Kitabı oku: «Zeit zählt», sayfa 2

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In letzter Konsequenz geht es Abbott dabei um mehr als »nur« Historische Soziologie, nämlich um die grundlegende Revision einer (zeitgenössischen) Soziologie, die seiner Auffassung nach zu einer hochgradig problematischen, wenn nicht falschen, weil nicht prozesshaften Beschreibung der sozialen Realität tendiert. Konsequenterweise wird sich Abbott dann ab den 1990er Jahren in immer neuen Anläufen der Formulierung einer prozesssoziologischen Alternative widmen, einem Vorhaben, das in die damalige Forschungslandschaft so recht nicht passte und deshalb die nun schon mehrfach erwähnten Rezeptionsschwierigkeiten begründete.

IIIAuf der Suche nach sozialtheoretischer Anschlussfähigkeit

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum Abbotts Argumente in den 1980er Jahren zwar zur Kenntnis genommen werden, tatsächlich aber nur wenig ausrichten. Der Punkt ist dabei offensichtlich nicht, dass er nicht alle und jeden sofort überzeugte. Das konnte ein junger Nachwuchswissenschaftler nicht erwarten. Auffallend ist aber schon, wie wenig anschlussfähig Abbott in manchem nationalen und disziplinären Kontext damals war, was sich freilich mittlerweile geändert hat oder sich zumindest zu ändern beginnt.

a. Radikaler Historismus

Abbott legt seine frühen, stark auf die Geschichtswissenschaft zugehenden Aufsätze ebenso wie sein historisch argumentierendes Professionenbuch in einer Zeit vor, in der Skocpol und Tilly zusammen mit Kollegen wie Reinhard Bendix, Anthony Giddens, John A. Hall, Michael Mann, Barrington Moore oder Dietrich Rüschemeyer daran arbeiten, der englischsprachigen Historischen Soziologie zu einer ersten Blüte zu verhelfen. Sie ist in den 1980er und 1990er Jahren theoretische Avantgarde.40 Abbott bleibt jedoch Zaungast, da er in mehrfacher Hinsicht zu radikal argumentiert, nämlich zu historisch, gleichzeitig theoretisch zu komplex und zu wenig offensichtlich an einer bestimmten Form soziologischer Modellierung orientiert und interessiert.

Abbott selbst ist sich seiner Randständigkeit bewusst, jedoch nicht gewillt, in den historisch-soziologischen Mainstream einzurücken. In seinen Augen folgt die Historische Soziologie seiner Zeit zu sehr der Vorstellung einer allgemeinen Linearität kausaler Verhältnisse, anstatt die narrative Ordnung des Sozialen anzuerkennen:

»If there is any one idea central to historical ways of thinking, it is that the order of things makes a difference, that reality occurs not as time-bounded snap-shots within which ›causes‹ affect one another […], but as stories, cascades of events. And events, in this sense, are not single properties, or simple things, but complex conjunctures. On this argument, there is never any level at which things are standing still. All is historical.«41

Selbst wenn spätere Historische Soziologen diese von Abbott frühzeitig angemahnte Vorsicht gegenüber bestimmten Methoden und Kausalannahmen tatsächlich auch beherzigen sollten,42 änderte dies doch eben nichts an der Tatsache, dass dessen Argumente im Prinzip viel zu früh kamen, als dass sie seinerzeit in der angloamerikanischen Historischen Soziologie angemessen hätten gewürdigt werden können. Damals glaubte das Gros der Beteiligten noch fest daran, generalisierbare Konstellationen von Variablen (im Sinne des kausalen Zusammenspiels problemlos identifizierbarer Einheiten) finden zu können – beispielsweise um zu erklären, warum sich die Demokratie in England und den USA im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzen konnte, nicht aber in Deutschland.

Als die Blüte der Historischen Soziologie bereits leicht zu welken beginnt, erinnert Craig Calhoun bekanntlich daran, dass es ihr ursprüngliches Ziel gewesen sei, die Sozialtheorie und soziologische Theorie grundlegend zu historisieren – und damit auch entscheidend zu verändern. Doch stattdessen, so Calhoun, habe sie sich domestizieren lassen, sie habe sich an die in bloßen Variablen-Kategorien denkende Mainstream-Soziologie angeglichen.43 Abbott dagegen hat sich, so ließe sich argumentieren, jeder Domestizierung verweigert. Er beharrt bis heute auf einer prozessorientierten Perspektive. Es ist kein Wunder, dass er mit einer solchen Haltung im angloamerikanischen Kontext randständig geblieben ist.44

b. Klub-Aversion

Damals wie heute ist Abbott nicht bereit, sich klar irgendwelchen politischen oder theoretischen Traditionen zuzuordnen, sodass er noch stets Irritationen verursacht bei all denen, die ihn und seine Argumente zu vereinnahmen suchen. Er pflegt fast demonstrativ seinen Status als Solitär, für Klubs jeder Art ist er kaum zu haben. Wie er in einer autobiografischen Skizze über seine Zeit als Schüler und Student in den so bewegten 1960er Jahren erzählt, schwankte Abbott nicht nur zwischen diversen wissenschaftlichen Interessen, die sich auf die Literaturwissenschaft ebenso beziehen konnten wie auf die Biologie. Auch ein klares politisches Engagement wie im Fall vieler seiner gleichaltrigen und später berühmt werdenden Kolleginnen aus der Soziologie vermochte er nicht aufzubringen, zu skeptisch war sein Blick auf den Politikbetrieb, als dass er sich diesem umstandslos hätte hingeben können.45

Zur Leitfigur einer politisch engagierten Soziologie taugt Abbott somit denkbar schlecht – was in gleicher Weise für eine Verortung in einer bestimmten wissenschaftlichen Tradition gilt. Zwar hatte Morris Janowitz ihn in Chicago bei seiner Promotion begleitet,46 der mit der Theorierichtung des Symbolischen Interaktionismus und seinem soziologischen Gründungsvater Herbert Blumer eng verbunden war. Doch Abbott selbst hatte ein alles andere als unkritisches Verhältnis zu dieser Theorietradition, auch wenn er durchaus viele Gedanken daraus schöpfen und ihr gar eine Monografie widmen sollte47 – und ihr daher oft auch zugerechnet wird. Dabei ist aber Vorsicht geboten. Es ist zweifellos richtig, dass Abbott sich auf die klassische Chicago School of Sociology48 und auf den späteren Symbolischen Interaktionismus bezieht und dabei Konzepte wie »Ökologie« oder »Karriere« aufgreift.49 Aber Abbott überlegt sich bis heute sehr genau, was er für seine Theoriezwecke zu entlehnen bereit ist und was nicht.50

Eine dritte Klub-Aversion besteht schließlich darin, dass Abbott sich so mancher Grundsatzdebatte entzieht, obwohl sich seine Beteiligung gerade durch seine vertiefte Kenntnis der Chicago School of Sociology eigentlich angeboten hätte. So war ja die internationale Soziologie der 1970er und 1980er Jahre durch heftige Auseinandersetzungen zwischen System- und Handlungstheoretikern gekennzeichnet, in denen – aufseiten der Handlungstheoretiker – immer auch Vertreter mit Affinitäten zum Symbolischen Interaktionismus eine wichtige Rolle spielten. Dazu zählten etwa Hans Joas mit seinem Buch Die Kreativität des Handelns aus dem Jahre 1992 oder – im US-amerikanischen Kontext – Anselm Strauss mit seinem ein Jahr später erschienenen Continual Permutations of Action.51 Beide versuchten, ein reichhaltigeres und stimmigeres Handlungsmodell zu gewinnen, als es von so unterschiedlichen Theorietraditionen wie dem Parsons’schen Wertfunktionalismus oder Rational-Choice-Ansätzen angeboten wurde. Abbott freilich findet solche Debatten seit jeher nicht sonderlich interessant,52 nicht zuletzt weil ihm das Verhältnis von Stabilität und Prozess als eine zu lösende Theorieaufgabe der Sozialwissenschaften wichtiger ist als »nur« handlungstheoretische Probleme oder das Verhältnis von Handeln und Struktur.53

Abbott ist letztlich kaum zu fassen, sogar dort, wo man am ehesten Klubzugehörigkeiten vermuten dürfte: Obwohl er einer der wenigen Soziologen ist, die sich, belehrt durch literaturwissenschaftliche Debatten, frühzeitig mit der auch für die Soziologie unvermeidbaren Problematik von Narrativität vertraut gemacht hatten, weigert er sich beharrlich, sich Diskussionssträngen umstandslos anzuschließen, die das Terrain bereits durchziehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihm immer daran lag, die Eigenart und die Komplexität soziologischer Argumente zu wahren, was es notwendig machte, literaturwissenschaftliche oder historistische Positionen zu transzendieren. Dadurch gelang es, die dort tätigen Autorinnen stets aufs Neue zu provozieren, etwa mit seiner auf sich selbst bezogenen, in vielen Ohren nach einem Oxymoron klingenden Redeweise von einem »narrativen Positivismus«.54 Abbott plädiert damit für eine Rehabilitation der Erzählung und kritisiert das Denken in großen Struktur- und Prozesskategorien, wodurch er (kontingente) Ereignisse und ihre Folgen tatsächlich auch ernst nimmt, zumindest so ernst, dass er sie für wert erachtet, theoretisiert zu werden. Gleichzeitig will er nicht darauf verzichten, Ereignissequenzen zu formalisieren.55 Es sei gerade die Aufgabe der Sozialforscherin, durch präzise Begriffsarbeit festzustellen, was ein Ereignis und was eine Okkurrenz sei und dann darauf zu achten, ob sich nicht typische Ereignisfolgen zeigen, die sich eben in typischen Erzählungen wiedergeben lassen. Dazu könnten disziplinspezifische Wandlungsprozesse in der Wissenschaft,56 die Ausbreitung von Gerüchten ebenso wie die Diffusion von Innovationen zählen.57 Für all diejenigen, die sich in der damaligen Zeit – wie dies etwa in der qualitativen Sozialforschung der Fall war – Narrationskonzepten anzunähern begannen, war Abbotts provozierende Aufrufung des Positivismusbegriffs natürlich ein Affront. Viele Anhänger konnte er sich durch die Einnahme einer solchen Position sicherlich nicht erhoffen.

c. Landesspezifische Rezeptionskonjunkturen

Neben Abbotts radikalem Historismus und seiner Klub-Aversion spielen schließlich auch noch höchst unterschiedliche Temporalitäten eine Rolle, wenn man erklären will, warum sein Werk in manchen Ländern – zumindest in jüngster Zeit, wie in Frankreich – eine durchaus starke Rezeption erfahren hat, während sie sich beispielsweise in Deutschland noch immer in Grenzen hält. Man darf nicht vergessen, dass eine Rezeption des Symbolischen Interaktionismus in Deutschland vergleichsweise früh erfolgt ist, weil etwa Jürgen Habermas bereits in den späten 1960er Jahren mit seinem großen Literaturbericht zu den Sozialwissenschaften58 auf die damaligen Theorieentwicklungen in den USA aufmerksam machte und dann Soziologen wie Joachim Matthes mit diversen Publikationen und Übersetzungen59 Theorieimporte unternahmen – was den Eindruck erwecken konnte, dass alles Wesentliche, das aus dieser Richtung kommt, bereits zur Kenntnis genommen und abgearbeitet sei. In der Tat fällt es heute in der deutschsprachigen Soziologie schwer, eine klar konturierte Theorierichtung ausfindig zu machen, die sich Argumenten von Mead, Blumer und anderen verpflichtet fühlt.

Die Situation war demgegenüber in Frankreich eine ganz andere, führte man hier doch bis hinein in die späten 1990er Jahre die Debatte um den Strukturalismus und Poststrukturalismus60 und stellte sich in dieser Zeit dann auch die Dominanz des Werkes von Pierre Bourdieu ein. Es gab in dieser Phase kaum ein Bedürfnis, sich mit US-amerikanischen Theorien zu beschäftigen. Das begann sich fundamental erst mit dem Tod Bourdieus im Jahre 2002 zu ändern. Seither gibt es eine verstärkte – und im Vergleich zu Deutschland sehr späte – Rezeption der Ethnomethodologie und des Symbolischen Interaktionismus, was sich auch daran zeigt, dass in den sozialwissenschaftlichen Abteilungen der Buchläden seither französische Übersetzungen von Erving Goffman oder Howard S. Becker zu finden sind, die schon vor langer Zeit ins Deutsche übersetzt worden waren oder – weil wohl für die Nachfrage auf dem deutschen Buchmarkt zu spät erschienen – dann auch nie ins Deutsche übersetzt worden sind.

Die französische Rezeption der genannten US-amerikanischen Theorien hat dann auch zu einer Strömung geführt, die unter dem Namen »pragmatische Soziologie« firmiert und der sich u.a. Luc Boltanski und Laurent Thevénot, Bénédicte Zimmerman oder Danny Trom, Michel Callon oder Bruno Latour zurechnen – oder zugerechnet werden. So unterschiedlich sie im Einzelnen auch argumentieren mochten, waren sie sich doch darüber einig, dass man, erstens, zur Vermittlung zwischen der Situation der Handelnden und sozialen Strukturen zunächst einmal erstere detailliert analysieren müsse, dass es, zweitens, gelte, einen naiven soziologischen Objektivismus zu brechen (weshalb sie auch die Nähe zu Historikerinnen suchten), und dass man, drittens, weder die Kohärenz des Ich unterstellen noch die Fluidität von Machtbeziehungen ignorieren dürfe.61 Es ist deshalb nicht überraschend, dass sich dieser Autorenkreis dafür zu interessieren begann, was Abbott konzeptuell anbietet. Es entstand ein Kontext, in dem ab Mitte der 2000er Jahre das Werk Abbotts in Frankreich zunehmend rezipiert wurde – wobei diese Rezeption sich mit zwei weiteren theoretischen Trends verknüpft. Seit den 1990er Jahren gibt es auch in der französischen Geschichtswissenschaft, hier vor allem in der Mikrohistorie,62 verstärkte Reflexionen auf das Verhältnis von Mikro und Makro und darüber dann auch auf Fragen von Kausalität und Kontingenz.63 Zusätzlich versuchen einige Politikwissenschaftler wie etwa Michel Dobry,64 herkömmliche Linearitätsannahmen und teleologische Unterstellungen, die sich in vielen sozialwissenschaftlichen Erklärungsdesigns finden, zu unterlaufen und theoretische Gegenentwürfe zu formulieren. Abbott gehört damit zwar noch immer keinem Klub an, ist aber auch nicht (mehr) allein auf seiner Suche nach der verlorenen Zeit.

IVWeiter auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Spätestens seit den 1990er Jahren zeichnet sich ab, dass Abbott aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit Ereignissen und Sequenzen auf eine Art Soziologie hinsteuert, die sich von herkömmlichen sozialtheoretischen Konventionen unterscheidet. Er legt seither die Grundzüge eines Forschungsprogramms vor, bei dem es ihm nicht in erster Linie darum geht, soziale Prozesse im Sinne von besonderen oder irgendwie außergewöhnlichen Vorkommnissen zu untersuchen. Er fragt vielmehr danach, wie eine Soziologie aussehen muss, die mit guten Gründen annimmt, dass sie es mit einer prinzipiell flüchtigen Realität zu tun hat, mit einer Realität, die prozesshaft organisiert ist und in der stabile Zustände eher als erklärungsbedürftige Ausnahmen zu gelten haben.

In diesem Zusammenhang stellt sich Abbott zunehmend auch ontologische Fragen oder zumindest solche, die auf ontologische Probleme verweisen. Neben seiner kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Gründerfiguren des Amerikanischen Pragmatismus und des Symbolischen Interaktionismus beginnt er in dieser Zeit, sich mit Philosophen wie Henri Bergson und insbesondere mit Alfred North Whitehead zu beschäftigen.65 Dadurch gewinnt er wiederum grundlegende Einsichten, die mit denjenigen, wie sie in der Mainstream-Soziologie vorherrschen, kaum in Einklang zu bringen sind.66 In seinem 2016 veröffentlichten Aufsatz La Conception de l’ordre dans la sociologie processuelle67 ordnet Abbott seine Theoriebaustrategie, die sich in den 1990er Jahren entwickelt, aber rückblickend in eine bestimmte, sehr viel bekanntere Tradition des sozialen und politischen Denkens ein. Dafür unterscheidet er grob zwischen historischen Denkern und Philosophen wie Machiavelli, Vico und Montesquieu auf der einen Seite – und eher ahistorisch argumentierenden Ordnungsdenkern wie Hobbes oder Rousseau auf der anderen. Folgt man Abbott, ist den drei erstgenannten Autoren ein prozessualer Blick zumindest nicht fremd – auf eine Weise, die ihm, Abbott, sehr naheliegt. Es gibt vier zentrale Aspekte, die dieses Prozessdenken auszeichnen.

1)Ordnungsdenker verweigern sich zwar nicht der Idee des sozialen Wandels, sie unterstellen aber, dass Ordnungen zu Konflikten führen, diese Ordnungen damit aufgelöst oder zerstört werden, bis dann eine neue Ordnung eintritt. Die zentrale Prämisse dieses Denkens ist also ein Gleichgewichtsmodell, das vom Normalfall der Ordnung ausgeht und in dem der konfliktbedingte Wandel deshalb die Ausnahme darstellt. Abbott hingegen will mit dieser Vorstellung brechen und behauptet deshalb, dass die Realität per se eine Prozesshafte sei.68 Für die Sozialtheoretikerin gilt es deshalb zu klären, wie aus Prozessen vermeintlich stabile Zustände werden.

2)Damit eng verknüpft basieren Ordnungsmodelle auf der theoretisch nicht zu rechtfertigenden Vorstellung, dass das Telos des sozialen Wandels immer ein irgendwie stabiler Zustand sei, der darüber hinaus in normativer Hinsicht als ein wünschenswerter oder bevorzugter betrachtet werden müsse. Von diesen normativ unterlegten Teleologien habe sich eine Prozesssoziologie dagegen frei zu machen, weil sich nur so ein vorurteilsloser analytischer Blick auf das Soziale gewinnen lasse.

3)Ordnungsmodelle haben Abbott zufolge zudem die negative Eigenschaft, dass sie nur selten die Frage stellten, für wen diese Ordnung gut bzw. vorteilhaft ist oder sein soll. Indem diese Frage zumeist im Hintergrund verbleibe, werde gleichzeitig auch übersehen, dass – so Abbott – Ordnung immer wieder neu und immer wieder anders produziert wird, ein Aspekt, der sich nur dann erschließt, wenn man konsequent eine prozessuale Herangehensweise verfolgt.69

4)Ordnungsdenken ignoriert – im Unterschied zum Prozessdenken – die notwendige Einsicht, dass Ordnung sehr Verschiedenes bedeuten kann, dass die Ordnung sozialer Gruppen strukturell und temporal in der Regel ganz anders verfasst und reguliert ist als etwa diejenige der individuellen Biografie und dass beide nicht miteinander harmonisieren müssen. Deshalb ist die ordnungstheoretische Vorstellung einer zwanglosen Einbettung des Individuums in eine größere soziale Einheit höchst problematisch.70

Die vier genannten Aspekte umreißen ein Forschungsprogramm, das Abbott selbst zuerst und gleichzeitig am schlagendsten – gerade im Hinblick auf ihre kontraintuitiven Momente – in dem 1995 erschienenen Aufsatz Things of Boundaries umsetzt.71 Hier heißt es zunächst:

It is easier to explain stasis as an emergent phenomenon in a fundamentally changing universe than vice versa. Social theories that presume given, fixed entities – rational choice being the obvious current example – always fall apart over the problem of explaining change in those entities, a problem rational choice handles by ultimately falling back on biological individuals, whom it presumes to have a static, given character. But it is very nearly as difficult to account, in a processual ontology, for the plain fact that much of the social world stays the same much of the time. Here, too, is the problem of entities and boundaries.«72

Um das Problem fragiler Einheiten und Grenzziehungen zu bearbeiten, gilt es – so Abbott – nicht, danach zu fragen, was eigentlich die Grenze von Phänomenen oder Dingen ist, das wäre »the boundary of things«. Es ist vielmehr sinnvoll, die Fragerichtung umzudrehen, sich also damit zu befassen, was Grenzen eigentlich sind (die »things of boundaries«), weil nämlich gilt: »Social entities come into existence when social actors tie social boundaries together in certain ways. Boundaries come first, then entities.«73 Erst aus Grenzziehungen, die Akteure vornehmen, ergeben sich – unter Umständen, mal erfolgreich, mal weniger erfolgreich – Entitäten.74

Es ist dann zum einen die Aufgabe einer prozessualen Soziologie, sich damit auseinanderzusetzen, wie sich diese Schaffung von Einheit ereignet (wobei, um es nochmals zu betonen, auch die Einheit und Kontinuität von individuellen Personen für Abbott keine gegebene Tatsache, sondern eine empirisch zu untersuchende Frage ist).75 Zum anderen besteht ihre Aufgabe darin, zu untersuchen, wie diese Ereignisse im Sinne von Sequenzen miteinander verkettet sind und wie sich diese Verkettung erzählen lässt.76 Abbott argumentiert hier in Übereinstimmung mit Positionen aus der Prozessphilosophie, die sich in den Arbeiten ihrer Vertreterinnen jeweils deutlich unterscheiden mögen, die aber doch eine wesentliche Prämisse teilen:

»In a dynamic world, things cannot do without processes. Since substantial things change, their nature must encompass some impetus to internal development. In a dynamic world, processes are more fundamental than things. Since substantial things emerge in and from the world’s course of changes, processes have priority over things.«77

Abbott will seine Position aber – und dies ist zu betonen – nicht als eine bloß metaphysische (oder gar nur: sozialkonstruktivistische) Haltung verstanden wissen, sondern betont darüber hinaus immer auch stets, dass es ihm (und der Prozesssoziologie) um Ereignisse mit kausaler Wirkung gehe. Morgan Jouvenet bringt diese Perspektive treffend auf den Punkt:

»The defensibility of an entity, its ›structural resilience‹, is associated with its ›causal authority‹, which increases with the number and solidity of its footholds in different orders of reality (or in ›several different dimensions of difference‹), and with the ›connections‹ that these forge ›across long reaches of the social world.‹«78

Die Arbeit der Sozialforscherin endet nicht in Beweisen, was alles konstruiert sei. Aus Sicht Abbotts ist die gesamte soziale Welt von den Akteuren ohnehin immer schon konstruiert. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, sofort nach der kausalen Wirkung dieser Ereignisse in einem Kontext und nach Ereignisverkettungen und ihren jeweiligen Temporalitäten zu fragen. Wie Abbott deshalb im Anschluss an den späten Mead sagen wird, ist die soziale Welt eine Welt von Ereignissen79 – und nicht eine von (fixierten) Entitäten oder Gebilden.80 Um es auch an dieser Stelle noch einmal zu betonen: Abbott denkt somit nicht in Kategorien einer beständigen sozialen Welt mit darin vorfindbaren Dingen und Gebilden, sondern an eine Welt als Bündel von Prozessen, weil sich eben auch die vermeintlichen Entitäten stets neu konstituieren und transformieren.81 Daraus folgt zudem, dass Abbotts Schriften ein scharfer antiteleologischer Zug durchzieht: Denn der Sozialforscherin ist die Welt nie als ganze gegeben. Eine »vollständige Darstellung des sozialen Prozesses«82 muss scheitern, aus der Vergangenheit lässt sich niemals eine zusammenhängende Erzählung generieren.83 Möglich ist allenfalls der Blick auf einzelne prozessuale Abläufe,84 deren Zusammenspiel aber nicht vorhersehbar, auch nicht retrospektiv vollständig rekonstruierbar ist. Die Soziologie kann höchstens anstreben, räumlich und zeitlich begrenzte Kausalitäten, solche, die in einem ökologischen Raum nachvollziehbar sind, aufzudecken.85 – Kausalität ist hier somit weder deterministisch noch teleologisch gedacht, sondern im Grunde singulär. Abbott vertritt die Position, dass Okkurrenzen im Sinn von immer wieder aufs Neue stattfindenden Gegenwarten weder in einer umfassenden Weise durch ihre Vergangenheiten noch durch ihre Zukünfte bestimmt sind. Die jeweilige Gegenwart ist vielmehr »stets offen für neues Handeln […], während sie gleichzeitig jederzeit Vergangenheit wird, ja, dass es das Handeln in der Gegenwart ist, das die Gegenwart zur Vergangenheit macht«86. Es ist daher kaum verwunderlich, wenn Abbott allzu großflächigen Prozessbegriffen, wie sie in den Sozialwissenschaften gängig sind, mit größter Skepsis gegenübersteht.87 Geschichte ist für Abbott die Abfolge prekärer Gegenwarten – Gegenwarten, die immer auch sofort vergehen, dadurch aber soziale Realität konstituieren.88

Der Fokus auf die Gegenwart, der sich nun bei Abbott findet, dessen wissenschaftliche Laufbahn – wie gesehen – mit einer Historischen Soziologie von Professionen begann, bedeutet selbstverständlich nicht, dass er nun einen ahistorischen Zugriff auf das Soziale bevorzugt. Ganz im Gegenteil: Abbott redet, angelehnt an Clifford Geertz’ Ausdruck der »dichten Beschreibung«, von »dichten Gegenwarten«89. Diese Gegenwarten lassen sich immer nur zeitlich und räumlich lokal erfahren,90 sie sind unvermeidlich indexikal. Eine globale Gegenwart, d.h. die Gleichzeitigkeit aller sozialen Ursachen, ist nicht denkbar, denn »es dauert, bis Ursachen und Wirkungen durch die Sozialstruktur gesickert sind«91, weil etwa die kausalen Effekte des Handelns von Akteur A auf Akteur B unmittelbar und sofort sichtbar sein mögen, diejenigen auf C jedoch erst sehr verzögert auftreten können, weshalb die Vorstellung einer universellen Gegenwart, die man als Newton’sche Gegenwart in ihrer Gänze erkennen könnte,92 (zumindest für die soziologische Forschung) fehlgeleitet wäre.

»Genau genommen definiert jeder ›Radius‹ um ein bestimmtes fokales Ereignis im Wesentlichen einen ›Wirkungskegel‹, der in die Vergangenheit zurückreicht, sodass eine Wirkung, die von irgendeinem Ereignis ›innerhalb‹ dieses Kegels ausgesandt wird, bereits von dem fokalen Ereignis oder den ›Nachfolgern in seiner Entwicklungslinie‹ erfahren wurde. Dasselbe gilt für den Blick in die Zukunft: Es wird einen Wirkungskegel der Art geben, dass eine Wirkung, die von irgendeinem Ereignis innerhalb des Kegels emittiert wird, bis zu dem Newton’schen Moment, an dem die Wirkungen der äußersten Ereignisse des Kegels eintreffen, von dem fokalen Ereignis erfahren worden sein wird. All dies impliziert, dass der soziale Raum und die soziale Zeit in Wirklichkeit logische Transformationen voneinander sind und als eine einzige Eigenschaft aufgefasst werden können, die sich als ›Stelle‹ oder ›Ort‹ bezeichnen lässt.«93

Die radikale Gegenwartsorientierung, die Abbott vertritt, läuft dabei auf ein kompliziertes Problem zu, das sich sowohl sozialtheoretisch als auch methodologisch stellt. Wenn es stimmt, dass Gegenwarten jeweils Vergangenheiten und Zukünfte haben – wie sind diese zu Narrativen verknüpft, die von Dauer sind? »How then can one have narratives that are wholes-enduring things with influence over the future?«94 Abbott fasst dieses Problem als Encoding, als Einschreibung – und macht gleichsam die Entdeckung, dass er, wir befinden uns in den 1990ern, zuvor kaum nennenswert darüber nachgedacht hat, wie die Zeitlichkeit des Sozialen mit historischen Sozialstrukturen zusammenhängt. Das Konzept der Einschreibung soll für diesen Zusammenhang sensibilisieren, da es darauf aufmerksam macht, dass soziale Strukturen der Vergangenheit kausale Relevanz für die unvermeidlich indexikalen Gegenwarten haben, weil sie hier in veränderter Gestalt wieder auftreten – nur wie sie konkret relevant sind, das ist ebenfalls indexikal und somit empirisch zu klären:

»[T]the structural past is well and truly gone. It can have its influence – this was one of those cases where you form the sentence then you try to figure out what the words in it actually mean – only if it somehow encodes itself into the present on a continuing basis.«95

Genau in diesem Diskussionskontext findet dann auch wiederum der Begriff der Ökologie seine theoretische Verankerung. Eben weil die Gegenwart sowohl dicht als auch »encoded« und der soziale Prozess im Ganzen uns nicht zugänglich ist, müssen wir uns auf »Regionen der Gegenwart konzentrieren«96, in denen von uns noch bestimmte kausale Verkettungen von Ereignissen nachvollzogen werden können, eben auf »Ökologien«. Und gelegentlich wird es dann den Sozialforschern gelingen, einige kausale Verbindungen zwischen einzelnen Ökologien, zwischen einzelnen Professionen etwa, die Abbott schon ganz früh in seiner Laufbahn untersucht hat, aufzudecken im Sinne von »linked ecologies«. Mehr aber dürften und sollten wir nicht erhoffen. Allzu generalisierende Narrative sind mit Skepsis zu betrachten, wollen wir nicht »nachträgliche Rationalisierungen dieser aufeinanderfolgenden Gegenwarten« produzieren.97

Wenn sich nun die Welt als eine Welt von Ereignissen und ihrer Verkettungen darstellt, die nur über die historisch fundierte Analyse »dichter Gegenwarten« zugänglich ist, dann folgt für Abbott daraus auch eine Kritik zeitgenössischer soziologischer Argumentationsmuster. Ihm zufolge ist es weder sinnvoll, Ereignisse irgendwie scharf von Strukturen abgrenzen, noch auf den üblichen soziologischen Mikro-Makro-Unterscheidungen aufzubauen, die mit Ebenenvorstellungen des Sozialen arbeiten, dafür jedoch oftmals unterstellen, eine Ebene sei realer als die anderen, weil von ihr die ontologische Prägung der sozialen Welt ausgehe.98 Die betreffenden Unterscheidungen sind Abbott zufolge sinnlos, real sind – um es zu wiederholen – Okkurrenzen und Ereignisse, die narrativ verkettet sind. Es emergieren lediglich Entitäten (wie prekär und fluid auch immer),99 von denen aber nicht behauptet werden kann, die einen seien wirklicher als die anderen, wie es etwa stillschweigend im Coleman’schen Badewannenmodell unterstellt wird.100 Abbott strebt also nicht eine Soziologie an, die eine Art Mikrofundierung betreibt, also – wie dies etwa bei Randall Collins der Fall ist101 – den basalsten Mikrovorgängen des Sozialen irgendwelche ontologische Priorität zuerkennen will. Ganz im Gegenteil: Abbott möchte auf eine Soziologie hinaus, die es sich zum Ziel setzt, je unterschiedliche Prozesse als verkettete Ereignisfolgen in ihrer Verschränktheit zu analysieren, also herauszubekommen, wie sie verbunden sind, dabei immer davon ausgehend, dass einige dieser verschränkten Prozesse sehr viel länger dauern als andere (die biologischen Prozesse des menschlichen Lebens haben eine andere Temporalität als diejenigen von Familien oder Organisationen), einige weit in andere Ökologien hineinreichen etc. Er will die ontologischen Ebenen des Sozialen also nicht nur enthierarchisieren, sondern auflösen.

Wenn man die Welt als eine Welt von Ereignissen begreifen will, dann könnte man sich dabei einen Strom vorstellen, auf dem viele Baumstämme flussabwärts treiben, Stämme, die vielfach ruhig dahingleiten, die sich aber gelegentlich auch verhaken, auftürmen, sich blockieren, erklärt er bildhaft in einer jüngeren Arbeit.102 Aus dem stetigen Wandel wird also plötzlich Stabilität – und genau diese Stabilität hat dann eine Prozesssoziologie zu erklären, die sich zwar nicht primär mit Baumstämmen beschäftigt, aber vielleicht mit der Frage, wie sich über berufliche Karrieren, Ausbildungsgänge oder Erbschaften vieler Personen so etwas herauskristallisiert wie eine stabile Struktur sozialer Schichtung. Dabei darf die Soziologin gleichwohl nicht der Täuschung verfallen, die Ereignisse seien immer schon klar definiert und gewissermaßen problemlos zugänglich. Vielmehr ist es laut Abbott so, dass ein jedes Ereignis und eine jede Einheit aus diversen partikularen Okkurrenzen besteht und mit Blick auf diese Partikularitäten untersucht werden kann. Ein Individuum ist niemals nur eine Einheit, sondern besteht aus einer »Myriade« von Okkurrenzen, weil ein Mensch, der gemordet hat, eben nicht nur ein Mörder ist, sondern vielleicht auch liebender Vater, Fußballspieler, Steuerzahler etc. Gleiches gilt dann auch für andere Einheiten wie soziale Gruppen und Organisationen.

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