Kitabı oku: «Zucker im Tank», sayfa 2

Yazı tipi:

Kapitel Drei

Der Volvo erwies sich als wesentlich rüstiger, als er von außen gewirkt hatte, und Tibor Hendricks war es gewohnt, Fahrzeuge bis an ihre Grenzen zu treiben. Er hatte einen unauffälligen Wagen verlangt, um nicht wie ein Angeber zu wirken, der eine pompöse Rückkehr inszenieren wollte. Wenn er allerdings auf ein gutes Verhältnis mit seinen ehemaligen Mitschülern und Nachbarn aus gewesen wäre, hätte er am besten ganz auf diese Reise verzichtet. Tibor bereitete sich innerlich auf die Ankunft in seinem Heimatort vor. Er hatte Ginsberg vor acht Jahren verlassen. Ohne Ziel, aber mit dem festen Vorsatz, nie wieder zurückzukehren. Seine Eltern hatten ihn ziehen lassen und als einzige Bedingung gestellt, dass er sich regelmäßig bei ihnen meldete. Es war ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit gewesen, als er damals mit dem vollgeladenen Golf das Ortsschild passiert hatte. Er konnte überall hin und alles tun. Selbst unter ungünstigsten Bedingungen sollte sein finanzielles Polster für mindestens ein Jahr Sorglosigkeit ausreichen.

Den ersten Tag war er durchgefahren, um Distanz zu schaffen. Während seine Altersgenossen mit Lehre oder Studium beschäftigt waren, brauste er Richtung Süden mit der Absicht, ein tolles und erfolgreiches Leben zu führen. Was hatte er für unglaubliche Pläne gehabt, als er Ginsberg verließ. Er wollte die Welt bereisen, ein Jahr lang in einem Campingwagen am Strand leben oder auf einem Berg. Er wollte zur See fahren, mit dem Zug durch den Orient bummeln, den Amazonas entlang schippern, durch Europa trampen, Afrika durchqueren, zum Mond fliegen. Das Übliche eben.

Seinen Eltern schickte er stapelweise Ansichtskarten, aber bei seinen wöchentlichen Anrufen merkte er eine leichte Ungeduld, die sich durch immer weniger subtile Erkundigungen nach seinen weiteren Plänen äußerte. Tibor hatte für sich selbst ausgeschlossen, seine Ersparnisse zu verprassen und anschließend reumütig in den Schoß der Familie zurückzukehren. Das wollte er ausdrücklich als persönliche Bankrotterklärung verstanden wissen. Also brauchte er einen Erfolg. Möglichst schnell und möglichst groß. Inwieweit ihm das mit seiner jetzigen Tätigkeit gelungen war, mochten andere entscheiden. Sein Therapeut hätte Tibors Rückkehr nach Ginsberg wohl eine Chance genannt, sein Innenleben genauer zu erforschen. Eine Leistung, die ihnen beiden bisher versagt geblieben war.

Blaue Autobahnschilder wischten vorüber. Dahinter sah er die ICE-Strecke, die sich durch Hügel bohrte und auf Brücken die Täler überquerte. Bei Bad Camberg bog er von der A3 und nahm die Bundesstraße 8 bis Oberbrechen. Von dort aus ging es über kleine Landstraßen weiter, auf denen er sich prompt verirrte. Kein Wunder, denn kaum hatte er Auto fahren gelernt, war sein einziges Ziel gewesen, aus Ginsberg herauszukommen. Der Rückweg hatte ihn nie interessiert. Er wollte nicht anhalten, um sein Handy zu Hilfe zu nehmen, also fuhr er grob in die Richtung, in der er seinen Geburtsort vermutete. Bis auf den Hinweisschildern die ersten Ortsnamen auftauchten, die in seinem damaligen Mofaradius gelegen hatten. Allmählich wirkte die Umgebung vertrauter.

Der Abzweig nach Ginsberg lag immer noch so versteckt wie damals. Besucher waren wohl immer noch nicht erwünscht. Aber heute fuhren Fahrer mit Routenplaner und fanden deshalb ihr Ziel. Er bog auf die kurvenreiche Straße ein, die parallel zum Fluss in den Ort führte. Die Schönheit des Tals berührte ihn. Er war sicher mehrere tausendmal diese Strecke gefahren, aber als Kind hatte er sie nicht wahrgenommen oder sie für selbstverständlich genommen und geglaubt, es würde überall so aussehen. Inzwischen wusste er es besser, und obwohl er erst siebenundzwanzig war, konnte er sich für Naturschönheit begeistern und wusste zu schätzen, in welcher Idylle er aufgewachsen war.

Tibor fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel und zuckte zusammen, als er die beiden Stellen berührte, an denen er sich am Morgen beim Rasieren geschnitten hatte. Ein Zeichen der Nervosität, die er sich nicht eingestehen wollte.

Entgegen seiner Gewohnheit hatte er das Radio eingeschaltet: sehr viel Grauenvolles, wenig Erträgliches und nichts wirklich Gutes dabei. Dasselbe galt für die Musik. Entweder aktueller Schrott oder bewährte Klassiker, die jeder schon hunderttausendfach gehört hatte. Aber wenn man die ganzen Jingles der Eigenwerbung nicht dazurechnete, blieb ohnehin nicht viel Musik übrig. Obwohl kurz vor dem Ziel, musste er wieder einmal den Sender wechseln, weshalb ihn der Krankenwagen, der mit Blaulicht und Sirene auf seiner Straßenseite durch die Kurve schoss, kalt erwischte. Fluchend verriss Tibor das Steuer des Volvos und hätte um ein Haar das Ortsschild von Ginsberg gerammt. Im buchstäblich letzten Augenblick kam er auf dem Schotterstreifen am Straßenrand zum Stehen und würgte vor lauter Erleichterung den Motor ab. Mit bebenden Händen zündete er eine Zigarette an, lehnte sich in seinen Sitz zurück und betrachtete nachdenklich das gelbe Schild vor seiner Motorhaube. Tibor wollte nicht an böse Vorzeichen glauben.

Er schnippte die Zigarette im Aschenbecher ab und stieg aus. Der milde Wind kühlte seinen Rücken, wo das Hemd auf der Haut klebte. Er betrachtete die Ansammlung von Menschen und Fahrzeugen. Feuerwehr, Rotes Kreuz, Polizei und unzählige Privatfahrzeuge standen dicht gedrängt auf dem schmalen Feldweg zwischen Straße und Fluss. Tibor konnte das Gerippe eines Schuppens erkennen, von dem noch eine dünne Rauchsäule aufstieg. Ein stetiger Strom von Dorfbewohnern pilgerte die Hauptstraße entlang, um sich das Ereignis anzusehen. Einige musterten ihn neugierig und gingen weiter, die Brandstelle erschien ihnen momentan interessanter. Tibor sah viele Bekannte von früher, aber er hatte sich wohl zu sehr verändert, um von ihnen erkannt zu werden. Tatsächlich bestand nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem Foto in seinem Führerschein, denn Haarausfall und eine teure Garderobe konnten das Erscheinungsbild eines Menschen nachhaltig verändern. Außer seinen Haaren fehlten auch etwa ein halber Zentner Gewicht und eine bereits damals unmodische Brille.

Ein weiterer Krankenwagen kämpfte sich mit heulender Sirene zur Straße hinunter und trieb die Schaulustigen auseinander. Obwohl Tibor Katastrophentourismus verabscheute, ging er auf die Brandstelle zu. Die Polizei hatte die Reste des Schuppens abgesperrt. Die Umstehenden reckten die Hälse, um nicht die kleinste Kleinigkeit zu verpassen. Die Gesichter wirkten verstört, was Tibor bestätigte, dass hier mehr geschehen war als ein simpler Brand. Seine Versuche, ebenfalls einen Blick auf den Schuppen zu werfen, scheiterten an seiner recht bescheidenen Körpergröße. Auf der Suche nach einer Lücke wanderte er hinter den Zuschauerreihen entlang, doch jeder freie Platz war besetzt. Tibor schob sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen und wollte gerade sein Feuerzeug an deren Ende halten, als er bemerkte, wie ein Feuerwehrmann wortlos den Trichter eines Feuerlöschers auf ihn richtete. Mit einer entschuldigenden Geste steckte er die Zigarette wieder ein.

“Hallo Tibor“, sagte eine vertraute Stimme hinter ihm. Er wandte sich überrascht um. Felix Gernhardt lehnte lässig an einem Geländewagen, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und grinste von Ohr zu Ohr.

“Felix, du meine Güte.“ Tibor war überrascht und erfreut zugleich. Er nahm die Sonnenbrille ab, als würde dies seinen Blick schärfen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach so vielen Jahren den besten Freund aus seiner Jugend wiederzusehen. In der ersten Zeit nach seiner Abreise hatten sie sich zwar ein paar Mal geschrieben und gelegentlich telefoniert, aber nach einer Weile war der Kontakt eingeschlafen.

Felix sah wüst aus: Sein strähniges Haar ließ das Gesicht nur erahnen, aber was an Haut sichtbar war, ließ darauf schließen, dass er viel Zeit unter freiem Himmel verbrachte. Er trug ein Batikhemd, abgeschnittene Cordhosen und klobige Arbeitsschuhe. Die Sachen schienen billig gekauft und lange getragen. An manchen Menschen gingen Trends spurlos vorüber, bis sie manchmal das Glück hatten, dass die eigene Kleidung wieder in Mode kam. Aber der Felix, den er gekannt hatte, war an der Welt vor seiner Tür ohnehin nie sonderlich interessiert gewesen, solange die Welt ihm das gleiche Desinteresse entgegenbrachte.

“Scheiße, Tibor, wie siehst du denn aus“, kam ihm Felix zuvor und wischte sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn, “bist du unter die Banker gegangen?“

“So ähnlich.“

“Und warum hast du deine Haare nicht mitgebracht?“

Grinsend fuhr sich Tibor mit der Hand über den extrem breiten Scheitel und ließ sie im Nacken auf dem Rasierschatten seines verbliebenen Haarkranzes ruhen.

“Die Zeit vergeht.“

“Das kannst du laut sagen“, sagte Felix und breitete die Arme aus. Tibor, der ein ganzes Stück kleiner als sein Freund war, verschwand in dessen Umarmung. Es dauerte lange, bis er sich daraus befreien konnte.

“Warum hast du dich nie gemeldet, Mann? Oder auf meine Briefe geantwortet?“, fragte Felix streng.

“Also ich o äh“, begann Tibor, zögerte und zuckte schließlich grinsend mit den Schultern.

“Schon gut, vergiss es. Hauptsache, du bist wieder da.“

Sie grinsten beide. So sollte es zwischen Freunden sein, dachte Tibor. Wenn man sich nach langer Zeit wieder begegnete, mussten beide das Gefühl haben, den anderen am Vortag zuletzt gesehen zu haben. Keine Erklärungen, keine Vorwürfe und keine Rechtfertigungen. Ein dicker Kloß der Ergriffenheit stieg in seinem Hals auf und zur Ablenkung wies er mit dem Daumen hinter sich: “Hast du eine Ahnung, was hier passiert ist?“

“Ich bin selbst erst gekommen, aber ich sehe gerade jemanden, der es mit Sicherheit weiß“, sagte Felix und hob einen Arm, um zu winken. Der Kopf einer großen und sehr kräftigen Frau Ende vierzig ruckte herum. Sie begann zu lächeln und drängte sich durch die Menge, die ihr widerwillig Platz machte. Sie schob ihre Sonnenbrille in die Stirn und steckte den Notizblock in eine der Taschen ihres Jeansrocks, bevor sie Felix scherzhaft gegen seine Brust boxte. Er legte einen Arm um ihre Schultern und drehte sie in Tibors Richtung.

“Tibor, darf ich dir Thea Richler vorstellen, das letzte lebende Mitglied der freien Presse und seit Wochen die Starreporterin der hiesigen Tageszeitung. Thea, das ist Tibor Hendricks, ein Freund aus besseren Tagen und ehemaliger Ginsberger.“

Sie schüttelten sich die Hände. Sie sah aus wie Kathy Bates. Nicht in der Rolle der psychopathischen Krankenschwester in Misery, sondern als die robuste und engagierte Schnüfflerin in dem Travolta-Film.

“Tibor hat mich gerade gefragt, was hier vor sich geht. Vielleicht kannst du uns eine Antwort darauf geben.“

“Es scheint so, als wäre die Feuerwehr bei ihrem Einsatz auf ein Drogenversteck gestoßen. Die Hälfte der Jungs schwebt noch über den Wolken, während sich alle anderen in die Hose machen.“

Die Antwort verblüffte sogar Felix. “Was sagt Garth dazu?“

“Die Kollegen belagern ihn vor dem Rathaus. Sie haben sich hier ihre Bilder und ein paar Statements von Einheimischen abgeholt und warten nun auf eine offizielle Stellungnahme.“

Felix grinste. “Wo er doch schlechte Presse über den Ort so gut leiden kann.“

“Ich bin selbst gespannt, wie Villeroy es schaffen will, diesen Schlamassel schön zu reden“, sagte die Journalistin.

“Thea ist die ungekrönte Meisterin, wenn es darum geht, Garth unüberlegte Äußerungen zu entlocken“, erklärte Felix seinem Freund. Die Reporterin lächelte geschmeichelt. Sie wollte bescheiden abwinken, als in der Nähe der Absperrung ein kleiner Tumult losbrach.

“Jetzt scheint etwas Bewegung in die Sache zu kommen, ich muss los, wir sehen uns!“, sagte sie und hatte bereits ihren Notizblock gezückt. Sie winkte den beiden zu und warf sich wie ein Schneepflug in die Menge.

“Drogen in Ginsberg?“, fragte Tibor aufrichtig überrascht.

“Dope is in the air“, sang Felix und lachte. “Tja, mein Freund, das Landleben hat seine Unschuld verloren, willkommen zu Hause!“ Er warf sich mit einer Kopfbewegung das schwarze Haar aus der Stirn, ohne seine Hände aus den Taschen nehmen zu müssen. “Du hast dir den perfekten Tag für deine Heimkehr ausgesucht.“

“Timing war schon immer meine Stärke“, sagte Tibor. “Das wird einen ganz schönen Wirbel erzeugen.“

“Darauf kannst du Gift nehmen. Wenn man im Rathaus nachfragt, bekommt man bestimmt die Auskunft, es gäbe keinen Grund zur Besorgnis. Also genau die Antwort, die man erwartet, wenn es einen Grund zur Besorgnis gibt.“

“Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Ginsberg Drogen angebaut werden.“

“Na frag mich mal“, sagte Felix. “Und ich lebe sogar hier. Noch heute Morgen hätte ich über diese Vorstellung gelacht.“

“Dann hast du keine Idee, wer dahinterstecken könnte?“

“Überhaupt keine. Ich kann mir das nur so vorstellen, dass jemand den verlassenen Schuppen genutzt hat, um seine Drogen darin zu verstecken.“

“Jemand von außerhalb?“

“Also mir fällt kein Ginsberger ein, der infrage käme. Nicht dafür.“ Er grinste. “Die könnten es auch gar nicht voreinander geheim halten.“

“Willst du gar nicht wissen, wer hinter den Drogen steckt? Immerhin lebst du ja hier, wie du selbst gesagt hast.“

“Vielleicht hat Garth ein kleines Nebengeschäft am Laufen? Wundern würde mich das nicht.“

Tibor zwinkerte ihm zu. “Sie könnten ihn dafür drankriegen. Würde dich das nicht reizen?“

“Meinen Onkel auf jeden Fall, mich eher weniger. Garth wird bald hier auftauchen, dann möchte ich nicht mehr da sein. Lass uns was unternehmen. Du hast doch Zeit, oder?“

“Für dich immer.“

“Wo steht dein Wagen?“

Tibor wies zur Straße.

Felix hob eine Augenbraue. “Soll ja ein sehr sicheres Auto sein.“

“Ich bin eben ein vorsichtiger Mensch.“

Felix stieg in seinen Touareg und öffnete die Beifahrertür. “Steig ein, ich nehme dich das Stück mit.“

Tibor waren die unzähligen Dellen, Schrammen und Kratzer in der Karosserie des Wagens aufgefallen. Sein Freund schien das Fahrzeug nicht besonders pfleglich zu besitzen. Oder es gab Leute im Ort, die an dem Wagen ihren Unmut über den Besitzer ausließen. Er schwang sich auf den Beifahrersitz und zog die Tür zu. Sicher vor einer plötzlichen Ladung Löschschaum zündete er sich seine Zigarette an und hielt Felix die Schachtel hin. Der schüttelte den Kopf und ließ den Motor an. Felix hatte längst mit den meisten lieb gewonnenen Trostspendern seiner Jugend gebrochen. Vorsichtig lenkte er seinen Wagen langsam zwischen den nachströmenden Schaulustigen hindurch zur Straße.

Tibor sah sich nach allen Seiten um und war überrascht, wie herausgeputzt Ginsberg wirkte. Er hatte sich vor seiner Heimreise über Ginsberg informiert. Da er zu niemandem Kontakt gehalten hatte, besaß er keine Informationen aus erster Hand. Er hatte den Ort schon vor langer Zeit im Rückspiegel gelassen, und die Gefühle, die die Fahrt durch Ginsberg in seiner Magengegend auslösten, waren mehr als gemischt. Sie weckten Erinnerungen in ihm, die er längst verschüttet geglaubt hatte. Tibor besaß genügend Vorurteile über das Landleben, viele davon gewiss zu Recht, aber er beabsichtigte, sie für sich zu behalten, und wollte den Einheimischen nicht beweisen, dass sie stimmten. Entweder wussten sie es bereits oder wollten es nicht hören. Umso mehr staunte er, wie gut ihm die Örtlichkeiten im Gedächtnis geblieben waren. Der Brunnen, an dem sich seinerzeit die Dorfjugend getroffen hatte. Dort, wo jetzt fünf Parkplätze für die Sparkasse angelegt waren, hatte früher das Haus der Witwe Droste gestanden, die von ihrem Wohnzimmerfenster aus Bier an Jugendliche verkauft hatte. Auf dem Spielplatz hinter der Kirche hatte Tibor sich mit neun Jahren den Arm gebrochen, weil ihn ein Konkurrent in der Gunst von Silke Beck von der Rutsche stieß. Wie viele Abende hatte er am Fluss verbracht und mit anderen Ahnungslosen vermeintlich tiefgründige Gespräche geführt? Und erst die dämlichen Mutproben. Einmal musste Tibor sich die Haare abrasieren, weil er es nicht schaffte, mit seinem Mofa auf einer selbst gebauten Rampe über die Lahn zu springen. Neben dem Verlust der Haare hatte ihn damals am meisten der Anblick des versinkenden Mofas geschmerzt, und er äußerte in den folgenden Jahren mehr als einmal den Wunsch, Felix hätte lieber das Mofa retten sollen, anstatt ihn aus dem Wasser zu ziehen.

“Sollen wir kurz hier halten?“, fragte Felix.

“Wieso?“

“Das ist euer ehemaliges Haus. Garths Anwalt hat inzwischen seine Kanzlei darin.“

“Gott ja, und? Das ist ein Haus, in dem ich mal gewohnt habe. Seitdem habe ich in sehr vielen Häusern gewohnt, das heißt aber nicht, dass ich sie regelmäßig besuche.“

Tibors Ablehnung war so schroff, dass Felix ihn erstaunt ansah. “Du willst es nicht mal sehen?“

“Wozu?“

“Was weiß ich? Vielleicht um Erinnerungen aufzufrischen.“

“Nicht nötig“, sagte Tibor bestimmt. “Meine Eltern haben es verkauft, also hingen sie wohl auch nicht allzu sehr daran.“

Heimat. Er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen und schmeckte den Kitsch, der darin mitschwang. Doch ganz kalt ließ es ihn nicht. Neunzehn Jahre in diesem Ort waren mehr als die nüchterne Zahl. Jahrelang hatte er Ginsberg aus der Ferne verdammt, den steigenden Blutdruck bei der leisesten Erwähnung ländlicher Lebensart gespürt. Er hatte danach nie mehr in einem Ort mit weniger als hunderttausend Einwohnern gelebt. Er brauchte die Anonymität. Und wenn Geschäfte über Mittag schlossen, kam er sich wie in einer Geisterstadt vor.

“Ich habe noch nicht gefrühstückt. Wie steht es mit dir?“, schlug Felix vor. “Ich hoffe, du magst mexikanische Küche.“

“Gerne sogar.“

“Du hast wahrscheinlich schon überall auf der Welt gegessen, aber Antonios Küche stellt eine Herausforderung für jeden Gaumen dar.“

“Das klingt wie eine Warnung.“

Kapitel Vier

Die Wahl zum Bürgermeister hatte Garth zu Beginn als eine reine Formsache betrachtet. Sein Vorgänger war berühmt gewesen für seinen vollständigen Mangel an Führungsqualitäten und Geschäftssinn. Der Mann hatte seine politische Ausrichtung am jeweiligen Gesprächspartner orientiert, um möglichst wenig Aufregung in seinem Amt zu haben. Garths erste Amtshandlung als Bürgermeister hatte darin bestanden, die Gemeindevertretung nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Er spielte die einzelnen Parteien gegeneinander aus, bis sich die meisten schmollend zurückzogen. Jeden potenziellen Gegenkandidaten drangsalierte er lange genug, bis er sich ein anderes Hobby suchte. Die Gemeindevertretung wurde rasch zum Scheinkabinett. Die wenigsten Mitglieder waren glühende Bewunderer von Garth, aber keiner von ihnen stellte einen ernst zu nehmenden Gegner dar, der sich seinen Wünschen widersetzen würde.

Die Gemeindevertretung hatte sich um den großen Tisch im Konferenzraum versammelt. Gewöhnlich tagten sie am letzten Donnerstag jeden Monats und nur mit dreitägiger Voranmeldung, doch an diesem Tag hatten sich die acht Mitglieder vor Garths Bürotür versammelt, bevor er zum Telefonhörer greifen konnte. Bürgermeister Garth blickte in die Runde. Links von ihm saß Max Krabbe, der Arzt des Dorfes, der wegen seiner Freigiebigkeit bei Krankheitsbescheinigungen den Spitznamen Doc Holiday führte. Er war ein Fachidiot und außerhalb seiner Praxis nur begrenzt lebensfähig, aber auch nützlich, da er die ärztliche Schweigepflicht großzügig auslegte und jede Information an Garth weitergab, nach der dieser verlangte. Krabbe wollte sein Kumpel sein und biederte sich aufs Schamloseste bei Garth an.

Neben dem Arzt saß Lehrer Bach, der seine Redebeiträge gerne durch beispielhafte Verhaltensweisen Achtjähriger belegte und gewohnheitsmäßig auf die Bundespolitik abschweifte. Besonders seit Pisa nicht mehr nur eine Stadt in Italien war, die einige glücklose Turmbauer angezogen hatte. Ansonsten war er froh, wenn man ihn in Ruhe angeln ließ. Wer ihn dabei störte, stellte schnell fest, dass er nicht halb so freundlich war, wie er wirkte. Denn Bach lächelte nur deshalb so viel, weil seine Zähne zu groß für seinen Mund waren und er die Lippen kaum über den Zahnreihen schließen konnte.

Rudolf Kernstein war Autohändler. Genau genommen verkaufte er die Autos in Garths Autohaus und war in jeder Hinsicht abhängig von seinem Chef, bei dem er immense Schulden hatte. Mindestens genauso abhängig war er vom Alkohol, der seine Hilflosigkeit noch verstärkte. Ein trauriger Fall. An der Ecke des Tisches saß Hellmuth Ziegler, der sich vom ersten Marihuanatrip seines Lebens erholte. Für gewöhnlich ein kompetenter, verlässlicher Mann, der politisch völlig unbelastet war und in ihrer Runde gerne die Stimme des kleinen Mannes vertrat. Genauso wie Dörr, der Garth am anderen Ende des Tisches gegenübersaß. Im realen wie im übertragenen Sinne. Dabei setzte er sich nur für die Themen ein, die ihn unmittelbar betrafen. Alle anderen interessierten ihn nicht. Günther Dörr war cholerisch, streitsüchtig und nahm immer eine Gegenposition ein. Er sammelte Feindschaften wie andere Leute Münzen, Briefmarken oder gebrauchte Damenunterwäsche.

Kurt Amsel, der Bäcker, war harmlos, naiv und gutmütig. Er übernahm in seiner Freizeit die ehrenamtliche Aufgabe, das Wohlbefinden der Ginsberger zu gewährleisten. Er organisierte Ferienangebote für Kinder, Jugendfreizeiten, Seniorennachmittage und Feste mit den verschiedenen, meist verfeindeten Ortsvereinen. Darüber hinaus Konzerte, Lesungen und andere kulturelle Veranstaltungen, die nach dem Urteil von Garths Frau allesamt lächerlich und provinziell waren. Amsel half auch bei Nachbarschaftsstreitigkeiten und Problemen in der Familie und hatte für jeden ein offenes Ohr. Auf der anderen Seite schien er keinen Ehrgeiz zu besitzen, in dieser Runde respektiert oder auch nur gehört zu werden. Außer bei lautstarken Auseinandersetzungen, die seinem extremen Harmoniebedürfnis zuwiderliefen, sagte er während der Sitzungen kein einziges Wort. Er schien mit allem zufrieden, solange es ruhig und friedlich abgewickelt wurde.

Ganz im Gegensatz zu Rolf Berger, der nie zufrieden war, selbst wenn er etwas durchsetzen konnte. Berger war unsachlich, uneinsichtig und unbelehrbar. Er hatte zu jedem Thema eine Meinung und berief sich auf Fakten, die stets völlig falsch waren. Wie bei so vielen anderen war es Unkenntnis gepaart mit Überheblichkeit, die ihn gegen vernünftige Argumente immun machte. Sein Gegenstück in Östrogen war Judith Kemmer. Sie war die beste Freundin von Garths Frau, neben ihr die berühmteste Person Ginsbergs und ¡ aus für Garths unerfindlichen Gründen ¡ Mitglied der Gemeindevertretung. Unwissend, uninteressiert und arrogant zog sie jede Sitzung dadurch in die Länge, dass sie am Ende einer Diskussion entsetzlich dumme Fragen stellte oder noch einmal alles wiederholte. Ihre Popularität im Ort verdankte sie ihrem Stellenwert als Schriftstellerin. Was eine tolle Sache war, wenn man keines ihrer Werke gelesen hatte.

Garth senkte den Blick auf den Tisch vor sich, dann schwenkte er erneut über die Gesichter. Diesmal sehr viel schneller. Idiot. Opportunist. Schwächling. Langweiler. Arschloch. Noch ein Idiot. Quertreiber. Superzicke. Die Vertreter von Ginsberg. Sie redeten sich die Köpfe heiß und Garth sah ihnen dabei zu. Er hatte bei jedem einzelnen von ihnen Gründe gehabt, ihnen einen Platz an seiner Tafel zu verschaffen. Profilierungssüchtige Figuren wie Berger und Dorn waren im Ort durch ihre Vereinstätigkeit bekannt genug, um ausreichend Anhänger hinter sich zu scharen. Garth hatte Amsel berufen, um seine Popularität im Ort zu nutzen, und Krabbe, um der Gemeindevertretung einen seriösen Anstrich zu verschaffen. Ebenso Lehrer Bach, der nie sonderlich auffiel und wohl auch in Gedanken lieber fischen ging. Judith Kemmer war für ihn persönlich eine Fehlentscheidung, weil sie ihm furchtbar auf die Nerven ging, aber sie wirkte wohltuend auf das Ego von Berger und Dorn, die sich ihr gegenüber überlegen fühlen konnten. Solange die beiden mit frauenfeindlichen Gedanken beschäftigt waren, konnten sie nicht auf andere Weise Schaden anrichten.

Garth betrachtete die sich heiser quasselnde Versammlung mit ausdrucksloser Miene und verriet durch keinen Aspekt seiner Körpersprache, wie er das Schauspiel bewertete. Und das war auch gut so. Die Stimmungspalette im Raum reichte von verzweifelt bis aggressiv. Der Hauptpunkt war die Auswirkung des Drogenskandals auf den Ruf des Ortes und die Wirtschaft. Garth konnte die Aufregung verstehen. Jahrzehntelang hatte Ginsberg vor sich hingedümpelt. Längst hatte man sich damit abgefunden, dass der Ort niemanden durch seine attraktive Infrastruktur anzog und auch für Pendler völlig uninteressant war, da Autobahnen in jede Richtung mindestens dreißig Kilometer entfernt lagen. Doch dank Garths Wirken als Bürgermeister gab es heute in Ginsberg alles, was man für das alltägliche Leben brauchte. Der Ort besaß einen Supermarkt, einen Bäcker, eine Metzgerei, eine Tankstelle mit Postfiliale (genauer gesagt, ein Schalter, der nicht größer war als eine Kinderpost), einen Friseur, ein Autohaus mit Werkstatt, zwei Gastwirtschaften und eine Bank. Es gab einen Fußballplatz und einen Tennisplatz. Für so ziemlich jede Beschäftigung hatte man einen Verein gegründet. Diese Perle ländlicher Lebensart sollte das Traumziel jedes großstadtgeschädigten, nach Ruhe und Geborgenheit suchenden Menschen sein, der fernab von Hektik, Lärm und Verbrechen neues Lebensglück suchte. Und nun diese Katastrophe.

Die Tür des Konferenzraums öffnete sich und Villeroy kam herein. Mit seinem üblichen unverbindlichen Lächeln auf den Lippen nahm er auf einem Stuhl neben der Tür Platz. Garth hätte am liebsten die komplette Gemeindevertretung vor die Tür gesetzt und stattdessen den sicherlich wichtigen Informationen seines Anwalts gelauscht. Er merkte, dass Stephan Bach mit ihm redete, entschuldigte sich und bat ihn, das Gesagte noch einmal zu wiederholen. Bach trug noch seine Angelklamotten und sah überhaupt nicht ein, weshalb er seine schlechte Laune verbergen sollte, immerhin hatte man ihm den Vormittag verdorben. “Ich sagte, jetzt werden mir die Kollegen von der Opposition wieder unter die Nase reiben, dass sich gerade meine Partei in der Vergangenheit für die Freigabe weicher Drogen starkgemacht hat.“

“Stimmt das etwa nicht?“, warf Günther Dörr, der Pächter der Tankstelle, ein.

“Alkoholiker haben ja genug Bezugsquellen“, entgegnete Bach kühl und sah zu, wie Dörrs ohnehin dunkles Gesicht noch röter wurde. Die inoffizielle Kneipe in seiner Tankstelle, wo sich einige Dorfbewohner schon am frühen Morgen zum ersten Bier einfanden, war ein offenes Geheimnis. Das hieß aber noch lange nicht, dass Dörr sich diese Tatsache von jedem unter die Nase reiben ließ. Er sprang auf und beugte sich über den Tisch. “Was soll das denn heißen? Ich glaube, dem Herrn Lehrer ist die viele Freizeit aufs Gehirn geschlagen.“

“Immerhin habe ich mehr als ein trockenes Brötchen im Kopf.“

“Keine Scherze über Backwaren“, versuchte Bäcker Amsel einen ebensolchen. Aber niemandem war zum Lachen zumute.

Garth bedachte die Streithähne mit einem Blick, der so viel besagte wie: Wird das heute noch was? Die Gemeindevertretung entglitt ihm. Noch vor einem Jahr wäre ein solches Verhalten undenkbar gewesen. Schon allein wegen Viktors Anwesenheit. Das Höchstmaß an Widerspruch stellte damals die freundliche Bitte an Garth dar, seine Position noch einmal zu überdenken. Heute musste er Drohungen und sogar Kompromisse einsetzen, um die Meute ruhig zu halten. Sie lauerten wie hungrige Raubtiere, um sich bei der geringsten Schwäche auf ihn zu stürzen. Mit der flachen Hand schlug er auf den Tisch. “Setz dich hin, Günther, alter Sülzkopf.“

Dörr setzte sich tatsächlich und brummelte dabei Unverständliches.

Berger erhob sich und allen Anwesenden war klar, was jetzt kommen würde. “Als Trainer der Fußballmannschaft darf ich daran erinnern, dass unsere Jungs heute gegen die Deppen aus Weinsee antreten sollen. Aber unsere Besten liegen flach, das wird eine böse Schlappe. Die werden uns vom Platz fegen.“

“Wir haben doch Ersatzspieler“, sagte Krabbe und wurde dafür von Berger mit einem Blick bedacht, der ihn mit gesenktem Blick verstummen ließ.

“Finn Schneider, um nur ein Beispiel zu nennen“, fuhr Berger fort. “Reaktionsschnell und trickreich. Er rennt neunzig Minuten, ohne die Puste zu verlieren, und springt über gegnerische Spieler einfach drüber. Der Junge hat mal einen Lederball quer durch die Turnhalle getreten und damit noch im Flur bei den Umkleidekabinen ein Sicherheitsglas eingedrückt. Und das Beste ist, er hat dabei nur Socken getragen. Für so jemanden gibt es keinen Ersatz.“

“Wie kann man in einer solchen Situation über eine so unwichtige Sache wie Fußball reden“, mischte sich Bach ein.

“Unwichtig? Ich hör wohl schlecht. Nach dem Debakel vom letzten Jahr hängt eine ganze Menge von diesem Spiel ab. Aber warum erzähl ich das eigentlich? Was weißt du schon von Fußball?“

“Wir teilen eben nicht alle Ihre Interessen“, sagte Bach überheblich. Er hatte Berger schon vor Jahren das Du entzogen, wovon dieser sich allerdings nicht beeindrucken ließ. Und daran halten würde er sich schon gar nicht.

“Deine Interessen kennen wir alle zur Genüge, der Fischgeruch lässt einen ja rückwärts die Wände hochgehen.“

“Und wieder eine gewohnt unqualifizierte Bemerkung von Herrn Berger“, erwiderte Bach beleidigt. Er hatte sich in seinem Keller eine kleine Räucherkammer eingerichtet und entwickelte dort neue Fischrezepte. Viele Nachbarn und Kollegen ließen sich von ihm beliefern, der Besitzer des La Cucaracha hatte sogar zwei seiner Rezepte in die Speisekarte aufgenommen. Aber das zählt ja bei diesen Ballproleten nicht, dachte er schmollend.

“Meine Güte, wenn es doch nun mal ein Entscheidungsspiel ist“, spottete Judith Kemmer. Erstens, weil sie auch einmal etwas sagen wollte, und zweitens, weil sie sich über jede Form von Mannschaftssport erhaben fühlte.

₺362,08

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
313 s. 6 illüstrasyon
ISBN:
9783962860226
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:

Bu kitabı okuyanlar şunları da okudu

Bu yazarın diğer kitapları