Kitabı oku: «Zucker im Tank», sayfa 3
“Nichtfußballer: Klappe zu“, zischte Berger und setzte sich wütend wieder hin.
Garth fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und ließ sie in den Schoß sinken. Seine bullige Statur sorgte dafür, dass die Menschen auf Abstand blieben. Er wirkte nicht dick, sondern nur aus der Form geraten. Allerdings überschätzten die meisten Leute die körperliche Bedrohung, die von ihm ausging. Ein Fehler, den er nicht zu korrigieren gedachte. “Ich darf mal zusammenfassen. Wir hocken jetzt schon seit einer halben Stunde in diesem stickigen Raum. Das Einzige, was wir bisher erreicht haben, ist, dass ein paar alte Feindschaften wieder aufgebrochen sind. Aber von einem konstruktiven Beitrag weit und breit keine Spur.“
“DieWir-wissen-nicht-um-welchen-Stoff-es-sich-handelt,-aber-er-ist-auf-jeden-Fall-ungefährlich-Masche wird nicht funktionieren und den Titel als Luftkurort können wir auch vergessen“, scherzte Max Krabbe.
“Deine Beiträge waren auch nicht gerade erhellend, Herr Bürgermeister“, murmelte Dörr.
Garth ignorierte die Bemerkung, doch Villeroys Kopf wandte sich mit einem süffisanten Lächeln dem Tankstellenpächter zu. Der Anwalt besaß ein verweichlichtes Aussehen, aber er konnte einen ansehen wie ein Giftmörder, dessen angebotenen Drink man gerade heruntergekippt hatte. Villeroy war stets bei den Sitzungen präsent, saß schweigend hinter Garth und beobachtete die Gemeindevertreter, die seinem Blick auswichen. Villeroy hatte in seinem Leben wenig getan, das ihm irgendwelche Sympathien zuspielen könnte. Auch die Anwesenden hielten nichts von ihm, aber sie würden sich hüten, eine abfällige Bemerkung zu machen, solange sie fürchten mussten, dass Garth es hörte oder einer der Anwesenden es ihm erzählen konnte. Selbst Garth wusste nicht alles über Villeroy. Der Anwalt wich zwar nur selten von seiner Seite, doch dies führte nicht zum Austausch privater Gedanken. Geld war für Villeroy wichtig, soviel wusste Garth. Er aß gerne gut und lernte Sprachen. Jedes Jahr eine andere. Dieses Jahr war es Finnisch. Warum auch immer.
“Wir müssen endlich zu einer Einigung kommen, wie unsere nächsten Schritte aussehen sollen“, fasste Bach zusammen.
Berger erhob sich theatralisch. “Zunächst einmal müssen wir herausfinden, wer hinter diesem Schlamassel steckt. Das sagte ich bereits.“
Garth seufzte. “Und ich antwortete bereits, es ist Aufgabe der Polizei, den oder die Täter zu fassen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, Schadensbegrenzung zu betreiben. Das heißt, wir müssen das Ansehen unseres Dorfes bewahren und dafür sorgen, dass wir in der Presse nicht allzu schlecht dastehen.“ Für ihn war die ganze Veranstaltung ein einziges Déjà-vu, er hatte alles sinngemäß schon dreimal gehört. Und er wusste, was Rolf Berger, der Metzger, als Nächstes sagen würde.
“Wir wissen doch alle, wer hinter dieser Sache steckt“, erklärte Berger so energisch, als wäre es das erste Mal an diesem Tag.
“Ihre Theorie in allen Ehren“, sagte Bach, “aber in den letzten zwölf Monaten wollten Sie wirklich alles, was in dieser Gegend schiefgelaufen ist, diesem Mitbürger anhängen.“
“Dass du ihn verteidigst, wundert mich nun gar nicht. Du gehörst doch zu diesen studierten Liberalen, die jeden Täter in Watte packen wollen.“
“Genau“, bestätigte Dörr, der die Bemerkung über den Alkoholausschank noch nicht vergessen hatte.
“Ich habe ebenfalls studiert“, sagte Krabbe und wurde etwas größer in seinem Sessel.
“Nichts gegen dich, Doc, immerhin bist du wichtig.“
“Und ich wohl nicht“, entrüstete sich Bach.
“Was er meinte, war o “, versuchte Amsel zu schlichten.
“Dass jeder, der ein Studium absolviert hat, ein linksliberaler Spinner ist und kein Interesse an Regeln und Gesetzen hat. Das habe ich sehr wohl verstanden.“
“Dir kann das ja wohl keiner unterstellen, Herr Bach“, sagte Berger mit bedeutungsschwangerer Stimme.
Der Kopf des Lehrers fuhr zu ihm herum. “Was wollen Sie damit sagen?“
“Nichts von Bedeutung.“
“Das dachte ich mir.“
Garth schüttelte nur den gesenkten Kopf.
“Das hat ja wohl alles keinen Zweck“, begann Bach beschwichtigend. “Wie jeder im Raum weiß, vertritt Herr Berger nicht nur die üblichen Vorurteile gegen Personen, die nicht dem gängigen Erscheinungsbild entsprechen. Der erwähnte Mitbürger ist ihm darüber hinaus persönlich ein Dorn im Auge.“
“Das ist Verleumdung“, brüllte Berger. “Ich habe keine Vorurteile. Der Kerl kurvt den lieben langen Tag durch die Gegend und keiner weiß so genau, was er eigentlich macht. Ich habe meinen Verdacht auch schon der Polizei gegenüber geäußert. Die hat meinen Hinweis jedenfalls ernst genommen.“
“Hatte der kleine Gernhardt nicht mal was mit Bergers Tochter?“, tuschelte Rudolf Kernstein, der Geschäftsführer von Garths Autohaus, mit seinem Sitznachbarn Hellmuth Ziegler, der immer noch einen leicht glasigen Blick hatte.
“Tja“, sagte Ziegler endlos gedehnt, “kurz nach seiner Scheidung, ging aber nur ein paar Wochen. Berger hat wirklich genug Gründe, Felix nicht zu mögen.“
Beide kicherten leise.
“Seht ihn euch doch nur mal an“, wetterte Berger weiter. “Und dann seine Kumpel aus dem Viertel, die inzwischen glücklicherweise verschwunden sind. Ich bitte euch! Dass solche Leute mit Drogen handeln, ist für mich alles andere als weit hergeholt.“
Bach legte bedeutungsvoll die Handflächen auf den Tisch und beugte sich vor. “Aber dafür gibt es doch nicht den geringsten Beweis. Das Ganze erweckt in mir den Anschein, als wollten wir so schnell wie möglich einen Schuldigen finden, den wir der Polizei präsentieren können, damit die Angelegenheit unter den Teppich gekehrt werden kann.“
“Na prima, jetzt hat auch der Herr Lehrer verstanden, weshalb wir hier sind“, spottete Dörr. “Wissen Sie, was ich glaube?“
“Dass die Erde eine Scheibe ist?“
Sofort war der Raum wieder von wildem Gebrüll erfüllt.
Krabbe lehnte sich zu Garth hinüber und senkte unnötigerweise seine Stimme. “Was machen wir mit Chloe?“ Dabei benetzte er ihn mit seiner feuchten Aussprache. Garth hatte bei der Sitzplatzverteilung nicht aufgepasst und zu spät gemerkt, dass der Platz neben ihm frei gewesen war. Krabbe, der jede Gelegenheit nutzte, in Garths Nähe zu kommen, hatte die Gelegenheit genutzt, sich an ein paar Platzsuchenden vorbeigedrängt und sich schneller, als es höflich oder schicklich gewesen wäre, auf den freien Stuhl gesetzt.
“Sie war ja immerhin mal mit Felix verheiratet?“, fuhr er sprühend fort. Garth deckte seine Kaffeetasse mit der flachen Hand ab und gab sich keine Mühe, es unauffällig zu tun.
“Ich regele das schon“, versicherte er und erhob sich. Eine Weile lang nahm keiner von ihm Notiz, aber langsam kehrte Ruhe ein. Garth wartete geduldig ab, bis er die Aufmerksamkeit von allen besaß. Es überraschte ihn nicht, dass bei dieser Sitzung nicht der geringste Fortschritt erzielt worden war. Er sah in die erwartungsvollen Gesichter und wusste genau, was sie wollten. Er sollte ihnen sagen, sie könnten beruhigt nach Hause gehen und ihren Freunden und Familien erzählen, dass alles gut werden würde. Ihr Bürgermeister würde das Kind schon schaukeln, sie selbst seien von jeder Sorge oder Verantwortung entbunden. Aber das konnte er ihnen nicht sagen, weil es nicht stimmte und sie es auch nicht glauben würden. Dann gingen sie stattdessen nach Hause und riefen: Packt die Koffer, der Bürgermeister hat auch keine Ahnung, wie es weitergehen soll!
“Herrschaften, nachdem wir jetzt die verschiedenen Meinungen gehört haben, will ich Folgendes sagen: Wir werden uns nicht in die Ermittlungsarbeit der Polizei einmischen und schon gar nicht werden wir ihnen einen möglichen Täter liefern. Leider können wir nicht mehr ungeschehen machen, dass Rolf gegenüber der Polizei etwas zu laut gedacht hat, damit müssen wir leben. Wenn er sich nämlich irrt und herauskommt, dass die Gemeindevertretung von Ginsberg zur Hexenjagd aufgerufen hat, wird die Presse erst recht über uns herfallen. Wir werden vorerst abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln, aber bis dahin will ich keinen von euch auch nur in der Nähe einer Fernsehkamera oder eines Mikrofons sehen. Villeroy wird den Kontakt zur Presse übernehmen. Und jetzt raus hier!“
Der Gemeindevertretung erhob sich geschlossen und strebte zur Tür. Garth fing Berger ab und führte ihn lächelnd zur Seite. “Eine Kleinigkeit noch, Rolf. Wenn du das nächste Mal das Bedürfnis hast, mir gegenüber so das Maul aufzureißen, kommst du in die Wurst. Verstanden?“
Villeroy wartete, bis die eiligen Schritte des Metzgers verklungen waren, dann räusperte er sich dezent.
“Wie sieht es aus?“, fragte Garth.
“Die Polizei hat alles abgesperrt, aber natürlich ist da draußen die Hölle los. Wer nicht an der Brandstelle ist, steht vor dem Rathaus. Ich habe mit einem Kripobeamten gesprochen und er wird uns auf dem Laufenden halten. Aber bevor nicht die Spurensicherung eingetroffen ist, sagen sie gar nichts.“
“Das ist natürlich ein Fest für meine Konkurrenten“, murmelte Garth düster. “Hat sich schon einer von ihnen zu Wort gemeldet?“
Villeroy schüttelte den Kopf. “Gernhardt würde eher auf die Presse schießen, als mit ihnen zu reden, und Stark hat noch kein Statement abgegeben, aber da kommt sicher noch was. Der ist zu sehr Profi, um sich die Gelegenheit entgehen zu lassen.“
“Dieser Schönling hat das Zeug dazu, Bundeskanzler zu werden. Warum verschwendet der sich an Ginsberg?“
Villeroy sah sich eilig um, ob jemand die Frage gehört hatte. “Du meine Güte, achte auf deine Worte! Mit so einer Frage könntest du deine Kandidatur beenden.“
“Ja, ja, schon gut“, wiegelte Garth ab.
“Nein, nichts ist gut. Du hast immer noch das Image des neureichen Geldsacks, der sich ein Dorf gekauft hat und sich für etwas Besseres hält. Daran werden wir nichts mehr ändern, selbst wenn du hundert Jahre im Ort lebst und in einer Einzimmerwohnung zur Untermiete wohnst. Dein Ferienvillenpark hat dich sehr unbeliebt gemacht, und seitdem das Projekt gescheitert ist, wird das alles auch oft und gerne ausgesprochen.“
“Das ist allein Maiwalds Schuld. Als er sich zurückgezogen hat, sind auch alle anderen abgesprungen.“
“Noch so ein Satz, der dich die Wahl kosten könnte. Wenn du anderen die Schuld an deiner Niederlage gibst, werden das höchstens die Verschwörungstheoretiker unter deinen Anhängern lieben.“
“Aber es stimmt“, protestierte Garth.
“Spielt doch keine Rolle. Du wirkst dadurch schwach und machtlos. Wenn es keine Ausrede, sondern die Wahrheit ist, dann wurdest du besiegt. Die Leute wollen niemanden, der eine Niederlage gut wegstecken kann, sondern einen Gewinner, der seine Gegner zum Frühstück verspeist. Sei dieser Gewinner!“
“Ich will, dass du da rausgehst und mit der Presse redest. Sag ihnen irgendwas Nettes.“
“Ist mir ein Vergnügen.“ Villeroy verließ den Konferenzraum und marschierte hinunter zur Eingangstür, die Max nur widerwillig öffnete. Sobald Villeroy ins Freie trat, reckten sich ihm Mikrofone entgegen und Fragen prasselten auf ihn ein.
“Wusste der Bürgermeister von den Drogen?“
“War es jemand aus dem Ort?“
“Gibt es noch mehr Verstecke?“
Villeroy hatte die Hände entspannt vor dem Schritt verschränkt und zwinkerte nicht einmal im Blitzlichtgewitter. Es war offensichtlich, dass er auf Ruhe wartete, aber die Reporter waren zu wild auf eine gute Geschichte.
“Wird durch das Feuer etwas vertuscht?“
“Wer sind die Hintermänner?“
“Ist die Feuerwehr von Ginsberg drogensüchtig?“
Schließlich zuckte er bedauernd mit den Schultern, wandte sich um und trat zurück durch die Tür, die Max hinter ihm schloss. Ein Aufschrei der Empörung drang durch das Holz. Villeroy überprüfte den Sitz seiner Krawatte, schaute gelangweilt auf seine Uhr und nach zwei Minuten ging er wieder nach draußen, um dieselbe Position wie zuvor einzunehmen. Ungerührt ließ er eine weitere Batterie Fragen an sich abprallen.
“Deckt das Rathaus die Drogenhändler?“
“Wer ist noch in den Fall verwickelt?“
“Nehmen Sie Drogen?“
Nach und nach wurde allen klar, dass Villeroy auf provozierende Fragen nicht antworten würde, und schließlich kehrte Ruhe ein. Erst als der letzte Reporter verstummte, räusperte sich der Anwalt. “Besten Dank. Nun meine Herrschaften, ich nehme an, dass Sie alle ähnliche Fragen haben, also lassen Sie uns doch auf zivilisierte Art und Weise an die Sache herangehen.“
Garth beobachtete vom Fenster des Konferenzraumes aus, wie sich die Menge um den Anwalt scharte und artig ihre Fragen stellte.
Kapitel Fünf
Das La Cucaracha befand sich in der ehemaligen Dorfmühle. Nur wenige der klobigen Holztische waren besetzt. Auf großen Tafeln wurde Werbung für einen hessischen Abend gemacht: Rippchen mit Handkäse gefüllt und in Apfelwein gekocht. Dazu Sauerkraut, ebenfalls in Apfelwein gekocht, und ein Bembel zum Nachspülen. Felix würgte trocken. Ein Mann kam hinter der Theke hervor und grinste. “Hey, Felix, wie geht es dir?“
“Antonio, ich möchte dir einen alten Freund von mir vorstellen, Tibor Hendricks. Er ist gerade zu Besuch. Tibor, das ist Antonio, es ist sein Laden.“
Sie tauschten einen freundlichen Händedruck und Antonio führte sie zu seinem, wie er sagte, besten Tisch. “Was kann ich euch bringen? Der Koch hat gute Laune, ich glaube, seine Burritos sind heute durchaus genießbar.“
“Wir wagen es.“
Antonio verschwand kurz in der Küche und tauchte kurz darauf mit zwei Bechern Kaffee auf.
“Der geht aufs Haus, für unseren neuen Gast.“
Tibor nahm einen großen Schluck von dem heißen Getränk und seufzte zufrieden. “Hier gefällt s mir.“
“Ja, ein gemütlicher Laden“, stimmte Felix zu. “Antonio war der erste Mensch, der mich nach meiner Scheidung zum Lachen gebracht hat.“
Tibor verschluckte sich an seinem Kaffee und sah hustend zu Felix, der nicht anders konnte, als über den überraschten Gesichtsausdruck zu lachen.
“Du warst verheiratet?“
“Ja, das einzig Abenteuerliche, was man hier unternehmen kann. Und was hast du in der großen weiten Welt getrieben?“
“Ich bin so eine Art Unternehmensberater geworden und werde immer gerufen, wenn irgendwo die Kacke am Dampfen ist. Das Büro ist in Berlin, aber die meiste Zeit bin ich unterwegs.“
“Verheiratet?“
“Nur lockere Beziehungen.“
“Kinder?“
“Nein, erwachsene Frauen.“
“Ich meine o“
“Ich weiß, was du meinst“, sagte Tibor und grinste. Sein letzter Versuch, mit jemandem zusammenzuleben, war am Gesundheitsbewusstsein seiner Partnerin gescheitert. Sie gestand ihm lediglich eine Zigarette nach den Mahlzeiten und die “Zigarette danach“ zu, mit dem Ergebnis, dass er zwanzig Kilo zulegte und sie so viel Sex hatten wie nie zuvor während ihrer Beziehung.
“Mein Job lässt mir leider keine Zeit für eine Familie. Ich reise von Stadt zu Stadt und lebe in Hotels.“
“Klingt abwechslungsreich.“
“Ist aber ziemlich langweilig. Obwohl man recht gut damit verdient. In ein paar Jahren lasse ich mich in den Innendienst versetzen, heirate und baue ein Haus für meine Frau und die Kinder.“ Tibor sagte das in einem Tonfall, als beschreibe er etwas, das auf keinen Fall für ihn infrage komme. “Und was treibst du so?“
“Ich bin selbstständiger Unternehmer, die erste Ich-AG in Ginsberg.“
Tibor wartete einen Moment, ob Felix dies noch genauer ausführte, dann hob er seinen Becher. “Ich glaube, das war vage genug.“
Sie prosteten sich zu und begannen das vergangene Jahrzehnt aufzuarbeiten. Die Bekannten von früher und was in der Zwischenzeit aus ihnen geworden war. Wer machte was, wer war mit wem verheiratet, geschieden, liiert. Wer hatte Affären, Kinder, Probleme. Wer war weggezogen und wohin. Zwei Mädchen aus ihrem Jahrgang waren vor Jahren bei einem Autounfall gestorben. Ein Junge, mit dem sie die Grundschule besucht hatten, war inzwischen ein hohes Tier in der Politik und der Klassenclown der vierten Klasse arbeitete als Dauerlaberer für einen Sender, der vierundzwanzig Stunden am Tag Ratespiele veranstaltete. Tibor kommentierte die Fakten mit Lachen, ungläubigem Kopfschütteln oder schadenfrohem Grinsen. Die wenigen Krankheits-, Schicksals- und Todesfälle wurden mit betroffenem Schweigen und anteiligem Anstoßen quittiert. Felix redete mit einer Offenheit, die er den meisten anderen Menschen nicht in den höchsten Sphären alkoholisierter Vertrauensseligkeit entgegenbringen würde. Tibor konnte er alles erzählen, ohne fürchten zu müssen, Tage später beim Einkaufen oder an der Tankstelle darauf angesprochen zu werden. Er würde es sich anhören, weiterziehen und es vergessen ¡ oder auch nicht. Der springende Punkt war, dass er es für sich behalten würde.
Das Essen kam. Als Vorspeise brachte Antonio Rühreier mit Schnittlauch und Scheiben scharfer Wurst. Er wartete, bis sie gekostet und ausgiebig gelobt hatten, dann verschwand er in der Küche, um sofort wieder voll beladen zu erscheinen. In der einen Hand hielt er eine Kanne Kaffee und auf dem Arm balancierte er eine Platte mit frischen Burritos und eine Schale mit klein geschnittenen Maiskolben, die in einer Chili-Koriander-Tomaten-Soße gewendet waren.
“Versucht Garth dich eigentlich immer noch aus der Mühle zu werfen?“, erkundigte sich Felix.
“Es kommt immer mal wieder ein Schreiben, aber ich glaube, er betreibt das nur noch ziemlich halbherzig.“ Antonio grinste stolz. “Mein Kampf um jeden einzelnen Kunden wurde belohnt.“
Dieser Kampf um Kundschaft nahm oft verstörende Züge an. Die Anschaffung einer Karaoke-Maschine hatte ihn mehr Gäste gekostet als jede andere seiner geschäftsfördernden Ideen zuvor. Viele im Ort versuchten wie er oder Gernhardt auf die Schnelle reich zu werden, doch Garth ließ nur ein bestimmtes Maß an Erfolg zu. Darüber hinaus gab es nur zwei Möglichkeiten: aufhören oder woanders weitermachen. Wer sich nicht daran gehalten hatte, hatte es immer bereut.
Antonio schnaufte kurz und klatschte dann aufmunternd in die Hände. “Aber ihr solltet euch davon nicht den Appetit verderben lassen, ein leerer Magen ändert nichts. Außerdem habe ich als Dessert Früchte mit Nelkensirup vorbereitet und es wäre ein Verbrechen, diese Leckerei verkommen zu lassen.“
Als Felix nach dem Essen zahlen wollte, übernahm Tibor die Rechnung. “Das setzte ich als Spesen ab, kein Problem.“
Sie traten in die Mittagssonne und setzen synchron ihre Sonnenbrillen auf.
“Wie geht es deinem Onkel?“, erkundigte sich Tibor.
“Das kannst du selbst feststellen. Sollen wir vorbeifahren?“
Tibor zögerte einen Moment. Auf der einen Seite interessierte er sich sehr für die Casa Gernhardt, wo er einen beträchtlichen Teil seiner Jugend verbracht hatte. Mit dem Gebäude verband er intensivere Gefühle als mit seinem Elternhaus. Auf der anderen Seite war eine Begegnung mit Onkel Leo selten ein angenehmes Erlebnis. Dazu musste man sich nur Felix anschauen. Der schlaksige Bursche mit der windzerzausten Frisur besaß meist einen ernsten Gesichtsausdruck. Wer Leo kannte, wusste, weshalb sein Neffe so dreinblickte.
“Wenn ich an früher denke“, sagte Tibor, “warst du nie ein sorgloses und fröhliches Kind, sondern immer wachsam oder besorgt.“
“Die Umstände haben mich so gemacht.“
“Die Umstände?“
“Onkel Leo“, erklärte Felix das Offensichtliche. “In seiner Gesellschaft sollte man immer mindestens ein Auge auf ihn haben.“
Das Haus der Gernhardts stach allerdings zwischen den anderen hervor. Die letzte Renovierung lag lange zurück. Der Putz wies viele feine Risse auf. Eine öffentliche Grünfläche mit dichtem Buschwerk war direkt vor dem Gebäude angelegt worden. Es machte den Eindruck, als wollte man dadurch das Haus verstecken und dieser Eindruck täuschte nicht.
“Hat sich kaum verändert“, sagte Tibor, als der Touareg auf den Innenhof rollte.
“Tja, diesen Sinn für Nostalgie wissen nicht alle zu schätzen.“
Zwischen den Pflastersteinen im Hof wucherte es ungebremst, auch wenn die gnadenlose Sonne jegliche Vegetation längst ins Bräunliche verfärbt hatte. Am Fuß der Treppe versetzte Felix dem baumelnden Punchingball gewohnheitsmäßig einen Haken, der ihn an der Hauswand entlangtanzen ließ. Sein Onkel hatte irgendwann die grandiose Idee gehabt, den angesammelten Krempel nicht mehr in Kisten im Keller zu verwahren, sondern an die zahlreichen Außenwände zu nageln. Entlang der Hauswand hingen in unregelmäßigen Abständen geflochtene Körbe, Kerzenhalter mit Spiegeln, ein geschnitzter Wurzelsepp aus einem längst vergessenen Urlaub, Blumenkübel mit verendeten Pflanzen, allerlei altertümliches Werkzeug, eine Sammlung von Laternen, kitschige Schattenrisse aus Metall, Nummernschilder lange verschrotteter Motorräder, verlassene Vogelhäuser, eine Schiffsglocke, Zinkeimer mit und ohne Füllung, ein Aschenbecher aus einem Zugwaggon, eine Dartscheibe und ein Nachttopf. In der Scheune hing sogar noch eine Leine mit ausgebleichter Babykleidung und ebensolchem Kinderspielzeug, von dem Felix annahm, dass sie aus Anlass seiner Geburt befestigt worden war. Weggeschmissen wurde nichts mehr. Die Trödelsendungen im Fernsehen hatten auch in Gernhardt die Idee verankert, dass sein ganzer Ramsch noch etwas wert sei. Jeder Schrott bedeutete mit einem Mal einen unentdeckten Schatz von bisher unerkanntem Wert.
Trotzdem befand sich das Grundstück für einen reinen Männerhaushalt in einem beinahe erträglichen Zustand. Was den Reiz ausmachte, stammte allerdings noch aus der Ära davor. Felix Mutter hatte sich in Ermangelung einer anderen Tätigkeit in der Gestaltung des Außengeländes verwirklicht. Ein stillgelegter Bauernhof bot dem geübten Auge ausreichend Material. So mussten Felix und sein Onkel schwitzend die steinernen Schweinetröge in den Hof schaffen, damit sie zum neuen Heim für Blumen und Kräuter werden konnten. Für Gernhardt waren die farbenprächtigen Gewächse nur Variationen von Unkraut. Aber er stellte schnell fest, dass es weniger zeit- und nervenaufreibend war, den Wünschen seiner Schwester zu entsprechen, als über Sinn und Nutzen der jeweiligen Tätigkeit zu diskutieren, um sie anschließend trotzdem auszuführen.
Tibor hatte nie verstanden, weshalb sein Freund es vorgezogen hatte, bei dem alten Querkopf zu leben. Zugegeben, eine richtige Familie hatte Felix nie besessen, aber ausgerechnet Gernhardt? Onkel Leo war ein harter Knochen. Tibor hatte nicht lange gebraucht, um das festzustellen. Genau genommen war es einer der ersten Eindrücke gewesen, als er ihn kennenlernte. Felix verhielt sich damals in Gegenwart seines Onkels zurückhaltend, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, denn Gernhardt konnte ihn mit einer einzigen ätzenden Bemerkung auf das Mindestmaß zurechtstutzen. Und dass er es gerne tat, sprach nicht unbedingt für ihn.
“Da drüben vor der Scheune liegt ein toter Hund“, sagte Tibor leicht erschrocken.
“Das ist Groucho, der schläft immer so.“
Aus dem Wohnzimmer dröhnte der Fernseher in ohrenbetäubender Lautstärke. Leo Gernhardt saß in seinem alten, damals schon hässlichen Fernsehsessel und betrachtete mit ausdruckslosem Gesicht die Bilder eines Zugunglücks.
“Leo, erinnerst du dich noch an Tibor Hendricks? Er ist hier, um seine alte Heimat zu besuchen.“
Gernhardt drehte den Kopf und musterte Tibor. Sogar wenn er saß, wirkte er kernig und fit. Die Unterarme, die aus den hochgekrempelten Ärmeln seines karierten Arbeitshemdes hervorlugten, waren hart und sehnig. Doch das war nichts, verglichen mit seinem Gesicht. Eine steinerne, tief gefurchte Gebirgslandschaft mit zwei stechenden Augen. Das Auffälligste an ihm, damals wie heute, war jedoch der altmodische Backenbart. Diese endlos wuchernden Koteletten, die in grauen Büscheln bis in die Kinnpartie reichten und ihm etwas Wildes und Animalisches verliehen.
“Lange nicht gesehen, wo hast du deine Haare gelassen?“, knurrte Gernhardt.
Tibor klopfte hektisch die Taschen seines Anzugs ab. “Nanu, irgendwo müssen sie doch sein“, flüsterte er mit gespielter Panik.
“Prima, noch so ein Spaßvogel“, murmelte Gernhardt und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Für ihn war das Gespräch beendet. Er konnte sich nicht an Tibor erinnern. Die alten Schulfreunde seines Neffen existierten nur als diffuser, lärmender Schleier in seiner Erinnerung. Der Spruch mit den Haaren war ein Schuss ins Blaue gewesen, da die wenigsten Männer bereits in ihren Zwanzigern eine Glatze hatten. Jedenfalls nicht freiwillig. Aber war Tibor nun der trockene Alkoholiker, der um das Sorgerecht für seine Tochter kämpfte, oder der Trottel, der seit Jahren vergeblich versuchte, eine richtige Fernsehshow zu bekommen? Die Geschichten kreisten in seinem Kopf unsortiert durcheinander. Felix hielt ihn immer auf dem Laufenden und er nickte nur dazu, als würden ihm die Namen wirklich etwas sagen.
“Er hat sich überhaupt nicht verändert“, bemerkte Tibor, als sie nach oben gingen.
“Er ist älter geworden.“
Felix Zimmer war eingerichtet wie eine Studentenbude. Die beneidenswerte Unbekümmertheit, mit der alle Gegenstände wie durch Zentrifugalkraft im Raum verteilt waren, zauberte ein Lächeln auf Tibors Gesicht. Sie waren im Begriff, sich zu setzen, als o
“FELIX!“ Für gewöhnlich sprach Leo Gernhardt mit einer leisen, heiseren Stimme, die seltsam abgehackt klang, so als würde ihm gegen Ende jedes Satzes der Atem zum Weitersprechen fehlen. Doch diesmal schien er über ausreichend Luft zu verfügen.
“Das ist mein Onkel“, erklärte Felix überflüssigerweise. “Ich sehe mal besser nach, was er wieder hat.“
Tibor folgte ihm nach unten ins Wohnzimmer, wo Gernhardt mit hochrotem Gesicht saß und schimpfte. “Ich habe immer gesagt, dass es nicht gut geht, ich hab es von Anfang an gesagt, aber auf mich hört ja keiner.“
“Was ist denn?“
“oman kriegt die Natur einfach nicht aus den Viechern raus, aber das interessiert ja keinen, bis er eines Tages jemanden zerfleischt. Verfluchter Köter.“
“Was ist denn los? Haben wir wieder zu viel Jod im Trinkwasser?“, fragte Felix und blickte zu Groucho, der träge in der Ecke lag.
“Red nicht solchen Mist!“
“Was ist passiert?“
“Was passiert ist? Der verdammte Köter hat meine Blutdruckpillen gefressen.“
“Sie werden ihm schon nicht schaden.“
“Wen interessiert der Hund? Mir wird es schaden. Ich brauche diese Pille, sonst schießen meine Werte in die Wolken.“
“Ich glaube, er steigt schon“, bemerkte Felix.
“Dann besorge mir eine Pille.“
“Woher?“
“Aus meinem Nachtisch, woher sonst? Muss man dir denn jeden Handgriff erklären? Bring gleich zwei mit, ich glaube, die werde ich brauchen“, rief Gernhardt seinem Neffen hinterher, dann erst merkte er, dass er sich allein mit Tibor im Wohnzimmer befand. Er hatte keine Lust auf Small Talk. Momentan nicht und auch sonst nie.
“Ginsberg hat sich inzwischen ganz schön herausgemacht“, bemerkte Tibor, um nicht weiter peinlich berührt im Raum stehen zu müssen. Er betrachtete einen gerahmten Zeitungsausschnitt an der Wand mit einem Bild von Garth und Gernhardt bei der Bürgermeisterwahl. Garth hatte damals mit überwältigender Mehrheit gewonnen und Gernhardt konnte nach Hause gehen. Ginsberg hat den Fortschritt gewählt, protzte die Überschrift.
Gernhardt gab einen missmutigen Ton von sich. “Lass dich von der friedlichen Oberfläche nicht täuschen. Hier geht es zu wie im Wilden Westen.“
Felix kam zurück und drückte seinem Onkel zwei Pillen in die Hand, die dieser trocken herunterschluckte.
“Ich habe damals nicht viel von Garth mitbekommen“, sagte Tibor. War zu sehr mit meinen Fluchtplänen beschäftigt, dachte er.
Gernhardt schenkte ihm nun doch seine Aufmerksamkeit. “Man muss schon den Hut vor Garth ziehen. Er hat sich den Ort so schnell unter den Nagel gerissen, dass es kaum einer mitbekommen hat. Und die Speichellecker im Dorf haben sich ihm sofort an den Hals geschmissen. Er wusste, wie er die Menschen zu nehmen hat. Alle waren zufrieden und keiner kam auf die Idee, nach dem Preis zu fragen. Sie haben einfach vergessen, was sie ihren Kindern bei jeder Gelegenheit predigten, dass man nämlich im Leben nichts umsonst bekommt. ¡ Setzt euch doch“, bot Gernhardt überraschend an, und sie waren zu perplex, um schnell genug eine akzeptable Ausrede zu erfinden. Felix hätte es Tibor gerne erspart, doch der schien sich für Gernhardts Gerede tatsächlich zu interessieren.
“Er stellt sich als einer von ihnen dar“, erklärte Gernhardt, “obwohl er in einem millionenschweren Palast wohnt, und sie glauben es. Sie fressen ihm aus der Hand und lassen ihm alles durchgehen. Nur ein Beispiel: Er betrog seine erste Frau pausenlos. Als sie endgültig genug hatte und die Scheidung wollte, erstritt Villeroy seinem Chef vor Gericht das Sorgerecht für die Kinder mit den geschmacklosesten Verleumdungen, für die seine kranke Fantasie ausreichte. So ein Verhalten hätten die Leute hier keinem ihrer Nachbarn durchgehen lassen. Und kaum war die Scheidung durch, heiratete er diesen Filmstar. Ein ziemlicher Feger. Aber kein blondes Dummchen. Sie hat mächtig was auf dem Kasten und ist ziemlich gerissen. Jeden anderen hätten sie dafür an den Pranger gestellt, aber nicht Garth. Nein, ihn nicht. Sie könnte fast seine Tochter sein, aber wozu verdient man denn so viel Kohle? Natürlich, um sich das Beste vom Besten leisten zu können, und Garth ist Gourmet. Leider hat er versäumt, die Dame besser kennenzulernen, bevor er sie ehelichte. Er ist auf ihre oberflächlichen Reize abgefahren, ohne das Kleingedruckte zu lesen.“
Gernhardt kicherte und kramte seinen Tabak hervor. Tibor bot ihm seine Schachtel an und Gernhardt bediente sich mit einem dankbaren Nicken.
“Du scheinst das Garth zu gönnen“, sagte Tibor und stieß eine Rauchsäule aus dem Mundwinkel.
“Worauf du wetten kannst. Dieses Wochenende ist Bürgermeisterwahl und bei Garth findet eine Siegesparty statt, die erste anscheinend schon heute Abend. Da gehen irgendwelche Schnarchnasen ein und aus und lassen die Sau raus. Kommt ihm bestimmt ziemlich ungelegen, der Brand in dem Schuppen.“
Für einen Moment war Tibor überrascht, dass Gernhardt Bescheid wusste, aber er erinnerte sich, mit welcher Geschwindigkeit Neuigkeiten in Ginsberg die Runde machten. Damals schon und heute offensichtlich noch genauso. Er lächelte. “Vielleicht schau ich mal auf der Party vorbei.“