Zahl seiner „Gevattern“ und Spießgesellen auf circa 1400 bis 1500 Personen anwachsen. „Etwa ein Drittel davon habe ich persönlich gekannt“, erzählt Di Bella. „Wenn jemand nicht spuren wollte, gab es sofort Druck. Zuerst eine Warnung, dann massive Einschüchterung, schließlich Mord. Francos Charakter sicherte ihm eine Menge Zulauf in seiner Familie. Anfangs gehörte er zum Fußvolk, aber wir wussten alle, dass er das Zeug hatte, bald zur Santa aufzusteigen. Er war ein echter Boss. Mitte der Achtzigerjahre hatte er in ganz Lecco das Sagen.“
Die Wende für Coco Trovatos Organisation kommt im Sommer 1976. Wir befinden uns in Lecco, im „Vereinslokal“ der Kommunisten mit dem hübschen Namen „Kleiner Schmetterling“. Man feiert die jährliche Festa dell’Unità der damaligen Kommunistischen Partei Italiens. Der organisierte Arbeiter Pier Antonio Castelnuovo ist 22 Jahre alt. Sein Bruder ist der bekannte Schauspieler Nino Castelnuovo. Pier Antonio rügt an diesem Tag eine Gruppe von jungen Männern, weil sie zu viel Krach machen. In der Zeitung heißt es später, es sei zu einer „angeregten Diskussion“ gekommen, die schließlich „in Streit ausartete“. Was wirklich geschah: Castelnuovo hatte sich unwissentlich mit ein paar ganz harten Jungs aus Coco Trovatos Bande angelegt. Sie verlangen von jedermann Respekt, wollen sie doch klarmachen, dass sie hier die Bosse sind. Wir sind hier nicht in der Ebene von Gioia Tauro oder in den Vororten von Reggio Calabria, wo bekanntermaßen die ’Ndrangheta herrscht. In Lecco ist man an solches Verhalten zu jener Zeit noch nicht gewöhnt. Und so wird Castelnuovo umgebracht. Angelo Musolino aber, der ihn erschlug, wird freigesprochen. Er war damals erst 16 Jahre alt und eine glanzvolle Mafiakarriere lag vor ihm. Einen Mann getötet zu haben, weil der ihn getadelt hatte, wird ihm für immer den Respekt seiner Kameraden sichern. Das macht sich gut im kriminellen Lebenslauf. Und so zollt der junge Boss Coco Trovato der Gruppe gleich die höchste Anerkennung: Er lässt fast alle „taufen“. Sie dürfen sich dem Weiheritus der ’Ndrangheta unterziehen.
„Diese Kids“, erzählt Di Bella, „stürzten sich auf Castelnuovo mit einer unglaublichen Wut: ‚Welches Recht hast du, uns hier herumzukommandieren?‘ Und er: ‚Verpisst euch!‘ Da malträtierten sie ihn mit Faustschlägen und Fußtritten, bis er leblos dalag. Niemand schritt ein. Am Ende ging jemand dazwischen, aber da war es schon zu spät. Castelnuovo hat mit dem Leben bezahlt. Mit diesem Vorfall bewiesen die jungen Leute Coco Trovato, der damals noch nicht der große Boss, sondern erst Franco Coco war, zu welcher Grausamkeit sie fähig waren. Bald darauf haben sie für ihn gearbeitet. Das war gleichsam ihre Mutprobe.“
Das ist es, was ein ’Ndrangheta-Mitglied antreibt: Es will sich anderen überlegen fühlen. Es will nicht nur mehr Geld, als es im Normalfall verdienen würde, es will auch die mit Verehrung durchmischte Angst, die ihm sonst niemand entgegenbringen würde, in den Augen der anderen sehen. Erst dann glaubt es sich unbesiegbar.
„Ein Getaufter“, erzählt Di Bella, „fühlt sich anderen gegenüber wie ein Gott. Er ist ein Gott. Ganz egal, wie er aussieht oder wie er gebaut ist. Auch wenn er klein und schmächtig ist: Von diesem Tag an fühlt er sich wie Gott. Und wenn er in eine Auseinandersetzung gerät, wird er alles tun, um seiner Organisation zu beweisen, dass er der bessere Mann ist. Ein Getaufter betrachtet andere nicht mehr als Mitgeschöpfe mit einem Herzen, einem Leben, Wünschen und Gefühlen. Wir von der ’Ndrangheta sehen die anderen nicht als Menschen an. Wir sehen über sie hinweg, halten sie durchweg für Weicheier, Trottel, Menschen ohne Mumm in den Knochen, die sich mit 1000 Euro im Monat durchschlagen, ohne Würde, ohne Spaß zu haben.“
Ein perverses Wertesystem, in dem es um Macht und Überlegenheit geht. Die allgemein verbreitete Vorstellung, dass es ein Privileg ist, zur ’Ndrangheta zu gehören, dass der Clan die eigentliche Familie ist und nur aus Eliteangehörigen besteht.
„Im Süden stehen vor den Toren der Bosse ganze Menschentrauben, die hoffen, auf die Probe gestellt zu werden, um in die Familie Eingang zu finden. Aber auch im Norden gibt es immer mehr Menschen, die dazugehören wollen. Ich bin in die Organisation mehr oder weniger hineingeraten, aber ich habe nie aufgehört, meinen Kopf zu benutzen. Was innerhalb der ’Ndrangheta aber nur eines heißt: Man denkt wie die Bosse, versucht zu erraten, was sie tun werden, versucht herauszufinden, wo ein gutes Geschäft drin ist, wo hingegen der Tod lauert. Ich hatte immer Angst, das schon. Ich hatte Angst vor den Leuten, die um mich herum waren. Ein Mitglied der ’Ndrangheta oder der Camorra um mich zu haben, macht mich nervös. Ich sehe mich dauernd um, weil man nie weiß, was die als Nächstes anstellen werden. Man weiß nicht, welche Befehle sie erhalten haben oder wie sie denken, vor allem wenn sie zum aktiven Kern gehören. Mit denen ist das, als hätte man den Teufel hinter sich. Die murksen dich ab, wenn es sein muss. Mit solchen Leuten kann man sich nicht entspannen. So ganz ruhig ist man nie, auch wenn sie eigentlich zum eigenen Clan gehören.“
Natürlich musste auch Pippo Di Bella seine Mutprobe ablegen, um in den kriminellen Zirkel aufgenommen zu werden. Er muss eine Mission, die man ihm aufträgt, erfolgreich zu Ende führen. „Meine Probe war es, das Geld der Familie zu kassieren. Mit 18 Jahren habe ich angefangen, Geld einzutreiben, die Leute zu schlagen, die nicht bezahlten, oder ihre Autos und Lagerhallen anzuzünden. Sie gehörten Leuten, die Franco kein Schutzgeld bezahlen wollten. Wenn sie nicht bezahlten, zündeten wir den Laden beziehungsweise das Auto an oder wir griffen zu härteren Mitteln: Wir schlugen sie krankenhausreif oder schüchterten die Familie ein. Nicht in Kalabrien, sondern in der Lombardei. Und alle taten so, als hätten sie nichts gesehen. Wir hatten unsere Ruhe, denn in der Zeitung erschien höchstens eine Kurznachricht, und auch die wurde gleich wieder vergessen. Wer hingegen das Schutzgeld bezahlte, konnte sich in Sicherheit wiegen. Wurde diese Person ausgeraubt, kam sie einfach zu uns und in 99 Prozent der Fälle fanden wir heraus, wer dahintersteckte, und brachten unserem ‚Schutzbefohlenen‘ das Geld zurück. Franco hatte Verbindungen zu den Zigeunern, den Schaustellern, den Hehlern, zu allen, auch zur korrupten Polizei und zu den ebenso korrupten Carabinieri. Die schnappten sich die Räuber nicht einmal, wenn sie wussten, wer es gewesen war. Sie marschierten vielmehr zu Franco und berichteten ihm: ,Sieh mal, Franco, die stecken hinter dem Raubüberfall. Wir haben sie laufen lassen. Ihr wisst ja, wo ihr sie findet.‘ Die Polizei sperrte die Straftäter nicht ein, weil sonst unser Kunde vielleicht nicht das ganze Geld zurückbekam. So funktioniert das Schutzgeld. Das geht nur, weil die Polizei korrupt ist und von der ’Ndrangheta bezahlt wird.“
Aber neben der Schutzgelderpressung gibt es natürlich auch schmutzigere „Arbeiten“. Manchmal steckt hinter der Brandstiftung an einem Luxuswagen, einer Lagerhalle oder einer Garage auch etwas anderes als die klassische Schutzgeldpraxis. „Natürlich wandten wir solche Einschüchterungsmaßnahmen auch an, wenn Franco sich für irgendwelche Sachen interessierte oder wenn er sie einem Freund versprochen hatte. Man wollte ihm diese Lagerhalle nicht vermieten? Dann ließ er sie abfackeln, aber so gründlich, dass er sie später für ein paar Lire bekam und das Unternehmen gleichsam davon befreite. Wenn Franco oder einer seiner Freunde sich für eine Immobilie, ein Grundstück interessierte, wurden wir aktiv. Wenn ein Freund zu ihm sagte: ‚Das Haus dort interessiert mich‘, versicherte Franco ihm gleich: ‚Kein Problem. Das regle ich schon so, dass du es für wenig Geld bekommst.‘ Wenn ein Lokal ihn interessierte und er wusste, dass es – sagen wir mal – einen Umsatz von 10.000 machte, verlangte er 50.000 Schutzgeld. Das konnte der Besitzer natürlich nicht bezahlen. Er musste verkaufen und Franco übernahm das Lokal dann zu einem Spottpreis.“
„Einen Buchhalter aus Valmadrera brachten wir zu den drei Brücken von Lecco am Comer See. Wir wählten die Eisenbahnbrücke und tauchten ihn mit dem Kopf nach unten ins Wasser. Er sollte uns ein paar Mietshäuser verkaufen, die ihm gehörten, aber er hatte dabei einen Fehler begangen, und unser Auftrag lautete, ihm ein wenig Angst einzujagen. Wir brachten ihn also auf die Brücke, banden ein Seil um seine Beine, dann ließen wir ihn hinab und tauchten ihn immer wieder unter, bis er endlich schrie: ‚Ja, ja, ich verkaufe ja! Ich gebe euch alles, was ihr wollt!‘ Dann haben wir ihn in Unterhosen stehen lassen. Er war arm geworden. Wir hatten ihn regelrecht ruiniert. Aber er hatte keine andere Wahl: Entweder nachgeben oder sterben. Das ist eine der Geschichten, die mich erschüttert haben und auf die ich später noch zurückkommen möchte.“
Di Bella ist kein Blutsverwandter eines ’Ndrangheta-Mitglieds, daher muss er seine Tätigkeit für die Organisation vor den Augen der Freunde und der Eltern verbergen. Er muss lernen, sich unsichtbar zu machen, eine Kunst, die jeder Mafioso beherrschen muss: „Damals hatte ich auch eine ‚offizielle‘ Arbeit. Wenn ich für die Organisation unterwegs war, nahm ich mir halt mal zwei Wochen frei. Aber ich musste arbeiten gehen, zumindest so lange mein Vater lebte. Danach habe ich dann ein eigenes Lokal eröffnet. Vorher aber habe ich sechs Jahre lang nachts als Schwarzer Sheriff gearbeitet. So habe ich auch immer herausgefunden, ob eine Bank oder eine Poststelle gerade viel Geld aufbewahrte oder ob diese oder jene Firma einen Safe hatte … Und dann sagte ich meinen Leuten Bescheid: ‚Kinder, da steht ein Riesensafe, das könnte sich lohnen.‘“
„Damals standen wir noch ganz am Anfang. Wir waren entsprechend ungeschickt. Ich habe das dem Staatsanwalt nicht gesagt, aber der Überfall auf das Nationale Sozialversicherungsinstitut in Mailand im Jahr 1986 geht auf das Konto der im Entstehen begriffenen ’Ndrangheta des Nordens. Damals wurde ja alles noch in bar bezahlt. Es ging auf Weihnachten zu, und ich machte unserer Organisation das Sozialversicherungsinstitut schmackhaft, indem ich sie darauf hinwies, wie viel Geld dort bisweilen aufbewahrt wurde. Eines Morgens vor Dienstantritt hatte ich zufällig mit angehört, dass in der Geschäftsstelle in der Via Melchiorre Gioia in Mailand ein äußerst wichtiger, geheimer Transport ankommen sollte. Dieser müsse am selbigen Abend in Empfang genommen werden, weil am nächsten Tag Zahlungen zu leisten seien. Ich, nicht faul, rufe sofort einen Mann an, der eng mit Franco Coco zusammenarbeitet, und gebe ihm den Tipp. ‚Aber ich kann heute Nacht nicht dorthin‘, antwortet er. ‚Ich schicke drei Freunde.‘ Mir ist das egal. Ich habe mit dem Anruf meine Pflicht erfüllt. Doch die drei Freunde sind Dummköpfe. Sie dringen in die Büros der Versicherung ein, finden den Safe, können ihn aber nicht öffnen. Also laden sie ihn ins Auto … einen alten Fiat, der unter dem Gewicht fast zusammenbricht. Der Kofferraum bleibt offen stehen, und als sie beim Wegfahren einem Nachtwächter auf dem Fahrrad begegnen, bekommen sie Angst und hauen ab. Zwei Tage später kaufe ich eine Tageszeitung. Der Aufmacher auf der ersten Seite: der Überfall auf das Sozialversicherungsinstitut. Im Safe befanden sich 300 Millionen Lire, eine immense Summe, und diese Idioten lassen sich das entgehen.“
Die Gesetze der Familie
Die erste und wichtigste Regel für den inneren Aufbau der ’Ndrangheta ist die Blutsverwandtschaft: „Gevatter“, also Mitglieder der Organisation, werden nur und ausschließlich Verwandte. Unter Francos Befehl bekam jeder seinen eigenen Bereich.
Vincenzo Musolino ist der Bruder von Francos Frau Eustina und von Angelo, der als Sechzehnjähriger wegen des Mordes an dem Arbeiter Pier Antonio Castelnuovo nicht einmal eine Freiheitsstrafe erhält. Er wird der Finanzchef der neuen Organisation: Er eröffnet Immobilienagenturen, Unternehmen für Abfallentsorgung, Restaurants. Der Kokainhandel hingegen obliegt den Brüdern Salvatore und Gianni Marinaro, die mit den Nichten des Bosses verheiratet sind. Sie kontrollieren den Drogenhandel und bestrafen jene, die auf eigene Rechnung verkaufen oder mit Heroin dealen. „Heroin ist schlecht fürs Geschäft“, pflegt Franco zu sagen und natürlich widerspricht ihm niemand. Wer Heroin verkauft, wird entweder verprügelt oder gleich getötet.
Eine etwaige Blutsverwandtschaft festigt auch die eingegangenen Bindungen. Daher macht die Familie Franco Cocos nach der Einheirat in den De-Stefano-Clan auch einen Qualitätssprung. Franco gibt seine Tochter Giuseppina dem Lieblingssohn von Paolo De Stefano, Carmine, zur Frau. Paolo De Stefano ist einer der mächtigsten Bosse von Reggio Calabria. Als Paolo 1985 auf der Straße ermordet wird, wird Franco Coco noch mächtiger und wird von den Clans in Reggio und Catanzaro gleichermaßen akzeptiert.
„Franco war der letzte große Boss“, erzählt Di Bella. „Heute ist alles anders. In keiner Organisation gibt es noch so etwas wie Ehre. Das ist wie bei der Cosa Nostra. Jene, die dort jetzt am Ruder sind, sind alle gleich. Seitdem es das Koks gibt, existiert keine Ehre mehr. Ich habe Leute gesehen, die auch nicht geredet haben, wenn man ihre Hand mit einem Messer am Tisch festnagelte. Dieselben Leute habe ich 10 oder 15 Jahre später wieder getroffen, nachdem sie angefangen hatten zu schnupfen. Du haust ihnen ein paar rein, und sie erzählen dir alles, was du hören willst, und noch mehr. Die Droge hat die Organisation ruiniert. Heute ist kein Ernst mehr dabei, keine Treue. Manchmal frage ich mich, wie das wohl enden wird. Die klugen Köpfe werden in die Politik gehen oder sich die Gelder aus öffentlichen Ausschreibungen unter den Nagel reißen. Und jene, die die Drogen unter die Leute bringen, werden sich bis aufs Messer bekämpfen, um den Markt unter sich aufzuteilen. Sie werden sich gegenseitig umbringen, das kann gar nicht anders sein. Mittlerweile ist ja niemand mehr da, der sie zurückpfeift.“
„Früher war Franco mächtig. Selbst wenn er im Gefängnis saß, erteilte er Anweisungen und Befehle. Vielleicht tut er das ja auch heute noch. Ich behaupte jedenfalls nicht das Gegenteil. Wenn er sagt: ‚Legt den oder jenen um!‘, dann wird die Person ermordet, keine Frage. Aber die Ernsthaftigkeit von früher ist dahin. Wenn ich Franco Botschaften ins Gefängnis schmuggelte, wurde ich sofort belohnt, innerhalb weniger Minuten. Aber mit mir ist das sowieso so eine Sache. Denn auf mich ist er garantiert stinksauer. Ich habe dafür gesorgt, dass sein Sohn Emiliano 22 Jahre bekommt. Und der Sohn seines Bruders Mario 18 oder 19.“
Di Bella jedenfalls wurde nie „getauft“, vielleicht weil er in Sizilien geboren ist, vielleicht weil er sich nicht darauf einlassen möchte, obwohl er für die Familie allerhand erledigt, vom Handel mit Drogen oder Waffen bis hin zum Geldeintreiben. Di Bella ist nicht „von ihrem Blut“. Vielleicht fand er auch darum den Mut, gegen sie alle auszusagen: „Sie wollten, dass ich der Organisation beitrete, aber ich habe nie Ja gesagt. Ich bin Sizilianer, ich wollte mich nicht von den Kalabresen der ’Ndrangheta taufen lassen. Zwischen den Sizilianern und den Kalabresen gab es immer böses Blut. Und wenn man Franco kannte, wusste man, dass er Fehler schon mal mit dem Tod bestrafte. Schon allein deshalb wollte ich nicht dazugehören. Aber auch wegen meines Vaters. Wenn der gewusst hätte, was ich da treibe, hätte er mich ‚getauft‘, aber mit seinen eigenen Händen. Außerdem ist bei der ’Ndrangheta die Blutsverwandtschaft die oberste Regel. Und ich habe der Familie nie so ganz getraut. Ich rede hier von der Familie Trovato, die für mich die ’Ndrangheta darstellt. Da ich Sizilianer bin, war zwischen mir und der Familie immer eine gewisse Distanz. Außerdem war ich immer höllisch vorsichtig. Denn diese Leute pusten dich in weniger als zehn Sekunden um.“
„Um zu begreifen, ob du in Lebensgefahr bist oder nicht, musst du auf jede Kleinigkeit achten, vor allem, wenn du einen Befehl nicht befolgt hast. Wenn man etwas getan hatte, was Franco nicht wissen sollte, wenn man beispielsweise Geld zurückgehalten oder Waffen beziehungsweise Drogen auf eigene Rechnung verkauft hat, musste man wochenlang auf der Hut sein. Machte er einem sofort Vorwürfe, war alles in Ordnung. Dann drückte er ein Auge zu, weil man ihm nützlich oder der Schaden nicht allzu groß war und das Ganze für ihn keine Gefährdung seiner Macht darstellte. Aber wenn er nichts sagte und mit einem irgendein seltsames Treffen vereinbarte, dann gab es allen Grund zur Vorsicht. Dann musste man die Antennen ausfahren. Ich zum Beispiel habe mir angewöhnt, niemanden für dumm zu halten. Ich nehme auch den dümmsten Bauern ernst, denn in meinem Dorf heißt es, dass der schlaue Fuchs vom dämlichen Jäger erledigt wird.“
„Franco Coco Trovato fällt seine Todesurteile auf seine ganz eigene Weise. Wenn er dir von seiner rechten Hand oder seinem Fahrer ausrichten ließ: ‚Komm nach Mailand. Wir haben dort etwas zu erledigen‘, dann hieß es: Achtung! Wenn du dich dort blicken lässt, bist du tot. Ich kenne niemanden, der nach einem solchen Befehl noch nach Hause gekommen wäre, um davon zu berichten.“
„Francos Leben bestand aus Geschäften, Vergnügen und Abenteuern. Sorgen kannte er nicht. Jeden Tag fuhr er ein anderes Auto, einmal einen Ferrari, dann wieder einen Porsche. Er organisierte Feste mit einem Haufen Frauen und kiloweise Kokain für alle. Die schnüffelten wie die Schweine. Das war schon was. Franco allerdings habe ich nie schnupfen sehen. Ansonsten haben alle in der Organisation gekokst. Ja, ich habe es auch probiert. Warum sollte ich auch Nein sagen, das fehlte gerade noch. Aber ich wusste, wann es genug war. Die anderen hingegen konnten gar nicht mehr aufhören. Die zogen sich 20 bis 30 Gramm auf einmal rein und machten dann Party. Das war ziemlich gefährlich, weil sie in diesem Zustand unglaublich bösartig waren. Kein Wunder, sie waren einfach viel wacher als vorher. Danach sah man sie meistens drei, vier Tage lang nicht mehr auftauchen. Die waren zu Hause und schliefen sich aus. Leider ist das so: Das Zeug nehmen alle, alle, die ich kennengelernt habe. Auch die Rechtsanwälte und Geschäftsfreunde von Franco. Auch sie zogen sich Koks rein. Wer hingegen Heroin nahm, wurde gnadenlos bestraft.“
„Letztlich aber stärkte auch das den Zusammenhalt. Und wenn es ein Problem gab, wurde es einfach gelöst. Wie der Dreifachmord 1991 in Manfredonia. Damals wurden die Brüder Pasquale und Michele Pio Placentino getötet und mit ihnen Fabio Tamburrano. Sie hatten sich zu weit ausgebreitet.“
„Aber auch wir, die wir zu Francos Bande gehörten, riskierten den Tod. Wie Raffaele Laudari di Valmadrera, einer von uns. Er stammte aus Catanzaro. Er machte das Gleiche wie Franco: Ausschreibungen für Bauten der öffentlichen Hand, Zementfabriken und so weiter. Er war 47 Jahre alt. 1990 hatte er beschlossen, sich zu vergrößern. Allein. Eines Tages hieß es dann, er solle doch nach Mailand kommen. Er zögert keine Sekunde, setzt sich in seinen Lancia Thema, kommt in die Stadt, parkt in der Via Lario und lässt den Motor laufen. Da erscheinen zwei Kerle auf einem Motorrad. Einer steigt ab, ohne den Helm abzunehmen, und Laudari sitzt immer noch ruhig im Wagen. Sie haben ihn mit 21 Schüssen in den Kopf getötet, eine Hinrichtung, an die ich mich heute noch erinnere. In den Zeitungen stand dann, eine rivalisierende Bande habe ihn umgelegt, doch der wahre Grund war, dass er zu groß geworden war. Und Verschleierung ist seit jeher eine Kunst, die Franco perfekt beherrscht.“
„Eines Tages beschlossen sie, einen Jungen umzubringen. Ich erinnere mich nur noch an den Vornamen. Er hieß Pepè. Danach verbreiteten sie überall, dass jemand anderer Pepè getötet habe. Es hieß, Pepè habe Drogen im Veltlin verkaufen wollen, und die dort ansässige Familie habe ihn ermorden lassen. Aber man hat die Leiche ja nie gefunden, nur seine Rolex und seinen Pullover, geborgen am Ufer eines Sees, der an der Straße ins Veltlin gelegen war. Pepè aber blieb für immer verschwunden.“
„Die zweite Regel betraf die Bündnisse: Franco organisierte sie durchweg selbst.“ Der Boss pflegte Beziehungen zu anderen Bossen sowohl in der Lombardei als auch im Süden Italiens. Alle 10 bis 15 Tage kam ein anderer Mafioso aus Reggio Calabria, Crotone, Squillace oder Castrovillari zu einem Geschäftsessen in den Norden. Was den Drogenverkauf im Comasina-Viertel oder im Mailänder Hinterland anging, war Giuseppe „Pepè“ Flachi der Mann der Wahl. Buccinasco hingegen ist fest in der Hand Antonio Papalias, der die Logistik des Drogenhandels organisiert. Das Netz reicht bis in die Reihen der neapolitanischen Camorra, mit der Coco Trovato sich nach der „Thronbesteigung“ anlegen wird. Die Verbindung mit der Familie Batti aus Neapel verschafft ihm Verbindungen zu Mitarbeitern von Justiz und Polizei, aber auch zu Politikern, was der Camorra bald aufstoßen wird. Und so bricht Franco die Vereinbarung wieder, sobald er es sich leisten kann. Er, der aus der Organisation in Lecco hervorgegangen ist, mausert sich in den Achtzigerjahren zu einem der geachtetsten Bosse in Italien.
„Die dritte Regel ist die Sicherung der Familie. Wenn einer seiner Männer im Gefängnis ist, sorgt Franco dafür, dass es ihm und seiner Familie an nichts fehlt. Er trägt zur Erziehung der Kinder bei und bezahlt den Anwalt. Er zahlt alles, ohne mit der Wimper zu zucken. Diese drei Prinzipien sind der Grund, weshalb man selten jemanden aus der Organisation findet, der erzählt, wie es dort wirklich läuft. So einen findest du sonst nicht, außer der Typ ist sowieso schon in Ungnade gefallen, dann redet er vielleicht. Innerhalb der ’Ndrangheta findet sich so schnell kein Kronzeuge.“
„Aus Francos Gruppe gab es allerdings einen anderen, der zur Aussage bereit war, und er war sogar einer seiner engeren Mitarbeiter. Aber das begreife ich nicht ganz. Ich habe es nie verstanden. Er nennt sich Tonino, Spitzname ’o Scugnizzo, ,kleiner Strolch‘. Er hat 50 Morde gestanden, ist aber mindestens für 100 verantwortlich. Hat er die andere Hälfte vergessen? Dabei wäre es gar nicht so schwer herauszufinden, ob ein Kronzeuge echt ist oder nicht. Man muss sich nur an seinen Anwalt hängen und ihn bitten, einen echten Kronzeugen zu verteidigen. Nimmt er an, ist alles in Ordnung. Verlangt er hingegen erst einmal eine hohe Anzahlung, heißt das, dass er nur falsche Kronzeugen annimmt, die von der Organisation bezahlt werden, und dass er die Justiz hinters Licht führen will.“
