Kitabı oku: «Das Erwachen der Raben», sayfa 5
Johanna musste an Beatrice denken, sie hatte Talent gehabt, den großen Durchbruch aber nicht geschafft und Maria, die von Goldmedaillen und Weltrekorden geträumt hatte, sie hatte es auch nicht geschafft. Trotz all des harten Schwimmtrainings. Es gibt keine Sicherheit, irgendetwas kann einem immer in die Quere kommen. War es allein Karola, die ihnen in die Quere gekommen war? Johanna wünschte sich für Sara die Erfüllung ihrer Träume, ihres Strebens. Sie wollte ihr eine Mutter sein, die ihr Rückhalt gab, die sie ermutigte. Im Moment fühlte sich Johanna aber nicht als solch eine Mutter.
Sammy war ein guter Vater gewesen. Ihr lieber Sammy mit den Knopfaugen, dem pechschwarzen Schopf, der schokobraunen Samthaut, war immer für die Kinder da gewesen. Johanna sah noch das Bild vor sich. Sammy mit der kleinen Sara in den Armen, damit seine von Alpträumen geplagte Tochter schlafen konnte. Welche Frau würde einen solchen Mann nicht lieben, der zärtlich den Schlaf seines Kindes behütet, welche Frau würde einen solchen Mann nicht begehren? Sie tat es noch immer und das machte sie verrückt, weil sie sich so sehr nach etwas sehnte, was sie nie wieder bekommen würde. Seine Stirn gegen ihre Stirn gedrückt, hieß, ich bin für dich da, ihre Wange auf seinem Bauch, hier bin ich zu Hause. Seine Finger auf ihren Lippen, den Geschmack seiner Zunge, seine Hand zwischen ihren Schenkeln. Für sie auf ewig verloren.
Johanna hatte öfter den Spruch gehört, Töchter suchten sich einen Mann, der dem Vater ähnelte. Das traf für sie nicht zu. Beide Männer waren zwar schön, aber auf unterschiedliche Art. Sammy, der Familienmensch, ihr Vater, der Arbeitsmensch. Wie wenig sie von ihrem Vater wusste, war Johanna erst in den letzten Jahren klar geworden. Sie erinnerte sich an das Gefühl der Überlegenheit gegenüber Claudia, das sie als Kind gehabt hatte. Zumindest in einem Punkt. Die blöde Kuh war so eingebildet, nur weil ihr Großvater Bürgermeister im Dorf war. Wenn Claudia über ihren Großvater sprach, dann sagte sie immer „der Bürgermeister“. Alle Familienmitglieder, alle im Dorf taten das seit Jahrzehnten. Johanna hatte ihn einmal auf Fotos bei Claudia zu Hause gesehen und nur gedacht, was für ein Klops. Der Mann hatte den Nacken eines Stiers, die Augen eines Schweins, den Kopf eines Elefanten.
Wie elegant und schön war dagegen ihr Vater. Er war ein wichtiger Mann, er leitete eine Zeitung, ohne ihn gäbe es die Zeitung gar nicht. Die Zeitung las man auf der ganzen Welt und nicht nur in einem mickrigen Dorf. Johanna hatte Verständnis dafür gehabt, dass ihr Vater selten Urlaub nahm. Er hatte immer viel Arbeit. Nur dass er, wenn er denn Urlaub machte, alleine fuhr, kränkte sie, wenigstens sie hätte er mitnehmen können.
Von seiner Familie wusste sie damals nur, dass es schlechte Menschen waren, wie sie darauf gekommen war, wusste sie nicht mehr, irgendetwas musste sie aufgeschnappt haben. Es musste etwas sein, das viele, viele Jahre zuvor geschehen war, als der Vater noch ein Junge war. Auch der Vorfall im Park musste damit zusammenhängen.
Ausnahmsweise hatte der Vater Johanna aus dem Kindergarten abgeholt und da es ein Sommertag war, wollte Johanna ein Eis von dem Eisverkäufer im Park. Während sie mit Vorfreude die Sorte auswählte, was gründlicher Überlegungen bedurfte, betrachtete der Vater ein Mädchen im Rollstuhl, das beim Reden den Mund aufriss und so komisch mit dem Kopf wackelte. Jetzt musste auch Johanna hinsehen. Es sah ekelig aus, wie die Begleiterin dem Mädchen den Sabber abwischte, dabei musste das Mädchen älter als Johanna sein. Plötzlich raunzte die Frau den Vater an, was es da zu gucken gäbe. Das fand Johanna nicht in Ordnung. Doch der Vater entschuldigte sich. Warum nur? Er setzte zu einer Erklärung an, sagte „meine Schwester“ und brach dann ab, entschuldigte sich nochmals und ging mit Johanna nach Hause. Das war gemein, wegen dieser Frau bekam sie kein Eis, dabei war sie den ganzen Tag so artig gewesen.
Ihre Laune hob sich dann aber, als die Mutter sie mit einem Gipsarm begrüßte. Sogleich hatte Johanna eine Idee, was sie darauf malen könnte. Gras, Schmetterlinge und ein Reh. Darunter würde sie ihren Namen schreiben, genauso wie es der Künstler gemacht hatte, auf dem Bild, das der Vater gekauft hatte. Doch die Mutter wollte davon nichts hören und schickte Johanna auf ihr Zimmer. Für heute hatte sie genug von den Erwachsenen und sie hörte noch von unten ihre Mutter sagen, „ich könnte tot sein, ihr wäre das egal.“ Fast glaubte Johanna ein Schluchzen zu hören, vielleicht tat der Mutter der Arm weh.
Außerdem war ihr Vater ein wohlhabender Mann. Kurz vor der Hochzeit hatte er Johanna ein Haus geschenkt. Er wollte, dass seine Tochter angemessen lebte, von Sammy erwartete er nicht viel. Für ihn war Sammy nicht der richtige Mann für seine Tochter. Sammy war Übersetzer und hatte sich und die Kinder mit wenig lukrativen Aufträgen über Wasser gehalten.
Johanna hatte am Anfang bezweifelt, dass ihre Eltern geeignete Großeltern abgeben würden. Ihre Erfahrungen sprachen dagegen. Mittlerweile hatte sie ihre Meinung geändert. Menschen werden älter, verändern sich oder haben einfach nur andere Rollen. Selbstverständlich hatte ihr Vater für die Kinder in einen Aktienfond investiert, damit sie die Erträge später für ihre Ausbildung verwenden könnten. Aber da war noch mehr. Er besuchte Saras Auftritte. Es war ihm anzumerken, wie beeindruckt er von Sara war, von ihrem Willen, ihrer Leistung. Er nahm Anteil an ihrem Leben, war selbst ein Teil davon. Die Kinder fuhren gern zu ihren Großeltern. Der Vater war sogar einmal mit ihnen nach Paris geflogen, ins Disneyland. Selbst die Mutter durfte mit. Natürlich wollte sie ihren Liebling David begleiten. Endlich hatte sie ein Kind, das schmusen wollte, das ihr im Garten half, das gern mit ihr bastelte. Die Oma begeisterte sich für alle Pläne von David, egal ob Insektenforscher, Profihandballer oder nun Rockstar auf seiner Wunschliste stand.
Wie anders war dagegen Johannas Verhältnis zur Mutter. Sie erinnerte sich an den Tag im letzten Landsommer, an dem sie geglaubt hatte, ihre Mutter wäre zum Opa gekommen, weil sie ihre Tochter vermisste. Ein Irrtum. Johanna war mit Astrid verabredet gewesen, vor dem Friseurladen. Kaum hatte Johanna sich auf die Stufen gesetzt, öffnete sich die Ladentür und eine Frau mit einem Haarturm auf dem Kopf bat sie hinein. Astrids Mutter erklärte, Astrid müsse noch eine Besorgung für sie erledigen und käme später. Die Frau nahm sie mit nach hinten in die Küche und bot ihr Limonade an. Johanna war unwohl zumute, sie war noch nie in der Wohnung gewesen und irgendwie kam es ihr vor, als dürfe sie nicht hier sein. Astrid hatte gesagt, vor dem Salon, immer trafen sie sich vor dem Salon.
Johanna saß auf einem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, vor sich ein Glas und versuchte, nicht zu viel von dem schweren Parfüm einzuatmen. Astrids Mutter fingerte eine Zigarette aus einer Schachtel und hinterließ Lippenstift auf dem Filter. Sie blies den Rauch in Johannas Richtung, nicht absichtlich, sondern weil sie den Kalender an der Wand studierte. Endlich drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus. Johanna war froh, den Gestank los zu sein.
„So ein Mistkerl“, sagte die Frau. Der Kalender schien ihre volle Aufmerksamkeit zu fordern. „So ein Mistkerl“, murmelte sie, „am fünfzehnten hatten wir Verkehr und am zwanzigsten wäre ich wieder dran gewesen.“
Johanna wagte nicht, Astrids Mutter anzusehen, das konnte nicht wahr sein. Sie verabscheute Erwachsene, die so taten, als wären Kinder Schwachköpfe, die nichts verstanden. Sie war zwölf Jahre alt. Aus lauter Peinlichkeit starrte Johanna die Tischdecke an. Was erwartete die Frau? Wollte sie Johannas Meinung zu Sex mit Mistkerlen hören? Oder glaubte sie, Johanna wüsste nicht, was Verkehr bedeutete, neben Straßenverkehr. Johannas Handflächen schwitzten, hoffentlich kam Astrid bald.
„Du trinkst wenig, schmeckt es dir nicht?“ Auf der Stirn von Astrids Mutter erschien eine Steilfalte, als wäre sie besorgt. Johanna nahm einen großen Schluck.
„Ist lecker“, sagte sie über das süße Zeug. Die Falte verschwand und ein Lächeln erschien. Sie sah nett aus.
„Du siehst deiner Mutter überhaupt nicht ähnlich.“
Johanna wusste nicht, ob das für oder gegen sie sprach. Astrids Mutter zündete sich noch eine dieser Stinker an.
„Ich sollte mit dem Rauchen aufhören, Astrid klaut mir ständig welche.“ Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, als würde sie das Ohr damit liebkosen wollen. „So ein Luder.“ Johanna suchte nach einer Ausrede, damit sie von hier abhauen konnte. „Ich bin zu nachsichtig, glaub mir. Ich habe deiner Mutter nicht übel nachgeredet, obwohl sie es verdient hätte.“ Jetzt verstand Johanna nur Bahnhof. Warum redete diese Frau überhaupt mit ihr? „Jede Frau musste Angst um ihren Mann haben, und meiner ...“, sie hing ihren Gedanken nach.
Johanna schob sich langsam vom Stuhl, vielleicht könnte sie verschwinden, bevor Astrids Mutter es mitbekam. Zu früh gefreut. Johanna zuckte zusammen, als sie fortfuhr.
„Da flogen die Eier gegen die Fensterscheibe, die Wäsche auf der Leine war zerschnitten, nicht schön. Das hätte sie nicht tun sollen, wo die Frau Bürgermeister erst ein paar Wochen unter der Erde war. Aber deine Mutter hätte auch ihren Bauch nicht so zeigen müssen.“ Auch die zweite Zigarette war geschafft und auf einmal hellte sich das Gesicht der Frau auf. „Ich habe ein Klassenfoto mit deiner Mutter drauf, richtig putzig.“ Sie erhob sich vom Stuhl. „Bin gleich wieder da“, flötete sie.
Nichts wie weg hier. Es war nicht das erste Mal, dass sie Andeutungen zu hören bekam. Sie konnte sich sehr wohl ein Bild daraus zusammensetzten, aber sie vermied es, daran zu denken. Was sie nicht in Sätze formte, was sie nicht aussprach, konnte sie als nicht vorhanden betrachten. Johanna eilte hinaus auf die Straße.
Auf dem Heimweg begegnete ihr Astrid, die sich darüber beschwerte, dass Johanna nicht auf sie gewartet hatte. Das stimmte zwar nicht, aber Johanna stupste sie an und rief, „fang mich doch.“ So konnte sie ihre Gedanken verscheuchen. Sofort nahm Astrid die Verfolgungsjagd auf. Es war ein Heidenspaß. Johanna kreischte, weil Astrid sie bald eingeholt haben würde. Sie umkurvte einen Traktor, einen Brunnen und schließlich einen Misthaufen. Plötzlich machte es Plumps und Astrid lag auf dem Boden. Sie fluchte über den Dreck auf ihrer Hose. Johanna versuchte zu helfen und klopfte den Schmutz von der Jeans, aber der Mist hinterließ Spuren.
„Scheiße, jetzt kriege ich Hausarrest“, sagte Astrid.
„Wegen des bisschen Schmutzes bestimmt nicht“, tröstete Johanna.
„Na, toll, du machst dich nie dreckig und ich sehe wieder wie Sau aus. Meine Mutter kriegt die Krise.“
Johanna überlegte. „Ich kann doch mitkommen und erzählen was passiert ist.“
Astrid verzog das Gesicht. „Klar, dann sieht sie, was dir nicht passiert ist.“ Sie musterte Johanna. „Aber wenn du auch dreckig wärst, dann ...“
Gerne hätte Johanna diesen Blick von Astrid auch gekonnt, der einen durchbohrte. Ein Blick, der forderte, verbot oder lauerte. Johanna ergab sich und kniete sich mit ihrer Cordhose in den Misthaufen. Freunde taten so etwas füreinander. An dem unveränderten Gesichtsausdruck von Astrid erkannte sie, dass es nicht reichte, also rutschte sie hin und her. Astrids Augenfarbe wurde von einem Grubenschwarz zu einem Seidenschwarz. Sie half ihr beim Aufstehen, doch als Johanna die Richtung zum Friseurladen einschlug, winkte Astrid ab, das sei nicht nötig, ihre Mutter würde ihr schon glauben.
Das letzte Stück zum Opa rannte Johanna und stoppte vor dem Renault ihrer Mutter. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter sie besuchte. Sie befürchtete nichts Schlimmes, weil sie sich freute und spähte daher durchs Fenster ins Haus. In der guten Stube saß der Opa vor dem Sekretär. Ein paar Meter hinter ihm stand die Mutter, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Hände zu Fäusten geballt und starrte auf den Rücken ihres Vaters. Sie konnte ihre Mutter nicht verstehen, aber den Ton ihrer Stimme. Genauso hatte sie gesprochen, als Johanna ihren Opa kennengelernt hatte. Im ersten Sommer.
„Das ist deine Enkeltochter“, hatte die Mutter damals gesagt, „ob du willst oder nicht.“
Der alte Mann hatte sich nicht vom Sofa gerührt, hatte nicht widersprochen, als die Mutter seine Enkelin hinter sich herzog und ins Schlafzimmer brachte, das einmal ihr gehört hatte. Sie hatte den Koffer aufs Bett gelegt und ausgepackt.
„Du bleibst hier und du benimmst dich.“ Johanna hatte den Zorn hinunter geschluckt, weil sie die Tränen kommen spürte. Das durfte auf keinen Fall passieren. „Die Landluft wird dir gut tun, blass wie du bist.“ Die Mutter hatte sie zum Abschied umarmen wollen, aber Johanna hatte sich weggedreht und getan, als würde das Stofftier auf dem Bett ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. So war die Mutter ohne ein weiteres Wort davongefahren. Allein. Ohne sie.
Johanna ging nun ins Haus und wollte hören, was los war. Auf Hals und Wangen der Mutter waren rote Flecken. Die bekam sie, wenn sie sich aufregte. Die Mutter erblickte Johanna und schritt auf sie zu, packte sie am Handgelenk und schimpfte sie aus: „Schau dich nur an, wohnst du im Schweinstall? Wir fahren nach Hause!“ Das war doch nur ein bisschen Dreck auf der Hose.
Wieder einmal überrumpelte die Mutter Johanna, die sich mitziehen ließ. Oben auf dem Flur begann Johanna sich zu wehren. Sie wollte bleiben, schließlich trafen sich heute alle Rabenkinder am Lagerfeuer, um Mais und Kartoffeln zu grillen und Gruselgeschichten zu erzählen. Wie oft hatte Johanna sich gewünscht, ihre Mutter würde kommen und sie holen, aber sie kam immer erst am Ende der Ferien, wenn die Schulpflicht wieder begann. Die Mutter wollte sie jetzt nur mitnehmen, weil sie sich mit dem Großvater gestritten hatte. Also stemmte sich Johanna gegen die Mutter, schrie, sie werde nicht mitkommen. Eine Art Tauziehen begann und da trat Johanna der Mutter vors Schienbein. Das Gesicht der Mutter verfärbte sich flammenrot. Sie griff nach dem erstbesten Gegenstand auf der Kommode, schlug zu. Das Bügeleisen traf Johanna an Hals und Schlüsselbein. Es krachte auf die Dielen und die Schritte der Mutter entfernten sich.
Johanna war schwarz vor Augen, fast wäre sie umgekippt, wenn sie nicht die Wand entlang auf den Boden gerutscht wäre. Nachdem die ersten Schmerzwellen abgeklungen waren, fiel ihr das Atmen wieder leichter. Sie musste eine Weile dort gekauert haben bis sie wieder Schritte hörte. Ob es der Mutter leid tat? Doch es war Astrid.
Sie schob die Hand weg, die sich Johanna vor den Hals hielt.
„Was hast du gemacht?“ In der Stimme lag Neugier. Was sollte Johanna erzählen? Niemals die Wahrheit.
„Die Missgeburt ist mit einem Stock auf mich losgegangen“, sagte Johanna und hoffte, ihr würde geglaubt. „Ich habe Karola gesagt, sie soll uns nicht dauernd hinterherlaufen.“ Eine Notlüge war keine Lüge, oder?
Astrid hockte sich hin und strich über das Metall des Bügeleisens. „Deine Mutter hat euch besucht. Die kommt doch sonst nicht.“ Mist, Astrid glaubte ihr nicht. Woher wusste sie von dem Besuch ihrer Mutter? Scheiße. Nun schaute sich Astrid wieder die Verletzung an und dann ihr direkt in die Augen. „Karola braucht eine Lektion. Oder was meinst du?“
Jetzt war der Zeitpunkt, die Wahrheit zu sagen. Doch Johanna konnte die Hürde nicht überspringen, denn Astrid wartete nur darauf, dass Johanna sich als Lügnerin preisgab. Das war mal wieder ihre Art sie zu demütigen. Johanna nickte.
Am Abend saßen die Mädchen um das Lagerfeuer am See. Es war Astrid, die von der Attacke berichtete, worauf Katja ihre Schwester verfluchte, die eine Plage sei. Johanna beeilte sich, die Sache herunterzuspielen und meinte, sie hätte die Sache schon vergessen und hätte Karola nicht provozieren dürfen. Dennoch war Katja einer Meinung mit den anderen Mädchen, sie wollte Karola ein für allemal verscheuchen. Johanna versuchte noch, Maria auf ihre Seite zu ziehen, setzte ihre Hoffnung auf sie, doch Maria war nicht weniger empört als Katja.
„Wie wäre es, wenn wir die Landratte ins Wasser werfen?“, schlug Astrid vor und blickte Johanna in die Augen. Spott las Johanna in ihnen.
„Die dumme Nuss ersäuft uns dann. Nein, sie soll denken, wir würden sie umbringen wollen.“ Katja leckte sich über die Oberlippe. „Ich habe eine Idee.“
Die Mädchen entwickelten einen Plan nach dem anderen, schmückten sie begeistert aus. Für den Rest des Abends schwieg Johanna. Astrid hielt sich zurück, beobachtete stattdessen Johanna, die nicht wusste, was sie tun sollte. Sie konnte nicht zurück. Die Worte kamen einfach nicht über ihre Lippen, egal wie sehr sie sich anstrengte, die Wahrheit herauszupressen. Sie blieb stumm. Konnte eine Lektion denn schaden? Hatte Karola nicht sowieso eine verdient?
Als Johanna sich im Sommer nach dem Unglück weigerte, zum Opa zu fahren, beharrte ihre Mutter zunächst darauf. Sie packte sogar den Koffer, woraufhin Johanna ihn den Müllmännern übergab. Nie im Leben wollte sie mehr ins Dorf fahren. Schon allein der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit. Die Schuldgefühle ließen sie nicht aus dem Würgegriff.
Der Schreck, als Karola sich nicht mehr bewegte, das verzweifelte lieber, lieber Gott, lass alles gut werden, und dann die Gewissheit, dass alles Hoffen vergebens war. Sie war ein schlechter Mensch, das wusste sie nun bis in ihr Innerstes. Sie konnte den Freundinnen nicht mehr gegenübertreten, denn sie wollte keine Geister heraufbeschwören. Es war ein Unfall, es war ein Unfall. Das hatten sie nicht gewollt. Doch Karola lag jetzt in einem Grab. In einem weißen Spitzenkleid, auf einem weißen Kissen, in einem Kindersarg.
Anfangs sah Johanna, wenn sie abends im Dunkeln lag, Karola vor sich. Weiß wie Kreide und die Hände über der Brust gefaltet in der tiefen, feuchten Erde. Johanna wusste nun, sie hatte es verdient, dass ihre Mutter sie nicht liebte. Sie konnte es jetzt akzeptieren. So wie sie es auch hinnehmen musste, dass Maria nicht mehr ihre Freundin war. Maria, bei der sie immer Trost gefunden hatte, wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben.
Nach dem Unfall hatte Johanna das Gewissen geplagt, doch auch die Angst. Die Angst, dass die Freundinnen ihr die Schuld geben würden und die Angst vor Claudia, die ausrasten würde und die Angst vor Astrid, die sie jederzeit verraten könnte. Mit wem hätte Johanna darüber sprechen können? Natürlich mit Maria. Maria würde Johannas Lüge nicht gut finden, doch sie würde ihre Hand nehmen. Sie tadeln und sie trösten. Also hatte Johanna sich auf zu Marias Haus gemacht. Sie ging sogleich nach hinten in den Gemüsegarten, wo sie Maria auch antraf.
Maria zupfte Unkraut aus dem Beet und hob kaum den Kopf, als Johanna an ihre Seite trat. Auf ihre Begrüßung erhielt Johanna keine Antwort, stattdessen konzentrierte sich Maria auf das Unkraut als sei es eine Aufgabe, die keine Unterbrechung erlaubte. Johanna wusste nicht, wie sie anfangen sollte, also fragte sie, ob sie helfen könne, doch Maria schüttelte nur den Kopf. Dann nahm sie allen Mut zusammen und versuchte die Worte zu sprechen, die ihr im Kopf schwirrten. Sie wollte Maria alles gestehen. Doch da war kein Lächeln, nur Marias Rücken und kein Wort wollte ihr über die Lippen kommen, so sehr sie es auch versuchte. Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder. Die Worte steckten im Hals fest, waren widerspenstig wie Köderhaken. Würde Maria sie doch nur anschauen. Johanna holte tief Luft, wollte reden, da stand Maria auf. Sie ging an ihr vorbei ins Haus. Kein Wort, kein Blick. Als wäre Johanna ebenfalls für sie gestorben.
Für Johanna fühlte es sich wie ein Schlag an. Schlimmer. Sie starrte auf das Haus, wartete darauf, dass Maria zurückkommen würde, aber Maria kam nicht. Maria, ihre Freundin, ließ sie stehen. Johanna spürte, wie sich ein Bleigewicht auf ihre Brust senkte. Maria wollte nichts mit ihr zu tun haben, Maria mochte sie nicht mehr. Astrid musste gepetzt haben und jetzt würde Maria nie mehr mit ihr reden. Maria verabscheute sie, da war sich Johanna sicher. Es war zu spät.
Mit gesenktem Kopf ging Johanna nach Hause. Auf halbem Weg musste sie sich ins Gras setzten, da ihr schwindelig wurde. Sie stützte die Stirn auf die Knie und umschlang ihre Beine. Sie glaubte, nie wieder aufstehen zu können, so elend und schwach fühlte sie sich. Sie wollte nur noch weg von hier.
Als die Mutter im Jahr danach nicht locker ließ und sie drängte, im Dorf die Ferien zu verbringen, waren die Gefühle, die sie durchlebt hatte, präsent als sei keine Zeit verstrichen. Die Mutter appellierte an ihr Herz. Wer wüsste, wie lange der Großvater noch leben würde, und er würde sich freuen seine Enkelin zu sehen. Sie blieb jedoch bei ihrem Nein, der Großvater könne sie doch mal besuchen kommen. Es gab noch einiges Hin und Her. Als Johanna die Suppenschüssel aus Meißner Porzellan fallen ließ, schickte ihre Mutter sie zu einer Ferienfreizeit nach Ameland.
Der Tiefpunkt zwischen ihnen kam dann im Herbst. Johanna kehrte gerade zurück aus dem Kino, als sie ihre Mutter weinend vorfand, die Augen verquollen. So hatte sie ihre Mutter noch nie gesehen. Sie blieb vor dem Wohnzimmer stehen, überlegte, ob sie sich wieder rausschleichen sollte. Doch ihre Mutter sah sie. Plötzlich sprang die Mutter vom Stuhl auf und schrie sie an: „Dein Großvater ist gestorben und du amüsierst dich!“ Sie schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
Der arme Großvater, so allein gestorben. Gerne hätte sie ihn besucht gehabt, aber es ging doch nicht. Sie wunderte sich über die Mutter. Hatte der Großvater ihr so viel bedeutet? Es gab doch nur eine Mauer zwischen ihnen. Sie dagegen hatte sich mit dem Großvater verstanden. Alles im Haus hatte sie sich ansehen, alles anfassen dürfen. Nie hatte der Großvater sie beschimpft oder geschlagen. Sie genoss jede Freiheit. Bei ihrer Ankunft gab es stets einen Teller mit ihren Lieblingskeksen auf dem Küchentisch und im Schrank Kakao, Nutella und Cornflakes. Einmal hatte er ihr sogar gezeigt, wie man schnitzt. Am Ende hatte sie ein wunderschönes Schwert und am Tag ihrer Abreise lag sein Perlmuttmesser auf ihrem Kopfkissen. Der Mutter hatte sie es nie gezeigt, weil sie fühlte, es würde sie ärgern.
Und nun war Johanna mit der Trauer der Mutter konfrontiert. Damit konnte sie weniger umgehen als mit der Wut, denn zu ihrer Verwunderung fühlte sie den Schmerz der Mutter, wie er sich in ihrer Brust ballte, wie er sich in den Kopf schlich und sie nur noch weinen wollte. Und gerade dieses Gefühl erfüllte Johanna mit Zorn. Sie wollte der Mutter nicht nahe sein. Sie und die Mutter hatten keine Gemeinsamkeiten und so sollte es bleiben. Armer Großvater.
Bis zum Tag der Beerdigung hatte die Mutter sie nicht mehr beachtet und sie auch nicht gefragt, ob sie mitfahren wollte. Sie war in ihr Auto gestiegen und hatte einen Zettel am Kühlschrank zurückgelassen mit Aufgaben, die Johanna zu erledigen hatte.
Nach der Beerdigung des Großvaters gab es nie wieder Schläge, aber die Mutter konnte ihre Tochter auch ohne Fäuste verletzten. Wie an dem Tag von Johannas Abiturball.
Das Motto lautete: Freibeuter der sieben Meere. Die Eltern hatte Johanna nicht eingeladen, weil das ihr Abend werden sollte, was der Vater verstand, die Mutter ihr jedoch verübelte. Johanna machte sich gerade im Bad zurecht. Sie trug ein schwarzes Kopftuch, schwarze Hosen und schwarze Kniestiefel, dazu eine weiße Bluse mit breiten Ärmeln und tiefem Ausschnitt. Natürlich musste der Busen zur Geltung kommen, nicht zu groß, nicht zu klein, schön rund war er. Mit ihm hatte sie Selbstsicherheit gewonnen; sie war jetzt nicht mehr ein kleines Mädchen, das herumgeschubst wurde, sondern eine Frau. Für eine Spätentwicklerin nicht schlecht. Trotzdem hatte sie keinen Freund. Jungs schienen ihr die Aufregung und das Getue nicht wert. Außerdem waren die Jungs, die sie kannte, alle Mittelmaß. Da regte sich nichts bei ihr.
Sie schwärzte ihre Augen mit Kajal und Wimperntusche. Perfekt. So sah sie verwegen aus, geradezu gefährlich. Gerade wollte sie Lippenstift auftragen, als ihre Mutter einen Blick ins Bad warf, den Kopf schüttelte und weiterging. Plötzlich kehrte sie um.
„Was ist nur mit euch jungen Leuten los? Statt ein hübsches Ballkleid anzuziehen, verkleidet ihr euch, als sei Halloween. Wie willst du jemals einen Freund finden?“
Die Mutter hätte gar nichts zu sagen brauchen, Johanna wusste auch so, was sie dachte. Vermutlich wollte sie ihr nur die Laune verderben. Erstaunlich, dass sie nichts über den Ausschnitt sagte.
Stattdessen sagte die Mutter: „Du bist wie ich.“
Das war ein Witz, sie war ganz und gar nicht wie ihre Mutter, nicht ein Stückchen. Warum redete diese Frau solch einen Unsinn? Doch dann kam der Hammerschlag, gekonnt wie es nur ihre Mutter beherrschte.
„Sex wird überbewertet. Dein Vater und ich hatten nie welchen und führen trotzdem eine gute Ehe. Es gibt sicherlich einen Jungen da draußen für dich, der ebenso denkt.“ Schon rauschte sie zu ihrer Staffelei, denn sie hatte das Aquarellmalen begonnen.
Der Lippenstift war am Kinn gelandet. Johanna nahm ein Kosmetiktuch und wischte ihn weg. Sie hatte nichts gehört, nein, sie musste es aus ihrem Kopf verbannen. Zu spät. Die Mutter hatte es ausgesprochen. Es gab keinen Weg mehr daran vorbei. All die Jahre hatte Johanna es vor ihr und sich selbst wie ein Geheimnis gehütet. Ihr Wissen, das sie sich aus Aussprüchen der Dörfler gebildet hatte. Niemals hätte sie es gegen ihre Mutter verwendet, auch nicht im härtesten Kampf. Immer hatte sie geglaubt, dass es ein dunkler Punkt im Leben ihrer Mutter war und den hatte Johanna schützen wollen.
Sie wollte auch nicht das Produkt eines Walrosses sein, wollte ihren Vater und nicht den Bürgermeister eines Kaffs namens Eichenstövel. Wie konnte ihre Mutter sich nur mit einem fetten, alten Mann einlassen und sich von ihm schwängern lassen? Sie war eine dumme, blöde Kuh. Wie konnte sie es ihr nur auf diese Art und Weise erzählen? Sie wusste doch gar nichts über ihre Tochter, wusste nicht, wie viel sie wusste. Johanna stand vor dem Spiegel, blinzelte mehrmals und drohte ihrem Gegenüber, nicht die Haltung zu verlieren. Ihre Mutter hatte sie verraten für einen Augenblick der Genugtuung. Johanna hielt sich am Waschbecken fest und ließ den Schmerz in sich dringen, leistete keinen Widerstand. Nur weinen, weinen wollte sie nicht. Keine Doofheitsflecken. Nein, sie würde auf den Ball gehen. Als Piratin, vor der sich die Welt fürchtete.
Ihr Vater hätte ihr so etwas nie angetan. Aber was wusste sie schon über ihn. Warum hatte er eine Frau geheiratet, die er nicht liebte? Hatte er ein Keuschheitsgelübde abgelegt, war er impotent oder schwul? Sie konnte ihren Vater schlecht nach seinem Sexualleben fragen. Und ihre Mutter? Sie war ganz und gar nicht so zufrieden, wie sie behauptete. Nein, sie, Johanna, würde nicht enden wie ihre Mutter. Sie hatte Gefühle in ihrem Körper.
Johanna legte ihre Fingerspitzen auf die Lippen und erspürte ihren ersten Kuss. Damals im Sommer auf dem Land. Warme, weiche Lippen, die ihre berührten und deren Wärme wie ein Strom durch ihren Körper floss. Es war zur Zeit ihrer Ekelphase gewesen. Sie ekelte sich vor dem Glibberspeck am Fleisch, vor Gläsern aus denen bereits andere getrunken hatten, vor dem Gemüse in der Suppe und vor den Jungs, die überall hinrotzten, ihre eigenen Popel aßen und die sich in allem den Mädchen überlegen fühlten. Eine Ausnahme gab es. Ein Blondschopf aus dem Dorf. Er trug die Haare bis zum Kinn und die Leute ärgerten sich darüber, so sähe ein Junge nicht aus. Natürlich entging Astrid nicht Johannas Interesse an ihm und sie versicherte ihr, dass sie keine Chance hätte. Er wollte mit Claudia gehen. Wer wollte nicht mit Claudia gehen? Und im Gegensatz zu Johanna konnte Claudia küssen.
Sie dachte daran, wie Claudia alle Jungs nach ihrer Pfeife tanzen ließ und die sich das gefallen ließen. Neulich hatte sie diesem Rotschopf einen Kuss versprochen, wenn er sich in den Brennnesseln wälzen würde. Claudia stand da, wie es einer Prinzessin geziemte. Um sie herum ihre Hofschar. Prinzen mussten sich den Aufgaben stellen. Alle hielten den Atem an, als der Rotschopf in den Graben voller Brennnesseln sprang. Was für ein Dummkopf. Claudia besah sich den Trottel von oben bis unten und meinte angesichts seiner Rötungen auf der Haut, dass er viel zu hässlich wäre für einen Kuss von ihr. Der ganze Hofstaat hatte gelacht, auch Johanna.
„Aber du hast mich als Freundin“, riss Astrid sie aus ihren Gedanken. „Ich zeige dir wie das geht. Das müsstest selbst du kapieren.“ Astrid nahm ihre Hand und versetzte ihr einen Schmatzer. „So küssen Tanten und so“, es gab den nächsten Kuss, „Kleinkinder“. Dann gab es einen weiteren Kuss, „und so Verliebte“.
Igitt, Spucke war auf ihrer Hand. Johanna ließ sich nichts anmerken, sonst würde Astrid wieder nur die Augen verdrehen.
„So und jetzt küsst du mich auf den Mund, mal sehen wie du dich anstellst.“
Das war nicht ihr Ernst, oder doch? Es war. Blamieren wollte Johanna sich nicht. Wenn sie erst einmal gezeigt hätte, dass sie küssen kann, würde sie es sicherlich nie wieder tun müssen. Sie spitzte die Lippen und drückte sie gegen Astrids Mund.
„Du hast Null Chancen gegen Claudia“, versicherte ihr Astrid. „Sei nicht so verkrampft. Stell dir vor, meine Lippen wären Götterspeise, die du mit verbundenen Augen und Händen essen möchtest.“
Woher nahm Astrid diese Vergleiche? Götterspeise. Das war albern. Aber Johanna schloss die Augen und legte die Hände auf den Rücken. Sie würde es Astrid schon zeigen. Ihre Freundin trat näher an sie heran, fast berührten sich ihre Nasenspitzen. Johanna bewegte sich nicht, spürte Astrids Atem auf ihrem Gesicht, roch den Duft der Wiesenblumen zu ihren Füßen, fühlte die Sonnenstrahlen auf ihrem Haar. Sie wartete und während sie wartete, schien ihr Körper weicher und schwerer zu werden. Lippen berührten ihren Mund, weiche, warme Lippen öffneten sich. So konnte sich also küssen anfühlen? Astrid mag mich, dachte Johanna. Freude durchströmte sie und sie glaubte darin zu versinken, fast fühlte es sich wie ein Schmerz an. Kein Gedanke war mehr in ihr, kein Zögern, keine Scham.