Kitabı oku: «Zeit zählt», sayfa 4
VIZeit zählt: Abbott in der Soziologie
Mit seiner programmatischen Ansage »time matters« für die soziologische Theorie – »Zeit(lichkeit) zählt« – bietet Abbott eine Fülle an Anknüpfungspunkten, um die bestehenden und derzeit auflebenden Debatten um die Zeitlichkeit des Sozialen voranzubringen. Mit seinen Bemühungen, besser zu verstehen, was es bedeutet, von einer Aufeinanderfolge von Sequenzen zu sprechen, und Antworten auf die Frage zu finden, welche Relevanz diese Sequenzialität für die Sozialtheorie hat, greift Abbotts prozesssoziologischer Theorieansatz in ein zwar nicht brachliegendes, aber doch erstaunlich unterentwickeltes semantisches Feld ein. Dass wir Abbotts Programm in diesem Band als eine Kollektion vor allem prozesstheoretischer Interventionen präsentieren, ruft dabei zwei Kernfragen auf: zum einen das Problem der angemessenen Theoretisierung der Zeitlichkeit sozialer Realität, zum anderen die Frage nach der Relevanz von Zeit für ein Verständnis sozialer Wirklichkeit.
Aktuell gibt es maßgeblich zwei sozialtheoretische Strömungen, für die Zeit ebenfalls zählt: einerseits die Entwürfe einer lebensphilosophischen bzw. neovitalistischen Sozialtheorie, andererseits die Praxistheorie in der Variante, die in erster Linie von Theodore Schatzki geprägt ist.155 In beiden Strömungen findet sich die Annahme einer fundamentalen Zeitlichkeit des Sozialen. Während sich der Neovitalismus jedoch dem Abbott’schen Paradigma der Veränderung anschließt, bringt die Praxistheorie mit dem Paradigma der Wiederholung eine (vermeintlich andere) zirkuläre Vorstellung fundamentaler Zeitlichkeit ins Spiel. Zusammen bilden sie eine in sich kontroverse Ökologie sozialtheoretischen Denkens. Ein zumindest kursorischer Vergleich ermöglicht es, Abbotts gegenwärtiges Einflusspotenzial – seinen Ort in der Soziologie – wenigstens ansatzweise zu skizzieren.
Das Paradigma der Veränderung hat einen vergleichbaren Ausgangspunkt wie Abbott, der ja wie gesehen in radikaler Manier die Prozessualität aller Dinge behauptet.156 Die derzeit diskutierten neovitalistischen Ansätze kritisieren, angelehnt an Henri Bergson oder Georg Simmel, die soziologische Tradition ebenfalls für ihre »verräumlichte« Imagination sozialer Realität.157 Sie problematisieren eine Art grundlegende Strukturierung soziologischer Wahrnehmung, nach der sich Entitäten – wie oben schon ausgeführt – in festen Grenzen und wie auf einem Feld verteilt gegenüberstehen.158
Nun geht es weder Abbott noch den Neovitalisten darum, dieser Raumontologie sozialer Realität schlicht eine zeitliche Dimension hinzuzufügen, um sich soziale Entitäten fortan als auch in der Zeit ausgedehnte Dinge vorzustellen. Ihr Anliegen ist es also nicht allein, soziale Entitäten grob zu historisieren, also schlicht anzuerkennen, dass sie nicht schon immer und genauso existiert haben, wie wir sie in der Gegenwart vorfinden. Stattdessen wollen Neovitalistinnen »all jene soziologischen Theorien […] kritisieren, die den sozialen Wandel als sekundär gegenüber einem gesellschaftlichen Sein konzipieren«.159 Dabei geht es um wesentlich mehr als die bloße Imagination einer sozialen Raumzeit. Es geht um ein neues Paradigma: Heike Delitz zufolge ist »das permanente Anders-Werden« die basale Eigenschaft sozialer Realität. Von ihr stammt der Vorschlag, in Abgrenzung zum Raumparadigma vom Paradigma »der permanenten Veränderung« zu sprechen. Dadurch wird dann folgerichtig »das soziologische Bezugsproblem neu formuliert«. Anstatt Ordnung zu erklären, geht es darum, das Anders-Werden »qualitativ« zu verfolgen.160
Die soziologische Beobachtung beginnt in dieser Perspektive mit der ontologischen Annahme, dass soziale Phänomene aus einem ständigen Werden bestehen.161 Nach Vorstellung der Neovitalisten entwickelt sich dadurch ein anderer Blick auf das Soziale, als es innerhalb einer Raumimagination möglich wäre: »Die Zeit ist kein teilbares und homogenes Medium, vergleichbar dem Raum. Die temporale Dimension des Wirklichen ist vielmehr eine unteilbare, kontinuierliche und unvorhersehbare sowie nicht revidierbare Aufeinanderfolge.«162 Ebenso wie – und auch im (vorsichtigen) Anschluss an – Abbott arbeitet sich die Lebenssoziologie an der Kritik eines Paradigmas ab, das zu ordnungsfixiert ist und vornehmlich ergründet, » was etwas war und was es wird«.163 So bleibt das Werden jedoch im Grunde abgedunkelt, da es hier von Anfangs- und Endzuständen her gedacht wird, nicht als Verlauf.
Das Programm der neuen Lebenssoziologie ist ambitioniert, bescheiden sind freilich noch die theoretische Detailarbeit und empirischen Einsichten.164 Ein stärkeres Gespräch mit dem Œuvre Abbotts könnte hier der Verfeinerung und Weiterentwicklung, womöglich auch der Vermeidung von Irrwegen dienen.165 Obwohl Abbott darauf insistiert, dass alles Veränderung ist, versucht er doch immer wieder, das Werden der Dinge mit einem Blick auf Ordnungen der Veränderung und Anfangs-, End- und Wendepunkte zu versöhnen. Alles fließt, aber es bilden sich Muster (patterns). Um diese Muster zu entschlüsseln, ohne sie dabei nur von ihrem Ausgangs- oder Endpunkt her zu denken, ruft Abbott uns zu einer sensiblen Suche nach den Varianten auf, wie sich Ereignisse und Ereignissequenzen verketten. Es geht ihm um »varieties of enchainment«, um der Vielfalt dieser Verbindungen, Verknüpfungen und Vernetzungen gerecht zu werden.166
Ein auf der Höhe der Abbott’schen Intervention argumentierendes prozesssoziologisches Denken dürfte sich also nicht mit Hinweisen darauf begnügen, dass sich alles stets verändert. Vielmehr müsste eine so aufgestellte Soziologie über die »nature of sequence order« der Prozesssegmente informieren können.167 Welche Bedeutung hat die Reihenfolge der Ereignisse, wie ist sie sozialtheoretisch zu erfassen und wie epistemologisch und methodologisch zu ermitteln?168 Das Werden des Sozialen ernst zu nehmen und nicht mehr als Zwischenschritt zwischen zwei festen Aggregatzuständen zu theoretisieren bedeutet mit Abbott ferner auch nicht, Anfang, Ende oder Wendepunkte aus der Analyse zu verbannen – im Gegenteil! Diesem Problem nachzugehen heißt, um es nochmals mit Abbott zu sagen, über theoretisches Rüstzeug zu reflektieren, das der Erfassung prozessualer Konvergenzen und Divergenzen dient. Zu ermitteln, wie die Bedingungen eines Prozesses dessen Ende, Ausgang oder etwaigen Abbruch konditionieren, läuft dabei keineswegs auf den Vorschlag hinaus, nur solche Prozesse zu betrachten, deren Endpunkt absehbar wäre. Doch muss eine Prozesstheorie die Bedingungen und Konstellationen im Auge behalten, die im Zweifelsfall über das Altern, Verlangsamen, Beschleunigen oder Auslaufen von Prozessen mitentscheiden. Andernfalls laufen Prozesstheorien Gefahr, in einer Prozessontologie zu münden, in der die soziale Welt ganz allgemein als unendliches Werden gefasst und womöglich sogar gefeiert wird, jedoch um den Preis, diesem Werden keine spezifizierenden Konturen geben zu können.
Auf eine ganz andere, fast schon entgegengesetzte Weise greift ein anderer sozialtheoretischer »turn« derzeit das Diktum »Zeit zählt« auf, der also die soziale Realität ebenfalls fundamental temporal denkt. Das Paradigma der Wiederholung tritt in Konkurrenz zum Paradigma der Veränderung.169 Gemeint ist hier die sogenannte Praxistheorie. Bei ihr handelt es sich freilich um einen losen Verbund ganz unterschiedlicher, häufig sogar höchst widersprüchlicher Versatzstücke und Forschungsansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Da es uns an dieser Stelle nur um eine grobe Verortung von Abbott innerhalb einer Debatte um die Zeitlichkeit sozialer Realität geht, beschränken wir unsere Darstellung auf eine Linie innerhalb dieses heterogenen Feldes, die man um den Namen Theodore Schatzki ziehen kann.170
Obwohl sein ontologischer Ansatz die basale Zeitlichkeit sozialer Realität betont, grenzt sich Schatzki mehr oder weniger scharf von Prozesstheorien des Sozialen ab. Er positioniert sich explizit gegen Abbott (und andere klassische wie gegenwärtige Autoren wie etwa Henri Bergson und Hans Joas), obwohl er die soziale Welt – in scheinbarer Nähe zu Abbott – als »endless happening« von »events« versteht.171 Auf den ersten Blick scheint es also keine nennenswerte Differenz zu geben, ist doch auch – in den schon zitierten Worten Abbotts – »the world of the processual approach […] a world of events«.172 Allerdings versteht Abbott soziale Entitäten als Ereignisketten, die ein bestimmtes Muster haben (können) – und dieses Verlaufsmuster erscheint uns als Beobachterinnen des Sozialen dann »bloß« epistemisch als Entität. Schatzki aber begreift das »endless happening« menschlicher Koexistenz in der Praxis als primäre sozialtheoretische Substanz.
Im Unterschied zu Abbott versteht Schatzki Dinge nicht als Ereignisketten – es geht hier also nicht darum, beispielsweise Individuen, Gruppen von Individuen (wie die Arbeiterklasse) oder sonstige Entitäten als werdende und vielleicht prekäre Phänomene zu begreifen (mit dem weiter oben zitierten Bild: es geht nicht um Baumstämme in einem Fluss). Sondern die Ereignisse, um die es in der Praxisontologie geht, sind Aktivitäten. Aus Sicht der Praxisontologie besteht die (soziale) Realität aus Handlungen, genauer gesagt aus Sequenzen von Aktivitätsereignissen. Was zunächst existiert, sind nicht Dinge und deren Eigenschaften im historischen Fluss, sondern Aktivitäten, die sich als Ereignissequenzen vollziehen. Es geht also um beispielsweise das Fahrradfahren als Sequenz von Ereignissen und nicht um die Fahrradfahrerin oder das Fahrrad. Nicht Fahrradfahrerinnen und Fahrräder sind die Bausteine von Gesellschaft, sondern Fahrradfahrten.
Wir können an dieser Stelle auf eine genauere Erklärung dieses Ansatzes verzichten, weil es vielmehr darum geht, eine prozessuale Sozialtheorie zu skizzieren, die mit triftigen Argumenten mit Abbott konkurriert. Schatzkis Praxistheorie würde dem Paradigma der Veränderung zugestehen, dass die soziale Realität ein sich ereignendes Tun ist – und kein Arrangement von Individuen, Organisationen und Gesellschaften im Raum, die dann miteinander interagieren. Allerdings würde sie bezweifeln, dass Wandel der Normalzustand dieser sich ereignenden Koexistenz ist.173 Die Praxistheorie beginnt nämlich mit einer von der neovitalistischen und Abbott’schen Intuition nicht nur abweichenden, sondern sie sogar auf den Kopf stellenden Ausgangsbeobachtung. Ihrem Eindruck nach sieht man in der sozialen Realität ständig dieselben, vergleichbaren, allenfalls in Details abweichenden Aktivitätsvorgänge. In der Regel tun Menschen Dinge, die sie selbst oder andere in fast identischer Weise schon einmal getan haben; sie fahren beispielsweise jeden Tag Fahrrad, eine sich ereignende und insofern »prozessuale«, aber eben keinesfalls ständig »werdende« Sequenz. Fahrradfahren wäre sogar nicht mehr als Fahrradfahren erkenn-, durchführ- und vermittelbar, würde es seine Gestalt über bestimmte Parameter hinaus abwandeln. Mit Schatzki lässt sich die soziale Realität deswegen als Ereignissequenzen erfassen, die als Zitate oder Wiederholungen früherer Aktivitäten zu verstehen sind. Die Ereignissequenzen, aus denen unser Handeln besteht, sind für gewöhnlich Wiederholungen vorheriger Sequenzen. Das ist die Grundidee der Praxistheorie. Das Paradigma der Wiederholung denkt soziale Realität nämlich ebenfalls primär zeitlich, setzt den Prozesstheorien aber eine Theorie zyklischer Zeitlichkeit mit einem spezifischen Fokus auf Handeln resp. Aktivität entgegen.
Durch die Affirmation der Bedeutung von Wiederholung und Routine im sozialen Handeln ist die (besser noch einmal: diese Spielart der) Praxistheorie eher dem traditionellen Verständnis der Soziologie als einer handlungstheoretisch argumentierenden Ordnungswissenschaft zuzuordnen, von der sich das prozessuale Denken abheben will. Obwohl also die Praxistheorie Schatzki’scher Prägung das Diktum »Zeit zählt« unterschreibt, steht sie ontologisch nicht vor der Frage, die Abbott als Zentrum prozessualen Denkens beschreibt: »If change is the normal state of things, how does anything ever stay the same?«174 Aus praxistheoretischer Sicht ist eben nicht Veränderung der soziale Normalzustand, sondern die Repetition. Deswegen müsste man aus praxistheoretischer Sicht nicht von einer prozessualen Soziologie sprechen, sondern nach einer Soziologie sozialer Prozesse fahnden, um kurzfristige Veränderungen und systematischen Wandel zu erfassen. Prozesse müssten aus dem Blickwinkel dieser spezifischen Ontologie zirkulärer Zeitlichkeit wieder ganz traditionell von der Ordnung aus gedacht werden (also etwa selbst als Ordnungen oder als Brüche der Ordnung). Das heißt konkret, ungewöhnliche Ereignisse oder auch strukturelle, lang anhaltende und nachhaltige Veränderungen dürften in der Regel dadurch gekennzeichnet sein, dass Menschen vor allem das gleiche weiter machen wie bisher, also Dinge tun, die sie und andere schon einmal getan haben. Prozesse sind aus praxistheoretischer Perspektive vor allem durch Nichtprozessuales gekennzeichnet.
Das prozessuale Denken könnte einerseits davon gewinnen, sich mit der Validität der eigenen Intuition einer ständigen Veränderung kritischer auseinanderzusetzen, ganz im Sinne von Abbotts fraktaler Heuristik. Andererseits dürfte gerade das Paradigma der Wiederholung von einer intensiveren Lektüre Abbotts profitieren. Schließlich wird die Praxistheorie den wiederholt geäußerten Verdacht eines Stabilitäts-Bias ihrer Beobachtung – also einer Überzeichnung der Konstanz sozialen Geschehens im »endless happening« – bekanntlich nicht los.175 Mit seinem gleichzeitigen Blick auf das Werden als eigenständiges (und nicht vom Gewordenen her gedachtes) Phänomen und auf die Muster des Werdens, die Verkettungsmechanismen und Ordnungsprinzipien des Wandels, verwickelt Abbott das Paradigma der Veränderung und das Paradigma der Wiederholung in ein produktives Gespräch. Insbesondere sein Konzept der Ökologie als Arrangement fließender Zusammenhänge ganz unterschiedlicher Aktivitätsfelder schlägt Brücken zwischen Praxis- und Prozesssoziologie. Das prozessuale Denken könnte sich so als temporales Drittes zwischen den Theorien der Wiederholung und den Theorien des radikalen Werdens profilieren, denn: Zeit zählt.176
1Andrew Abbott, Prozessuales Denken. Reflexionen über Marx und Weber, Hamburg 2019, S. 56–57.
2Die Autoren und der Übersetzer verfolgen das Ziel gendergerechter Sprache, indem sie wahllos zwischen den grammatikalischen Geschlechtern wechseln.
3Da solche Definitionen von Gebilden in letzter Konsequenz Imaginationen von Gesellschaft erzeugen, in der sich dann eben Staaten (oder Staat und Zivilgesellschaft), Organisationen (oder Organisation und Individuum) und Klassen (oder Kapital und Arbeit) als gesonderte Elemente in einem Raum gegenüberstehen, sprechen manche von einem »Raumparadigma«, das in der Soziologie vorherrscht. Sie hat in der Tat zumindest eine Neigung zu »verräumlichtem« Denken, die Robert Seyfert treffend »methodologischen Extensivismus« nennt (Robert Seyfert, »Lebenssoziologie – eine intensive Wissenschaft«, in: Heike Delitz/Frithjof Nungesser/Robert Seyfert (Hg.), Soziologien des Lebens. Überschreitung – Differenzierung – Kritik, Bielefeld 2018, S. 373–407).
4Hans Joas, »Gefährliche Prozessbegriffe. Eine Warnung vor der Rede von Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung«, in: Karl Gabriel/Christel Gärtner/Detlef Pollack (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik. Zweite, um ein Register ergänzte Auflage, Berlin 2012, S. 603–622.
5Materiale Ergebnisse finden sich in lesenswerter Form in Sammelbänden wie Karl-Georg Faber/Christian Meier (Hg.), Historische Prozesse. Beiträge zur Historik, Bd. 2. München 1978; Hans-Peter Müller/Michael Schmid (Hg.), Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt am Main 1995; Rainer Schützeichel/Stefan Jordan (Hg.), Prozesse – Formen, Dynamiken, Erklärungen, Wiesbaden 2015.
6Niklas Luhmann, »Geschichte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution«, in: Faber/Meier (Hg.), Historische Prozesse, S. 413–440, hier S. 421.
7Wir beschränken uns hier darauf, etwas ausführlicher auf den deutschsprachigen Diskurs einzugehen. Die Diagnose trifft aber auch auf einschlägige englischsprachige Werke zu, darunter Allan G. Johnson, The Blackwell Dictionary of Sociology, 2. Auflage, Malden 2000; Judith R. Blau (Hg.), The Blackwell Companion to Sociology, Malden 2004; Stella R. Quah/Armaud Sales (Hg.), The International Handbook of Sociology, London 2000.
8Sina Farzin/Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2015.
9Siehe dazu die betreffenden Beiträge auf S. 41, S. 92 und S. 114. Zu anderen Grundbegriffen wie »Struktur«, »Macht« oder »Institution« gibt es dagegen sehr wohl allgemeine Einträge – zusätzlich zu Artikeln über Phänomene, die als Beispiele für Strukturen oder Institutionen gelten können.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Unsere Anmerkungen sind keine Kritik an Sina Farzin und Stefan Jordan, die das Lexikon herausgegeben haben – etwa derart, dass sie den soziologischen Diskurs nicht genau genug nach dem Prozessbegriff durchforstet hätten, sodass die Notwendigkeit eines entsprechenden Eintrags von ihnen nicht erkannt worden wäre. Vielmehr ist es ein Beleg für die These, wonach es schlicht keine ernst zu nehmende theoretische Tradition der genaueren Bestimmung dieses Grundbegriffs gibt.
10Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, 5. Auflage, Stuttgart 2007; Raymond Boudon/François Bourricaud, Soziologische Stichworte. Ein Handbuch, Opladen 1992; Heinz-Günter Vester, Kompendium der Soziologie I–III, Wiesbaden 2009–2010.
Das in dritter Auflage veröffentlichte und von Günter Endruweit herausgegebene Wörterbuch der Soziologie (Konstanz 2014) enthält immerhin einen Eintrag zu sozialen Prozessen, ebenso das 2011 erschienene, grundlegend überarbeitete und von Werner Fuchs-Heinritz u.a. herausgegebene und in fünfter Auflage erschienene Lexikon zur Soziologie. Beide Beispiele – Wörterbuch und Lexikon – verdeutlichen dabei auf je eigene Weise noch einmal die theoretische Unterbestimmtheit dieses vernachlässigten Grundbegriffs – unbeschadet der Tatsache, dass sie den Prozessbegriff durch einen eigenen Eintrag als eigenständiges Theoriesegment verstehen, das sich von Prozessdiagnosen unterscheidet.
Denn der Eintrag zu Prozess als sozialtheoretischem Grundbegriff im Wörterbuch (S. 372) ist zunächst deutlich kürzer als die Einträge zu einzelnen Prozessdiagnosen, etwa »Differenzierung« (S. 77–80), »Individualisierung« (S. 179–181) oder »Modernisierung« (S. 326–328), was wiederum darauf verweist, dass es viel mehr über Debatten zu Prozessbeispielen als zu Prozessualität selbst zu berichten gibt. Womöglich hat sich der Herausgeber und Verfasser des Eintrags auch deswegen dazu entschlossen, die Kategorie aufzulösen und als »Sammelbezeichnung für alle Gegenstände in der Soziologie, die Vorgänge zwischen Subjekten meinen«, zu bezeichnen (Günter Endruweit, »Prozesse, soziale«, in: ders./Gisela Trommsdorff/Nicole Burzan (Hg), Wörterbuch der Soziologie, 3. Auflage, Konstanz 2014, S. 372). Prozessualität geht in dieser Definition somit in allgemeiner Sozialität auf, was jedoch der ubiquitären Verwendung von individualisierenden oder typisierenden Prozessbegriffen in der Forschungspraxis widerspricht.
Eine zweite und wahrscheinlich den vielfältigen Verwendungen des Prozessbegriffs in der sozialwissenschaftlichen Forschung eher entsprechende Definition findet sich im Lexikon. Zwar wird der Prozessbegriff mit einem eigenen Eintrag gewürdigt, doch Prozessualität dann in verallgemeinerter Form als »Aufeinanderfolge verschiedener Zustände eines Objekts in der Zeit« definiert (»Prozess«, in: Werner Fuchs-Heinritz u.a. (Hg.), Lexikon zur Soziologie, 4. Auflage, Wiesbaden 2007, S. 518–519, hier S. 518). Bedenkt man aber, dass Zeit genau besehen selbst nicht anders verstanden werden kann denn als bemerkte Variation, dann fragt man sich, ob der Eintrag nicht besser »Zeit« hätte heißen müssen. Eine solche Definition von Prozess verabschiedet den Begriff und macht es unmöglich, ihn als eine grundlegende und gleichsam spezifizierende Kategorie wie »Struktur« oder »Institution« zu fassen. Denn wer Prozess schlicht als Unterschied zwischen zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Zuständen, d.h. als Veränderung definiert, identifiziert Prozess mit Zeitlichkeit – und löst den Begriff auf. Das Stichwort der »Prozesssoziologie« (ebd., S. 519) wird dementsprechend als Synonym für die Arbeiten von Norbert Elias, nicht aber für eine bestimmte soziologische Perspektive oder einen Problemkomplex verwendet.
In einigen Fällen finden sich allerdings Einträge zu »sozialem Wandel«, die zumindest einen Teilbereich der Beispiele abdecken sollen, die gemeinhin als Prozesse gefasst werden. Mit Wandel sind in der Regel lediglich großformatige gesellschaftliche Veränderungen aufgerufen, etwa im Lexikon Soziologie und Sozialtheorie von Farzin und Jordan sowie im Wörterbuch der Soziologie von Endruweit u.a. Der Begriff ist somit zu eng, um ersatzweise zu leisten, was dem Prozessbegriff in seiner vielfältigen Verwendung in Prozessdiagnosen zugemutet wird.
11Hans Joas/Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt am Main 2004, S. 196, 201.
12Etwa Andrew Abbott, »Nach dem Chaos: Selbstähnlichkeiten in den Sozialwissenschaften«, in: Christian Dayé/Stephan Moebius (Hg.), Soziologiegeschichte. Wege und Ziele, Berlin 2015, S. 284–307; ders., Prozessuales Denken. Zur deutschen Rezeption siehe Frank Adloff/Sebastian M. Büttner, »Die Vielfalt soziologischen Erklärens und die (Un-)Vermeidbarkeit des Eklektizismus. Zu Andrew Abbotts Soziologie fraktaler Heuristiken«, in: Zeitschrift für theoretische Soziologie 2 (2013), 2, S. 253–267.
13Siehe etwa jüngst die äußerst kritische und unfaire Rezension seines Buches Processual Sociology (2016) durch Nico Wilterdink (»Driving in a dead-end street: critical remarks on Andrew Abbott’s Processual Sociology«, in: Theory and Society 47 (2018), 4, S. 539–557).
14Andrew Abbott, »Sequences of Social Events: Concepts and Methods for the Analysis of Order in Social Processes«, in: Historical Methods 16 (1983), 4, S. 129–147, und ders., »Event Sequence and Event Duration: Colligation and Measurement«, in: Historical Methods 17 (1984), 4, S. 192–204.
15Das ist etwa in Thomas Kuhns bekannter Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen der Fall, in der einer ruhigen »Normalwissenschaft« ein revolutionärer wissenschaftlicher Umbruch gegenübergestellt wird; siehe Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1967.
16Ausnahmen bestätigen freilich die Regel, wie etwa Howard S. Beckers Analyse des Erlernens des Genusses von Marihuana und sein hier entwickeltes Theorem der Karriere eindrücklich zeigen (Howard S. Becker, Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, hrsg. von Michael Dellwing, unter Mitarbeit von Viola Abernet, 3. Auflage, Wiesbaden 2019 [2014], v. a. S. 41 ff.; siehe dazu auch Thomas Hoebel, »Verkettungen und Verstrickungen. Was wir von Howard S. Becker über die prinzipielle Prozesshaftigkeit des Sozialen lernen können«, in: Nicole Burzan (Hg.), Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018, Essen 2019, S. 1–8). Ebenso eine Ausnahme ist Diane Vaughan, Wenn Liebe keine Zukunft hat. Stationen und Strategien der Trennung, Reinbek bei Hamburg 1988.
17Abbott, »Sequences of Social Events«, S. 131 f.
18Ebd., S. 137.
19Der Aufsatz aus dem Jahr 1983 enthält bereits alle Grundzüge dieser Kritik. Sehr viel systematischer wird Abbott sie in seinem prominenten Aufsatz »Transcending General Linear Reality«, in: Sociological Theory 6 (1988), 2, S. 169–186, entwickeln, der in diesem Band übersetzt vorliegt.
20Andrew Abbott, »Prologue: An Autobiographical Introduction«, in: ders., Time Matters. On Theory and Method, Chicago/London 2001, S. 1–33, hier S. 11; Abbott, »Transcending General Linear Reality«; kommentierend vgl. auch Jean-Louis Fabiani, »Pour en finir avec la réalité unilinéare. Le parcours méthodologique de Andrew Abbott, in: Annales. Histoire Sciences Sociales 58 (2003), 3, S. 549–565, hier S. 556 ff.; Ivan Ermakoff, »La causalité linéare. Avatars et critique«, in: Didier Demazière/Morgan Jouvenet (Hg.), Andrew Abbott et l’heritage de l’école de Chicago, Paris 2016, S. 397–417, hier S. 399 ff.
21Didier Demazière/Morgan Jouvenet, »Introduction: Andrew Abbott et sa sociologie«, in: dies. (Hg.), Andrew Abbott et l’heritage de l’école de Chicago, Paris 2016, S. 13–31, hier S. 20 f.; zu den Ursprüngen des Ökologiekonzepts bei den Gründervätern des Amerikanischen Pragmatismus und der Chicago School of Sociology vgl. Daniel Cefaï, »Social Worlds: The Legacy of Mead’s Social Ecology in Chicago Sociology«, in: Hans Joas/Daniel R. Huebner (Hg.), The Timeliness of George Herbert Mead, Chicago/London 2016, S. 165–184.
22Andrew Abbott, The System of Professions. An Essay on the Division of Expert Labor, Chicago 1988.
23Lawrence Stone, »The Revival of Narrative: Reflections on a New Old History«, in: Past & Present 85 (1979), 85, S. 3–24.
24Siehe dazu etwa Marc Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004; Hans-Dieter Gondek/László Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin 2011.
25Abbott, »Event Sequence and Event Duration«, S. 193.
26Abbott, »Prologue: An Autobiographical Introduction«, S. 8; siehe dazu jüngst ganz ähnlich Tulia G. Falleti und James Mahoney (»The Comparative Sequential Method«, in: James Mahoney/Kathleen Thelen (Hg.), Advances in Comparative-Historical Analysis, Cambridge 2015, S. 211–239), die durchaus in großer Nähe zu Abbott davon sprechen, dass Events im Prinzip wiederholbar seien, Occurrences hingegen nur einmal auftreten (S. 213).
27Abbott, »Prologue: An Autobiographical Introduction«, S. 8.
28Insofern unterscheidet sich hier Abbotts Position von derjenigen des Historikers und Soziologen William Sewell, der ihm ansonsten durchaus theoretisch nahesteht. Sewell spricht im Hinblick auf die Events, die für Sozialwissenschaftler von Interesse sind, von »eventful events«, womit er solche Ereignisse meint, die soziale Strukturen grundlegend transformieren (William H. Sewell, »Historical Events as Transformations of Structures: Inventing Revolution at the Bastille«, in: Theory and Society 25 (1996), 6, S. 841–881; ders., »Three Temporalities: Toward an Eventful Sociology«, in: Terence McDonald (Hg.), The Historic Turn in the Human Sciences, Ann Arbor 1996, S. 245–280; siehe dazu auch Robin Stryker, »Beyond History versus Theory«, in: Sociological Methods & Research 24 (1996), 3, S. 304–352). Dieser Ansatz wirft freilich die kritischen Fragen auf, ab wann von einer zureichenden Strukturveränderung zu sprechen ist, wie die Strukturen überhaupt zu definieren sind etc. Abbott entzieht sich dieser schwierigen oder vielleicht sogar als unmöglich zu bezeichnenden Aufgabe, weil er eben »Ereignisse« nicht an irgendwelchen historischen oder sozialen Realitäten misst, sondern Ereignisse theoretisch über Erkenntnisinteressen definiert.
29Abbott, »Event Sequence and Event Duration«, S. 194; zur Debatte in der Historikerzunft siehe L. B. Cebik, »Colligation and the Writing of History«, in: The Monist 53 (1969), 1, S. 40–57.
30Siehe dazu die kurze Rezension von Pamela S. Tolbert, die klar die neuartigen Aspekte von Abbott erkennt (in: Administrative Science Quarterly 35 (1990), 2, S. 410–413); ebenso wie Étienne Ollion, »Andrew Abbott dans la sociologie étatsunienne«, in: Demazière/Jouvenet (Hg.), Abbott et l’heritage de l’école de Chicago, S. 95–116, hier S. 100 ff.
31Talcott Parsons, »Die Motivierung des wirtschaftlichen Handelns«, in: ders., Beiträge zur soziologischen Theorie. Herausgegeben und eingeleitet von Dietrich Rüschemeyer. Darmstadt/Neuwied 1973, S. 136–159; ders., »Die akademischen Berufe und die Sozialstruktur (1939)«, in: ebd., S. 160–179; ders., »Some Theoretical Considerations Bearing on the Field of Medical Sociology«, in: ders., Social Structure and Personality, London 1970, S. 325–358; ders., »A Sociologist Looks at the Legal Profession (1952)«, in: ders., Essays in Sociological Theory, London 1954, S. 370–385.
32Magali Sarfati Larson, The Rise of Professionalism. A Sociological Analysis, Berkeley 1977.
33Zur höchst positiven Rezeption des Buches siehe etwa die Rezensionen von Paul DiMaggio (in: American Journal of Sociology 95 (1989), 2, S. 534–535) und Arthur L. Stinchcombe (»Restructuring the Sociology of the Professions«, in: Contemporary Sociology 19 (1990), 1, S. 48–50).
34In einem späteren Aufsatz wird Abbott explizit von »linked ecologies« sprechen, um kenntlich zu machen, dass es keinen Sinn macht, eine Ökologie für sich zu betrachten; Andrew Abbott, »Linked Ecologies: States and Universities as Environments for Professions«, in: Sociological Theory 23 (2005), 3, S. 245–274. Bereits in System of Professions argumentiert er, dass die konventionellen Ansätze der Professionsforschung für gewöhnlich einfach unterstellen, dass es reiche, sich der Entwicklung je individueller Professionen zu widmen, womit sie aber übersehen, dass es ganz entscheidend auf das arbeitsteilige Zusammenspiel und Gegeneinander von Berufen ankommt, eben auf das »system of professions«. Abbott nimmt also eine dezidiert relationale Perspektive ein und argumentiert, dass sich einerseits die Jurisdiktionskonflikte nur in der wechselseitigen Konkurrenz der Professionen verstehen (Abbott, The System of Professions, S. 19–20), andererseits sich die Professionen nicht über von vornherein definierbare Wissensbestände und konkrete Techniken oder spezifisches Know-how definieren lassen, sondern nur über die Abstraktion ihres Wissens, ihr Wissenssystem (ebd., S. 9, 102). Allerdings variiert eben der Grad der Abstraktion (ebd., S. 9, 30).