Kitabı oku: «Das Erwachen der Raben», sayfa 4
„Die Zwillinge gelten nur als eine Stimme“, entgegnete Astrid. Der eine Zwilling schaute Claudia an, der andere erhob sogleich Protest, den Astrid mit einer Handbewegung wegwischte. „Sie waren mal ein Mensch, kriegen also auch nur eine Stimme.“ Astrid verschränkte ihre Arme vor die Brust.
Claudia musterte Astrid: „Gut, aber sie muss ein Opfer bringen.“
Damit erklärte sich Astrid einverstanden. Alle schienen zufrieden, nur Johanna wurde mulmig zumute, was für ein Opfer? Als sie mit Astrid allein war, fragte sie nach.
„Mach dir nicht in die Hosen. Sie wird dir schon nicht den Kopf abhauen.“ Jetzt wurde Johanna richtig nervös. Der heilige Johannes wurde enthauptet und heute war das Johannisfest. Nun gut, Claudia würde ihr nicht den ganzen Kopf abhacken, das wäre Mord, aber vielleicht würde sie ein bisschen daran herumschnippeln, das wäre ein Opfer. Johanna wurde übel, sie traute Claudia nicht, nein, sie würde am Abend nicht auf der Wiese wie verabredet erscheinen. Astrid sah ihr die Ängstlichkeit an.
„Wenn du nicht kommst, werde ich nie wieder deine Freundin sein“, sagte sie verärgert. „Schisshasen kann ich nicht leiden.“
Was sollte sie tun, sie wollte Astrids Freundin bleiben. Ihr blieb also keine Wahl.
Im Dämmerlicht wirkte die Sommerwiese als wäre sie mit Magie überzogen. Die Rabenkinder hatten bereits Holz gestapelt, duftende Kräuter drüber gestreut und Steine angeordnet. Auf dem Boden lag ein Teppich aus Blütenblättern. Jedes Mädchen hatte sich Blumen ins Haar geflochten. Claudia sah in ihrem weißen Kleid aus wie eine Elfenkönigin, nur steckte in ihrer Blumenkrone eine Rabenfeder. Sie nahm Johanna bei der Hand und führte sie zum Steinkreis. Dort sprach sie Worte aus, die wie Zauberworte klangen, fremd und geheimnisvoll. Johanna bekam eine Gänsehaut. Sie sagte sich, dass alles nur ein Spiel sei. Johanna, stell dich nicht bescheuert an, mach mit, das sind deine Freundinnen. Es ist ein Abenteuer und du darfst dabei sein.
Rasch brach die Dunkelheit herein. Astrid und ein Zwilling zündeten das Feuer an. Es sah schön aus, das Orange und das Blau und das Gelb. Claudia legte ihr die Hände auf die Schultern, drückte sie auf die Knie runter, während die anderen Mädchen zuschauten. Der Himmel war schwarz, die Welt war schwarz, außer das Fleckchen Wiese, auf dem sie standen, mit dem Feuer, mit den Blumen, in ihren weißen Kleidern, an denen eine Feder befestigt war. Plötzlich spuckte Claudia ihr ins Gesicht, was Johanna erstarren ließ. Die Spucke rann ihr die Stirn hinab. Claudia war hinterhältig, war gemein. Sie hätte es wissen müssen. Doch dann beugte Claudia sich zu ihr hinunter und strich mit ihrer Feder die Spucke weg. Johanna hörte Claudia wieder diese Zauberwörter sagen.
„Rabenkind“, sagte sie dann weiter, „aus meinem Mund erfährst du deinen Namen.“ Sie trat hinter Johanna, legte die Hand auf den Kopf und drückte ihn hinunter zu den Feuersteinen. Nun zog sie das linke Ohrläppchen auf einen der Steine.
Wieder überkam Johanna ein Schrecken. Oh, nein, sie will nicht den Kopf, sondern das Ohr abhacken. Das Opfer würde ihr Ohr sein. Die Kinder in der Schule würden sie hänseln, ihre Mutter würde weinen und der Vater würde mit ihr schimpfen. Nein, sie musste jetzt wegrennen. Doch bevor sie aufspringen konnte, war da etwas Spitzes, gefolgt von einem Schlag, einem Schmerz.
„Steh jetzt auf“, befahl Claudia. Johannas Knie zitterten, ihr war schwindelig. Ein Zwilling half ihr auf und hielt noch den Stein in der Hand, mit dem er den Nagel durch das Ohrläppchen getrieben hatte. Ihr war als würde ihr Ohr in Flammen stehen. „Wähle nun“, sagte Claudia hoheitsvoll zu ihr, „wem aus dem Clan der Raben du deinen Namen verraten willst.“
Konnte es sein, sie gehörte nun tatsächlich zu ihnen? Die Angst wich der Freude. Sie hatte bestanden, sie hatte nicht versagt, sie hatte noch nicht einmal geschrien. Erwartungsvoll musterte sie die Mädchen, was würde nun passieren? Hoppla, sie sollte ihren Namen verraten? Den kannten doch alle! Nein, Claudia wollte ihr einen Namen geben; sie hatte ihr nach dem Schlag etwas zugeraunt. Hatte sie ihren neuen Namen richtig verstanden? Blöd, wenn sie ihn jetzt falsch sagen würde. Sie sollte wählen, also sollte sie nicht allen ihren Namen sagen, aber war das erlaubt? Johanna tat, was ihr das Sicherste erschien. Sie ging zu Astrid und flüsterte ihr den Namen ins Ohr. Astrid nickte, es war also die richtige Entscheidung. Aber noch immer ruhten Blicke gespannt auf ihr. Sie war nun im Clan der Raben. Sie richtete sich zu voller Größe auf. Sie gehörte endlich dazu. Diese Gedanken kreisten durch ihren Kopf. Auch Beatrice und Maria gab sie ihren Namen. Dann waren da wieder Zweifel. Sollte sie den Zwillingen den Namen geben, schließlich hatten sie nicht für sie gestimmt, Claudia kannte ihn, oder kannte Claudia ihn erst, wenn sie ihn ihr nannte? Sie wog ab und als sie sich endlich entschloss, auch den letzten drei den Namen zu geben, packte Astrid sie am Arm und sprang mit ihr über die Flammen.
Nun war auch für die anderen kein Halten mehr. Alle sprangen. Es ertönte ein Gekreische und Gejohle, in das Johanna einstimmte. Sie tanzten, drehten sich um das Feuer, stießen die Laute, die in ihnen waren, in die Nacht. Drehen, Kreisen, Stampfen, Füße hoch, Füße runter, Arme überall, die Glieder schwer, die Gedanken leer. Immer weiter. Als Johanna zu Boden fiel, sah sie den Rasen auf sich zukommen, sah die Grashalme, die Blumen und spürte die Feuchtigkeit der Erde auf ihrer erhitzten Haut. Sie glitt in einen Traum.
Als sie die Augen wieder öffnete, schrie sie auf, denn sie konnte nichts sehen, wusste nicht, wo sie war. Noch einmal schrie sie, als etwas nach ihr griff, doch da hörte sie Astrids Stimme. Langsam setzte sie sich auf und nun konnte sie das Glimmen des Feuers erkennen und Astrid, die davor hockte und mit einem Stock darin rumstocherte. Schnell rutschte Johanna neben ihre Freundin, suchte Schutz, schließlich waren sie mitten in der Nacht allein am Waldesrand.
„Du bist ohnmächtig geworden, aber du brauchst keine Angst zu haben, ich habe die ganze Zeit auf dich aufgepasst“, sagte Astrid, ohne dabei die Glut aus den Augen zu lassen. Das stimmte, sie brauchte keine Angst zu haben, denn sie hatte ihre Freundin an ihrer Seite, die beste Rabenfreundin, die sich ein Mädchen wünschen konnte, eine, die dich nie allein lässt. Endlich gehörte sie zum Clan der Raben. Das war einer der glücklichsten Momente der Kindheit gewesen.
Kinder und ihr magisches Denken, dachte Johanna und klemmte sich die Zeitschrift mit den Frisuren, die sie Sara zeigen wollte, unter den Arm. Sie stand vom Stuhl auf und blickte über ihren Garten, über den Rasen, die Sandsteine und die Pflanzen. In all den späteren Jahren hatte Johanna bezweifelt, dass die Dorfmädchen jemals ihre Freundinnen gewesen waren, aber solche Erinnerungen stimmten sie wehmütig.
Johanna ging hoch zu Sara und klopfte bei ihr an. Als sie eintrat, beugte sich Sara über ein Mathebuch.
„Schau mal, Sara, wäre das nichts für dich? Ich finde es hübsch. Weißt du, wir könnten gemeinsam zum Friseur. Der Salon um die Ecke bietet Rabatt, wenn Mutter und Tochter kommen. Danach könnten wir ein Eis essen gehen.“
Sara konzentrierte sich weiterhin auf ihr Buch. „Du bist nicht meine Mutter“, sagte sie beiläufig.
Wenigstens war sie so gnädig gewesen, ihr nicht ins Gesicht zu schauen, um zu sehen, wie es in sich zusammenfiel. Aber es war wohl nur Gleichgültigkeit.
Johanna stammelte: „War nur eine Idee, muss nicht sein.“ Haltung bewahren, Haltung bewahren, dachte Johanna und machte sich auf den Rückzug. War sie als Mutter weniger wert, weil sie das Kind nicht höchst persönlich aus ihrem Leib gepresst hatte? Musste sie erst Blut, Dammriss, entzündete Brustwarzen aufweisen, um als Mutter geadelt zu werden? Johanna hätte jetzt gern irgendetwas an die Wand geschmissen. Dieses kleine Biest.
Sie ging in ihr Arbeitszimmer, massierte ihre Schläfen. Arbeiten war immer eine gute Möglichkeit, sich auf Kurs zu bringen. An Sara durfte sie jetzt nicht denken, sonst würde sie sich noch zu einer Dummheit hinreißen lassen. Johanna schrieb derzeit an einem Buch über Armut in Deutschland, ein Thema, das sie in verschiedenen Varianten in ihrer Sendung diskutiert hatte. Der Verlag drängte sie zur Fertigstellung. Sie fuhr ihren Rechner hoch.
Katja, erinnerte sich Johanna, verachtete Menschen, die ihr Leben nicht selbst meistern konnten, die auf Hilfe angewiesen waren. Schuld seien sie alle selbst, sie seien faul, dumm oder schwach. Nun, damit war Katja nicht allein in diesem Land gewesen. Johanna sah Katjas Gesicht vor sich, wie sich die Falten um ihren Mund vertieften. Derselbe grimmige Ausdruck wie damals bei ihrer Zwillingsschwester Karola am See.
Im letzten Sommer auf dem Lande hatte Johanna ihre Barbiesammlung mit zum Opa genommen und auf diese Weise Pummelchen kennengelernt. Sie hatte gefragt, ob sie einer der Puppen die Haare kämmen könne, als sie Johanna auf der Pferdekoppel entdeckt hatte. Ihre Familie hatte das Knusperhäuschen am Walde, das seit Tante Heides Tod leer gestanden hatte, für drei Wochen gemietet. Johanna mochte die Nähe des niedlichen, rosigen Pummelchens, das Sanftmut ausstrahlte. Vor Pummelchen musste sie nicht auf der Hut sein, bei ihr musste sie mit keinen Überraschungen rechnen.
Das war bei Astrid und Claudia ganz anders. In der zweiten Woche übernachtete Johanna bei Pummelchen und dachte kein bisschen an die Clique. Überhaupt hatte sie in den letzten Tagen die meiste Zeit mit der neuen Freundin verbracht. Am nächsten Mittag begleitete Pummelchen sie auf dem Heimweg, auf dem sie Astrid, Claudia und Beatrice trafen. Die drei saßen auf dem Mauerstück am Bach und pafften. Astrid versperrte den beiden Mädchen den Weg.
„Na, hattet ihr Spaß?“, fragte Astrid mit einem Grinsen, das hinterhältig wirkte.
„Wir haben immer Spaß“, erwiderte Johanna trotzig.
Claudia schlenderte jetzt auch zu ihnen. „Wie schön für Dick und Doof.“
Johanna merkte, wie Pummelchen einen Schritt zurücktrat. „Ich habe keine Lust, mit dir Stinker zu reden“, sagte sie.
Claudia stieß Johanna mit ihrer Schulter an. „Du bist doch nur zu feige zum Rauchen.“
Johanna hatte es einmal probiert, für schlecht befunden und es dann gelassen. Astrid klatschte in die Hände und richtete damit die Aufmerksamkeit der Streithähne auf sich.
„Ich kenne ein Spiel mit einer Überraschung am Ende. Komm, Johanna, umarme mich und drück so fest du kannst gegen meinen Bauch.“ Johanna wollte nicht. Beatrice reckte den Hals, blieb aber auf der Mauer sitzen.
„Das ist albern“, sagte Johanna.
„Nein“, tönte Astrid, „willst du nicht die Überraschung herausfinden?“
Okay, dachte Johanna, ein Spaß kann nicht schaden und dann lässt uns Astrid weitergehen. Johanna schlang von hinten die Arme um Astrid und drückte zu. Plötzlich fühlte sie ein Brennen und zog die Hände weg.
Claudia lachte aus vollem Hals. „Mensch“, japste sie, „die ist echt doof!“
Astrid schaute, als wäre nichts gewesen. Johanna wollte sich nichts anmerken lassen, nicht zugeben, dass die Zigarettenglut, die Astrid auf ihren Handrücken gepresst hatte, Schmerzen verursachte.
„Und wo ist die Überraschung?“, fragte sie stattdessen.
Auf der Hand war ein roter Kreis und sie befürchtete, er würde für immer bleiben. Pummelchen war verschwunden.
Am nächsten Tag schaute Johanna bei Pummelchen vorbei, doch sie sei krank, behauptete ihre Mutter. Also schlenderte Johanna zum See, wo sich die Clique treffen wollte. Als sie ankam, waren Astrid, Claudia und Katja im Wasser. Nur Karola saß am Ufer, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Lippen zusammengepresst und starrte hinüber zu den Wasserratten. Karola konnte nicht schwimmen, wollte es auch nicht lernen, da sie Angst hatte. In diesem Sommer war es möglich, die Zwillinge auseinander zu halten, wenn sie an einem Platz waren. Sie kleideten und frisierten sich unterschiedlich. Hatte die eine von ihnen einen Pferdeschwanz, trug die andere das Haar offen oder geflochten. Die eine war immer mit den Freundinnen zusammen, die andere stand immer abseits. Karola war es, die ihrer Schwester wie ein Hündchen hinterherlief. Katja war es, die ihre Freiheit wollte.
Schnell hatte es sich Johanna angewöhnt, Karola nicht zu beachten, das machten alle so und von Karola war sowieso keine Antwort zu erwarten. Und wie sie da jetzt saß, schien es keine gute Idee zu sein, sie anzusprechen. Manchmal beschimpften die anderen Karola, weil sie ständig hinter ihnen herschnüffelte oder warfen Steine nach ihr, damit sie verschwand. Die Clique wollte nichts mehr mit Karola zu tun haben. Inzwischen war sie ganz anders als ihre Schwester geworden. Eine Spielverderberin und eine Petze. Außerdem gruselte sich Johanna vor Karola, auch wenn sie wusste, dass Karola nichts dafür konnte. Heimlich schaute sie, ob irgendwelche Missbildungen sichtbar wurden.
Seit Astrid ihr die Wahrheit über die Eltern von Karola und Katja erzählte hatte, war Johanna gehemmt gegenüber den Zwillingen, obwohl Astrid ihr gesagt hatte, dass Katja normal sei, nur Karola hätte es getroffen. Karola würde eine Schwachsinnige werden. Das sei das Gesetz der Vererbung. Astrid hatte gesagt, es sei die Strafe dafür, wenn Schwester und Bruder miteinander vögelten und Kinder bekamen. Im Dorf wüsste jeder davon, aber niemand würde darüber reden, zumindest nicht offen. Astrid hatte ihre Ohren überall und im Friseurladen ihrer Mutter bekam sie mehr mit als die Erwachsenen ahnten. Johanna war schockiert gewesen.
Nein, mit dieser Karola wollte sie nicht allein sein, also winkte Johanna Astrid zu, die daraufhin zum Ufer schwamm.
„Na, hat Pummelchen keine Lust mit dir zu spielen?“
Mist, vor Astrid ließ sich nichts verbergen. Johanna wurde rot; sie hatte Astrid belogen und behauptet, sie müsse dem Opa helfen und könne deswegen nicht mit zum See kommen. Sie verstand selbst nicht, warum sie ein schlechtes Gewissen bekam, wenn sie sich mit Pummelchen treffen wollte. Es war dieser Blick, den Astrid beherrschte, der Johanna einschüchterte, dem sie sich nicht entziehen konnte. Selbst wenn Johanna auf Astrid wütend war, schaffte es Astrid, ihren Willen durchzusetzen.
Um von ihrer Lüge abzulenken, zog sie sich schnell bis auf die Unterhose aus und sprang ins Wasser. Johanna war eine Schwimmerin, die es gerade schaffte, ihren Kopf über Wasser zu halten. Gegenüber den drei Mädchen wirkte sie wie eine Fußkranke bei der Wassergymnastik. Nach ein paar Minuten glaubte sie, genug Buße getan zu haben und wollte zurück zum Ufer. Astrid entschied jedoch dagegen, indem sie den Freundinnen zurief, Johanna hätte noch keine Wassertaufe erhalten. Plötzlich tauchten Hände auf ihren Schultern Johanna unter.
„Im Namen des Vaters“, rief Astrid.
Johanna kämpfte sich nach oben, schnappte nach Luft, wurde erneut heruntergedrückt von Claudia.
„Des Sohnes.“
Dann war Katja an der Reihe.
„Und des Heiligen Geistes.“
Nun war der Spaß zu Ende, glaubte Johanna. Wieder spürte sie Astrids Hände.
„Und der Heiligen Lügnerin.“
Johanna hörte unter Wasser das Lachen, allmählich bekam sie Panik. Dann waren da wieder Claudias Hände.
„Und der Heiligen Pisse.“
Katjas Hände.
„Und des Heiligen Kuhfladens.“
Ein Fuß traf Johanna am Oberschenkel. Vor Schmerz schluckte sie noch mehr Wasser. Sie strampelte, versuchte an die Oberfläche zu kommen. Kaum konnte sie nach ein bisschen Luft schnappen, wurde sie wieder gepackt und untergetaucht. Sie hörte nicht mehr, was die Mädchen sagten. Nur ihr Gurgeln rauschte ihr in den Ohren. Nach einer Weile ließen sie von ihr ab, als Astrid ausrief, dass es nun reiche. Sofort schwamm Johanna ans Land. Sie zitterte, ließ sich auf den Boden fallen. Ihr war übel von dem vielen Wasser im Bauch und von der Anstrengung. Claudia war ihr gefolgt und holte einen Ball aus ihrer Tasche.
„He, Bohnenstange, kannst du wenigstens mit einem Ball umgehen?“, fragte sie. „Eher nicht. Was sind das für hässliche Sandalen?“ Claudia drehte einen von Johannas Schuhen in der Hand und schleuderte ihn dann ins Gebüsch. „Wo kauft deine Mutter ein, beim Lumpensammler?“
Der andere Schuh und das Kleid folgten im hohen Bogen. Johanna konnte sich nicht wehren, war damit beschäftigt, nicht in Tränen auszubrechen. Aber der Druck hinter der Stirn verstärkte sich. Sie konnte es nicht verhindern, Tränen quollen hervor. Claudia baute sich vor Johanna auf und ditschte den Ball gegen ihren Kopf. Geschickt fing sie ihn wieder.
„Jetzt kriegt sie auch noch Doofheitspickel.“
Johanna wischte sich über das Gesicht; sie bekam immer Flecken vom Weinen. Claudia tippte Johanna mit dem Fuß an, doch als sie nicht reagierte, befand sie wohl, dass es sich nicht mehr lohnte und ging ins Wasser.
Johanna wollte nach Hause, nach Frankfurt. Sie wollte, dass ihre Mutter kam und sie mitnahm, dass ihre Mutter sie nie wieder hierher schicken würde. Sie würde ihre Mutter anrufen. Langsam rappelte Johanna sich auf, sah kurz hinüber zu Karola, die weiterhin die Wasserratten anglotzte. Diese Missgeburt, diese blöde Karola. Johanna sammelte ihre Sachen ein und ging. Sie weinte noch immer, ihre Mutter würde sie nicht holen, ihre Mutter würde sich nicht die Mühe machen. An der Abzweigung schlug Johanna nicht den Weg zum Opa ein, sie wählte die Straße zu Maria.
Vor dem Haus sprangen Maria und Beatrice Seil. Maria merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist mit dir?“ Ihre besorgte, sanfte Stimme war Balsam für Johanna. Wäre Maria doch nicht in der Clique, dann könnte Johanna öfters bei ihr sein, ohne Claudia und Astrid, doch Maria war gerne in der Clique.
„Ich Dussel“, Johanna zeigte ihren Ellenbogen und verdrehte die Augen, “habe mir den Musikantenknochen gestoßen.“ Sie grinste Beatrice an, die ein „Autsch“ erwiderte.
Froh, dass die beiden ihr glaubten, hellte sich ihre Stimmung auf, auch Maria, die ihr über den Arm strich und ihr Erdbeerpudding versprach, trug dazu bei. Selbst Beatrice, die sich selten für jemand anderen interessierte, gab Johanna das Seil in die Hand und band das andere Ende vom Zaun ab. Henriette, goldene Kette, goldener Schuh, wie alt bist du?, sangen sie, während Maria hüpfte. Fast vergaß Johanna darüber den Kummer, den sie verspürte. Eine halbe Stunde später holte Maria einen Teller Erdbeerpudding aus dem Kühlschrank.
Die Mädchen gruppierten sich auf dem Boden um den Teller. Sie knufften sich in die Seiten, lachten und verschmierten die Hälfte des Puddings, als sie versuchten, sich mit dem Löffelstiel im Mund gegenseitig zu füttern. Das war ein Spaß. Jemanden untertauchen, das war kein Spaß. Johanna musste an die Zwillinge denken und dann entschlüpfte ihr: „Komisch, die Zwillinge.“
Maria senkte ihren Kopf und leckte einmal über den Teller. „Och, an Katjas Stelle wäre ich auch sauer auf Karola“, sagte sie, „aber nur eine Woche.“
Beatrice zog ihren Finger akkurat um den Tellerrand. „Ich wäre total stinkig und ich finde es schäbig, wie feige Karola war“, Beatrice lutschte am Finger, „und sie gibt es einfach nicht zu.“
Johanna zog die Brauen hoch, sie wusste nicht wovon die beiden redeten. Maria klärte sie auf.
In der Schule waren Frau Baukötter, der Lehrerin, während der kurzen Pause fünf Mark abhanden gekommen. Sie hatte bereits den Aufgabenzettel für den Mathetest verteilt und die Schüler rechneten eifrig, als sie das Fehlen des Geldes bemerkte. Sofort mussten alle ihre Stifte aus der Hand legen und niemand durfte weiterschreiben bis der oder die Schuldige sich melden würde. Es war mucksmäuschenstill in der Klasse gewesen und Frau Baukötter hatte hinter ihrem Pult gesessen, ihre Armbanduhr abgebunden und gewartet. Die Zeit rückte vor. Der Köter, wie Astrid die Lehrerin nannte, schaute Maria immer wieder an. Fast hätte Maria die Anspannung nicht ausgehalten, glaubte sich erbrechen zu müssen, denn sie fürchtete, der Köter würde mit dem Finger auf sie zeigen. Der Köter mochte Maria nicht, sagte Gemeinheiten zu ihr. Erst letztens hatte er vor der Klasse gemeint, Maria müsse beim Diktat gemogelt haben, weil es nur zwei Fehler aufwies.
Frau Baukötter trommelte mit den Fingern aufs Pult und nahm Maria ins Visier. Schließlich stand sie auf und forderte Maria auf, die Schultasche zu leeren. Maria gehorchte. Mit zittrigen Händen breitete sie ihre Hefte und Bücher auf den Tisch aus. Das ging Frau Baukötter viel zu langsam, daher schritt sie auf Maria zu und durchsuchte die Sachen. Der Köter fand nichts und fletschte die Zähne. Kein gutes Zeichen. Denn das, was als Lächeln verstanden werden sollte, war eine Warnung. Die Stimme der Baukötter wurde höher und forderte alle Schüler auf, ihre Taschen zu leeren. Nur Astrid rührte sich nicht.
Der Köter kläffte sie an, ob sie eine Extraeinladung brauche. Doch Astrid kümmerte das nicht, sie zog sogar mit dem Fuß ihre Tasche zu sich, als die Lehrerin sie vom Boden heben wollte. Die Baukötter schnappte nach Luft. Astrid setzte gleich eins drauf und meinte, es sei doch wohl eine Entschuldigung bei Maria fällig, wenn die Schweißhände einer Lehrerin ihre Hefte beschmutzten, schließlich sei so etwas widerlich. Frau Baukötters Gesichtszüge entglitten. Fast wäre ihr das Taschentuch, das sie immer in den Händen hielt, heruntergefallen. Die Frau hatte Schwachstellen und damit kannte Astrid sich aus, auch damit, wie man sich eine Freistunde verschaffte. Die Baukötter hauchte ein „Verschwinde aus meinem Klassenzimmer“, was sich Astrid nicht zweimal sagen ließ.
Der Köter stürzte sich auf die nächstsitzende Schülerin, die Schwäche zeigte. Karola wagte nicht aufzuschauen, als die Lehrerin ihre Bücher und Hefte schüttelte und auch nicht als der Geldschein hinausfiel. Die Baukötter war selbst dermaßen überrascht, dass sie zunächst nur starren konnte, aber dann hob sie den Schein mit gespreizten Fingern auf. Sie hatte wieder die Oberhand.
„Ich bin sehr enttäuscht von dir, Karola“, sagte die Lehrerin und dann zu Katja gewandt, „und von dir genauso, weil du mir nichts gesagt hast.“ Sie klatschte in die Hände und befahl der Klasse, mit dem Test fortzufahren. Den Zwillingen jedoch nahm sie den Aufgabenzettel weg. „Strafe muss sein“, säuselte die Baukötter bittersüß.
Katja hatte über Tage nicht mit ihrer Schwester gesprochen, hatte sich nicht ihre Ausreden anhören wollen.
Jetzt verstand Johanna. Wie gemein, für das Klauen der Schwester bestraft zu werden. Beatrice schimpfte über Karola. Sie konnte nicht vergessen, dass beinahe die ganze Klasse wegen ihr bestraft worden wäre. Ihr Vater hätte das Cello für eine Woche weggesperrt, wenn sie eine sechs im Mathetest bekommen hätte, er wartete doch nur auf eine Gelegenheit. Maria warf jedoch ein, wie schlimm es für Karola gewesen sein musste. Erst der Beinbruch, wegen dem sie so lange im Krankenhaus bleiben musste und dann, kaum war sie wieder in der Schule, die viele Angst, wegen des Diebstahls bestraft zu werden. So war Maria, sie konnte nicht aus ihrer Haut.
„Papperlapapp“, widersprach ihr Beatrice, „Karola hat sich alles selbst eingebrockt. Warum klettert sie auch auf einen Baum oder klaut Geld von der Lehrerin?“
Johanna wollte wissen, was es mit dem Sturz vom Baum auf sich hatte. Beatrice verdrehte die Augen. Karola, der Angsthase, der Tölpel, hatte sich auf einen Baum getraut, um ihren Drachen zu holen und war runtergefallen, obwohl Astrid hinterher geklettert war, um ihr zu helfen.
Johanna wollte plötzlich nichts mehr davon hören. Sie erklärte, ihr Opa würde warten und verabschiedete sich, während die beiden sich auf zum See machten. Astrid, dachte Johanna. Sie spürte ihr Herz pochen. Würde Astrid Karola das antun? Würde sie Karola absichtlich vom Baum stoßen? Und hatte sie etwas mit dem gestohlenen Geld zu tun? Astrid entging doch sonst nichts. Schnell verscheuchte sie den Verdacht und lief nach Hause.
Sie hockte sich in den Sessel und las „Pippi Langstrumpf“, darüber vergaß sie alles andere bis der Opa sie zum Abendessen rief. Danach spielte sie mit ihm eine Partie Mühle. Das war ein Abendritual, das beide genossen. Kurz bevor Johanna ins Bett gehen wollte, trank sie in der Küche noch ein Glas Milch. Vor Schreck verschüttete sie ein paar Tropfen, als ihr jemand auf die Schulter klopfte. Astrid wollte mit ihr zur Scheune. Das war ihre Art der Wiedergutmachung, dass wusste Johanna. Johanna wischte die Milch weg und erklärte ärgerlich, sie müsse jetzt schlafen. Natürlich ließ Astrid nicht locker. Sie solle nicht eingeschnappt sein wegen des bisschen Wasserschluckens. Johanna schaltete das Licht aus, sie hatte keine Lust zu streiten.
„Sei nicht immer so langweilig, du benimmst dich wie ein Baby“, nervte Astrid.
„Ich bin halt langweilig“, antworte Johanna, wobei sie bereits die Treppe hoch ging.
„Du weißt ganz genau, dass ich nur mit dir dort hingehe“, zischte Astrid, „du willst doch meine Freundin sein?“
Fast hätte Johanna nein gesagt, doch sie betrachtete gerne mit Astrid die Sterne. Bei ihrem ersten Besuch der verwitterten Scheune, draußen vor dem Dorf, hatte ihr Astrid den Sternenhimmel erklärt. Sie wusste alles über die Milliarden Planeten und Galaxien. Astrid hatte auf die Sterne gezeigt; Kassiopeia, Andromeda, Herkules, den Drachen, den Adler, den Schlangenträger, den Delfin, den Großen Bären, den Kleinen Wagen, den Polarstern, und hatte ihr Geschichten erzählt. Sie war eine Geschichtenerzählerin, bei der Johanna es kaum abwarten konnte, wie alles zu Ende ging und gleichzeitig immer mehr hören wollte.
Also folgte Johanna wieder einmal Astrid auf dem Weg. An der Scheunenseite kletterten sie die Leiter hoch und stiegen durch eine Luke ein. Nun war es stockfinster, nicht das Geringste war zu erkennen. Astrid führte Johanna an der Hand zu einer weiteren Leiter, die aufs Dach führte. Johanna musste sich auf Astrid verlassen. Was wäre, wenn Astrid sie loslassen würde, nur um sich lustig darüber zu machen, wie Johanna herumirrte und schließlich heulte? Oder wenn Astrid sie am Rand des Heubodens losließ und sie hinunterfiel, so wie Karola vom Baum gestürzt war? Nein, nein, das würde sie nicht tun. Sie erreichten die Leiter und Astrid half ihr hinauf.
Als sie rittlings auf dem Dach der Scheune saßen, bereute Johanna nicht, Astrid gefolgt zu sein. Über ihnen die Sterne, zu viele um sie zu zählen. Johanna fühlte sich, als säße sie auf dem Dach der Welt. Den Kopf in den Nacken gelegt, sog sie das Funkeln in sich auf und ging auf Reise. Hier würde Astrid sie nicht als Langweilerin, als Baby bezeichnen, hier war Astrid selbst ein Kind des Purpurreichs. Johanna, den Blick auf den Polarstern gerichtet, spürte eine Hand auf ihrem Handrücken.
„Draco“, sagte Johanna, „was können wir tun?“
Seit der letzten Schlacht hatten sie viele Freunde, viele Gefährten verloren und die Häscher des Heiligen Rates waren ihnen noch nie so nahe auf den Fersen. Das Ende - ihr Ende - schien gekommen zu sein. Und Ganter, der Verräter, würde triumphieren.
„Ank-Te-Ka“, sprach ihre Schwester, „uns bleibt nur die Wahl zwischen Tod und Schwarzer Materie“.
Ank-Te-Ka sah keinen Unterschied zwischen den Möglichkeiten. Wenn sie den Sprung in die Schwarze Materie wagen würden, gäbe es keine Rückkehr und die völlige Ungewissheit, was sie erwarten würde. Die Wunde am Bein, die ihr die Wurmdiener geschlagen hatten, schmerzte. Draco wusste um den Schmerz, solche Wunden heilten nie.
„Ich werde es wagen“, sagte Draco, „ich bin bereit.“
Natürlich war Draco bereit, etwas anderes hätte Ank-Te-Ka nie erwartet, doch was war mit ihr? Sie spürte die Trauer in sich aufsteigen. So viel gekämpft, so viel gehofft, alles verloren. Sie konnte niemanden mehr retten, nicht sich selbst, auch nicht die Staubkinder, deren Todesschreie tausendfach mit jedem Atemzug zu ihr drangen. Millionen gab es einst und Ank-Te-Ka liebte jedes einzelne von ihnen. Die Trauer hüllte sie wie eine nasse Wolldecke ein, erstickte ihren Atem, ihren Willen. Sie gab Draco den Abschiedskuss auf die Stirn, jetzt würden sich die Wege der zwei letzten Kriegerinnen des Purpurreichs trennen.
„Niemals lasse ich von dir, Schwester“, flüsterte Draco, „du gehörst zu mir und ich gehöre zu dir.“
Nie hatte Johanna eine größere Verbundenheit zu Astrid gefühlt als dort oben auf dem Dach der Welt. Dort oben liebte sie Draco.
Johanna legte die Karteikarten zurück auf den Schreibtisch. Es hatte keinen Sinn, heute würde sie nicht zum Arbeiten kommen. Sie ging in die Küche, um Sammys Essen in die Mikrowelle zu stellen. Sara stand am Herd und kochte einen Hirsebrei. Es herrschte Funkstille. Johanna wartete mit verschränkten Armen auf das Piepen des Geräts, warf ab und an einen Seitenblick auf Sara. Dann reichte es ihr.
„Isst du jetzt nicht mehr, was ich koche?“, fragte sie gereizt. Sara tat so, als hätte sie nichts gehört. „Wenn du schon kochst, dann wenigsten für alle, dann spare ich mir das.“
Nun drehte sich Sara zu ihr. „Du kochst doch so gut wie nie für uns.“
Es war nicht Johannas Art überzureagieren, aber nun packte sie den Topf am Stiel und warf ihn in die Mülltonne. Sara öffnete den Mund. Gewitter lag in der Luft. Das Piepen ertönte. Johanna nahm den Teller heraus und drückte ihn Sara in die Hand.
„Kümmere dich um deinen Vater“, sagte sie und ihre Miene verriet, dass sie keinen Widerspruch duldete.
Johanna rieb sich über die Augen, was war das denn? Sie würde sich bei Sara entschuldigen müssen. Nein, auf keinen Fall, sie war nicht ihre Mutter, nur ihre Mitbewohnerin und Privatbank. Sie drückte ihr Kreuz durch, ein Gespräch war vonnöten. Vorsichtig ließ sie ihren Kopf kreisen bis das Knacken aufhörte. Ja, sie würde ganz einfach einen Termin mit Sara ausmachen, keine Ausflüchte, kein Verstecken.
Sie ging zum Wohnzimmer, blieb jedoch im Türrahmen stehen. Sara schnitt ihrem Vater gerade die Frikadelle zurecht, spießte ein Stück auf und drückte ihm die Gabel in die Hand. Während er in Zeitlupe kaute, berichtete sie ihm von ihrer letzten Ballettstunde, auch wenn er sich nur für die Fleischstücke auf dem Teller zu interessieren schien. Früher hatte Johanna bei dem Stichwort Ballett nur an Schwanensee und Tänzerinnen in Tutus gedacht. Nicht gerade prickelnd. Nun bewunderte sie Sara bei Auftritten, ihre Kraft, ihre Geschmeidigkeit, ihren Ausdruck. Sie schien den Boden gar nicht zu berühren. Ihr Tanz war wunderschön.