Kitabı oku: «Kein Durchkommen», sayfa 2

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Das Auditorium lacht. Rindecks Blicke schweifen beifallheischend durch den Saal. Vorsichtshalber lache ich mit. Warum nicht zum hundertsten Mal lachen über den immer gleichen Witz? Dorothea Weber lacht am lautesten. So eine Opportunistin.

Rindeck arbeitet sich unermüdlich vor: »Das Problem bei der Wettervorhersage ist – wie bei allen Vorhersagen: Sie haben weder die exakten noch die vollständigen Daten. Sie kennen lediglich die Daten, die Ihnen Ihre Messgeräte liefern. Je nachdem, wie engmaschig Ihr Informationsnetz ist, haben Sie also mehr oder weniger Informationen über den Jetzt-Zustand der Erde.« Ein wissendes Lächeln kräuselt Rindecks Lippen. »Noch dazu enthalten Ihre Daten kleine Messfehler – selbst wenn Sie die allerbesten Messgeräte verwenden, die es auf dem Markt zu kaufen gibt, oder die besten Satelliten befragen, die durch den Orbit schwirren. Heisenbergs Unschärferelation sagt nämlich, dass es exakte Daten über den Ort und über den Impuls dieses Ensembles von Teilchen, die für das Wetter verantwortlich sind, aus grundsätzlichen Gründen nicht gibt.«

Scharrende Füße, knarrende Stühle, heimliches Gähnen, Rascheln von Bonbonpapier. Erste Ermüdungserscheinungen unter den Zuhörern. Rindeck sollte das Tempo anziehen.

»In der Meteorologie zeigt sich überdies, dass winzige Änderungen im Gesamtsystem zu komplett anderen Ergebnissen führen können, eine Beobachtung, die erstmals Edward N. Lorenz 1960 in seiner einfachen Wettersimulation formulierte. Sie haben bestimmt schon davon gehört: der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien, in unseren Breiten besser bekannt als umstürzender Reissack in China.« Das Publikum gluckst. Na also, nun hat er sie wieder eingefangen. Rindeck zieht die schmalen Brauen zusammen. »Erstaunlicherweise lässt sich dieses chaotische Verhalten mathematisch sehr präzise beschreiben.«

Die hintere Tür vom Hörsaal öffnet sich. Alle drehen sich um. Ein schlanker Mann in schwarzem Zwirn betritt den Saal. Ein Raunen geht durch die Zuschauerreihen. »Ist das nicht der aus dem Fernsehen?«, murmelt jemand hinter uns.

»Franz Seeler«, flüstert Dorothea Weber mit dunkler Stimme.

Franz Seeler nickt Rindeck zu, streut ein professionelles Lächeln über das Publikum und setzt sich auf einen der freien Plätze in der hintersten Reihe. Franz Seeler, der berühmte Fernsehmeteorologe. Sein Kopf ist so glattrasiert und rund, dass man jedes Mal Angst hat, er kugelt aus dem Bildschirm.

»Erstaunlicherweise lässt sich dieses chaotische Verhalten mathematisch sehr präzise beschreiben«, wiederholt Rindeck. Er ist etwas aus dem Konzept gebracht. Um in seinen Redefluss zurückzufinden, zaubert er einen alten Trick aus der Tasche: Er fixiert den Neuankömmling. »Aus den beobachteten Wetterdaten auf Klimaveränderungen zu schließen wäre falsch«, sagt er. »Denn das Wetter, meine sehr verehrten Damen und Herren«, an dieser Stelle macht er eine seiner vielsagenden Pausen, während er weiter Franz Seeler fixiert, »das Wetter ist das reinste Chaos.«

Das Publikum lacht. Nicht zu Unrecht, gestern das reinste Sonntagswetter, heute strömender Regen.

»Aber wozu führt das Chaos in der computergestützten Meteorologie?«, fährt Rindeck fort, noch ehe das Lachen verebbt ist. »Vor fünfundzwanzig Jahren konnte auf einem Computer – mit sechs Stunden Rechenzeit – eine Simulation berechnet werden, die das Wetter für, na, sagen wir drei Tage halbwegs vernünftig vorhersagte. Heutige Computer rechnen eine Million Mal schneller. Was schätzen Sie, für wie viele Tage kann das Wetter vorhergesagt werden, wenn ein heutiger Computer sechs Stunden an der gleichen Simulation des Wetters rechnet? Die naive Antwort könnte lauten: für drei Millionen Tage.« Rindeck schaut seine Zuhörerschaft so zwingend an, dass mancher den Atem anhält. »Tatsächlich stieg der zuverlässige Vorhersagezeitraum in mittleren Breiten von etwa drei Tagen auf gerade mal vier bis fünf Tage. Sehen Sie, und daran ist das Chaos schuld.«

Jörg Held bohrt selbstvergessen in der schmalen Nase.

»Das viele Geld«, kommt es von hinten, »das seit Jahrzehnten aus öffentlichen Mitteln in die Grundlagenforschung fließt …« Das gesamte Auditorium dreht sich um. Franz Seeler lächelt und nickt dem Publikum ein weiteres Mal wie zur Begrüßung zu. »Und dennoch kaum Fortschritte bei der Simulationsrechnung, lieber Professor Rindeck?« Er erhebt sich langsam, schließt die beiden Knöpfe seines Jacketts und wiederholt: »Lieber Professor Rindeck?« Er trennt den Namen in Rind und Eck. Wenn das nicht an Provokation grenzt.

»Selbstverständlich gibt es Fortschritt, ganz erheblichen Fortschritt sogar.« Rindecks Gesichtsausdruck bleibt straff und gespannt. Kein verbindliches Lächeln. »Aber der Vorhersagezeitraum in der Meteorologie wächst leider nicht proportional zum Fortschritt.« Plötzlich lächelt er doch. So süßlich wie Seeler. »Die Sache ist komplexerer Natur, als sich gemeinhin in drei Minuten zwischen zwei Werbeblöcken darstellen lässt.« Die Leute lachen. Die Anspielung auf Seelers Sendung Das Wetter von morgen und keine Sorgen sitzt.

Seeler scheint hier nicht sonderlich beliebt zu sein. Wie hoch ist seine Einschaltquote? Mal meinen Hauswirt fragen. Der interessiert sich für Einschaltquoten. Außerdem guckt er sich den Wetterbericht wegen seiner empfindlichen Stockrosen regelmäßig an. Seeler öffnet den unteren Knopf seines Jacketts und setzt sich wieder.

»Sie sollten sogar dankbar sein über die beschränkte Vorhersagezeit, werter Herr Kollege«, sagt Rindeck und grinst süffisant. »Das verschafft Ihnen gleich zwei lukrative Fernsehauftritte pro Woche.« Bravo! Zwei zu eins für Rindeck, denke ich gemeinsam mit dem jauchzenden Publikum.

»Gewähren Sie uns Einblick in die von Ihnen und Ihrer Gruppe verwendeten Rechnertechnologien, Professor Rind-eck?« Seeler fragt, als sei er persönlich nicht interessiert an einer Antwort, als frage er im Auftrag der Zuhörer, als wäre das hier sein Studio mit seinem Publikum.

Rindeck räuspert sich. »Das Deutsche Klimarechenzentrum DKRZ besitzt die neuste Generation sogenannter massiv-paralleler Computer.«

»Und worin besteht der von Ihnen gepriesene Fortschritt?« Die Hörerschaft blickt wie beim Tennismatch abwechselnd von Seeler zu Rindeck, der sich von seinem Vortrag völlig zu lösen scheint.

»Das Kernstück«, antwortet Rindeck, »besteht aus Dutzenden von CPUs, die ihre Rechenoperationen gleichzeitig durchführen, was der Simulationsrechnung ganz ungeahnte Möglichkeiten eröffnet.« Rindeck reckt zufrieden das Kinn. »Aber kommen wir doch weg von der piefigen Wettervorhersage«, er schaut zu Seeler, »und hin zur Klimasimulation. Wenngleich für beide gilt, dass man ihnen nur trauen kann, wenn sie in der Lage sind, die gemessenen Wetterdaten vernünftig zu reproduzieren. Andererseits reichen punktuelle Messungen nicht aus. In der Klimaforschung beispielsweise benötigt man die Kenntnis der globalen, dreidimensionalen Verteilung der Treibhausgase. Es zeigt sich nämlich, dass das Kohlendioxid keineswegs gleichmäßig in der Atmosphäre verteilt ist.« Rindeck nimmt einen Schluck aus seinem Wasserglas. »Vor Jahrzehnten schickte man dazu noch Sonden mit Wetterballons durch die Lüfte. Heutzutage führen Satelliten Infrarotmessungen durch. Daraus lassen sich wesentlich realistischere Modelle des Transports von Treibhausgasen in der Atmosphäre entwickeln.«

»Interessant, aber kommen Sie zum Punkt«, unterbricht ihn Seeler. Kämmerlein wirft ihm einen strafenden Blick zu.

»Spannenderweise, und damit kommen wir zu des Pudels Kern«, fährt Rindeck fort, als hätte er Seelers Kritik nicht gehört, »gelingt die Simulation der derzeitigen Wetterverhältnisse nur, wenn den Simulationsrechnungen sowohl natürliche als auch menschgemachte Faktoren zugrunde gelegt werden. Denn natürliche Ursachen, wie Vulkanausbrüche oder Waldbrände, können bei weitem nicht die jüngste Erwärmung unserer Atmosphäre erklären, die sich objektiv und ohne Zweifel nachweisen lässt. Die vom Menschen verursachten Emissionen wiederum erklären die Summe der Effekte genauso wenig. Berücksichtigt man dagegen beide Faktoren, das heißt, natürliche wie menschgemachte, lässt sich der Verlauf des Temperaturanstiegs sehr gut nachvollziehen.«

Wie zur Bekräftigung dieser Behauptung rüttelt der Wind stürmisch an den Fenstern.

»Was passiert nun aufgrund des Klimawandels, der unter seriösen Meteorologen«, Rindeck sieht bewusst an Seeler vorbei, »nicht angezweifelt wird? Welche Folgen wird der Klimawandel für Hamburg haben?« Das fragt sich jetzt auch das Publikum, das angesichts der Bedrohung wieder den Atem anhält. »Der Klimawandel erwärmt den Ozean. Wirbelstürme werden mehr Energie aufnehmen und zunehmend stärker. Betroffen sind davon insbesondere die Gewässer in den tropischen Breiten. Hurrikans bilden sich im Atlantik und ziehen Richtung Karibik und USA.«

»Also keine Gefahr für Hamburg?« Die Leute im Saal drehen sich zu Seeler. Er ist von seinem Stuhl aufgestanden, schließt den unteren Knopf des tadellos sitzenden Jacketts und wippt auf seinen Absätzen. Herausfordernd elegant sieht er aus, trotz des Regens, durch den er vorhin gekommen ist. Wie aus dem Ei gepellt.

»Professor Doktor Rindeck wird sicherlich gleich auf Hamburg zu sprechen kommen«, wirft Kämmerlein vorsichtig ein.

»Kein Problem, Zwischenfragen sind strengstens erlaubt«, beschwichtigt Rindeck. »Selbst aus der letzten Reihe.«

Allgemeine Heiterkeit. Drei zu eins für Rindeck.

»Die Sturmflutgefahr wird selbstverständlich auch für Hamburg zunehmen. Wobei hier regionale Faktoren wie die geplante Elbvertiefung bedeutsamer sind als die Konsequenzen aus dem Klimawandel. Hamburg wappnet sich mit entsprechender Intensivierung seines Deichbaus. Das Problem wird sozusagen weggedrückt. Wie dem auch sei, Hamburg, Europa und die Welt werden sich auf die Häufung gewaltiger Stürme einstellen müssen.«

»Es könnten aber doch auch die Scheerwinde zunehmen? Die wehen an der Oberfläche der Ozeane anders als in der Höhe«, hält Franz Seeler dagegen. »Solche Winde stören die Sturmsysteme. Die Klimaforschung weiß doch noch gar nicht, welcher der Faktoren überwiegen wird.«

Draußen ziehen schwarzdunkel die Wolken vorbei, wie eine unbestimmbare Bedrohung, eine Gefahr.

»Spätestens ab dem Jahr 2050 dürfte der Nordpol im Sommer regelmäßig eisfrei sein«, übergeht Rindeck Seelers Einwand. »In den vergangenen zwanzig Jahren ist das Eis nachweisbar zurückgegangen. Nach unseren neusten Simulationen ist eine weitere rapide Reduktion zu befürchten.«

Beklommene Stille. Kämmerlein erhebt sich leise von ihrem Stuhl und füllt Rindecks Wasserglas auf.

»An Grönlands Küsten schmilzt im Sommer mehr Eis als in den Jahren zuvor. Das Ökosystem mit dem Eisbären an der Spitze gerät aus den Fugen. Die Lebensgrundlage der Ureinwohner ist in Gefahr.« Rindeck hat sich ganz von seinem Redemanuskript gelöst. Er spricht frei zum versammelten Publikum.

»Aber das hat doch auch etwas Positives«, tönt Seeler über alle Köpfe hinweg. »Den Staaten mit arktischen Küsten eröffnen sich neue Schifffahrtswege. Die Suche nach Ölfeldern in der Arktis wird einfacher. Sibirien wird besiedelbar.« Dieser Wetterfrosch scheint mir von gefährlicher Penetranz zu sein. Ich wünschte, Asphalt-Wilfried wäre hier. Wie der Seelers Selbstdarstellung aufmischen würde mit seinen Zwischenrufen. Das gesamte Auditorium würde sich biegen vor Lachen, sogar Kämmerlein. Und Seeler mit seinem Brilli im Ohr würde den Schwanz einziehen und sich zu seiner Wetterkarte zurückziehen.

»Das Eis der Arktis wirft bisher einen Großteil des einfallenden Sonnenlichts ins All zurück, nach der Eisschmelze wird dieser Anteil von der Erde absorbiert werden. Was das bedeutet, muss ich, glaube ich, nicht erklären«, erwidert Rindeck, und ich sehe, wie sich seine dünne Haut über den Wangenknochen spannt.

»Aber werter Herr Kollege Rind-eck, die Folgen der Erwärmung sind nicht für alle Regionen nachteilig. Was für die einen eine Gefahr ist …«

»Hochwassergefährdete Länder sind Honduras, Bangladesch, Nicaragua, Vietnam.«

»… ist für die anderen möglicherweise ein Segen.«

»Dominikanische Republik, Haiti, Indien, Venezuela.«

»Feuchte Gebiete in hohen Regionen werden feuchter, fein.«

»Frankreich, China, Deutschland, USA.«

»Trockene Gebiete in den Subtropen trockener, okay. Aber ist das eine Katastrophe?«

Die Köpfe im Hörsaal machen Pingpong, und Pingpong macht auch der Kopf von Kämmerlein. Verdammte Hacke, Rindeck sollte dem Wetterfrosch endlich das Maul stopfen.

Rindeck hebt die Hand. »Herr Kollege Seeler, in vielen Staaten wird Landwirtschaft kaum mehr möglich sein. Die Leute werden sich immer häufiger fragen: Wo bleibt der Regen?«

»Skandinavien, Sibirien könnten sich hingegen zu Kornkammern entwickeln.« Das Publikum nickt. Es klingt durchaus plausibel, was Seeler sagt. Anschlusstreffer.

»In dem von den Fachkollegen gegenwärtig am stärksten favorisierten Szenario erwärmt sich die Welt im Mittel um zwei Komma acht Grad Celsius.«

Das Publikum schaut etwas ratlos von Rindeck zu Seeler. Was sind schon zwei Komma acht Grad Celsius?

»Was sind schon zwei Komma acht Grad Celsius?«, fragt Seeler prompt. Ausgleichstreffer. Scheiße. Der Wetterfrosch hat jetzt ordentlich Wasser unterm Kiel.

»Wenn ich die Ergebnisse Ihrer Arbeitsgruppe richtig verstanden habe, werter Herr Kollege Rind-eck«, immer wieder dieses Rind-eck, »dann kommt doch Norddeutschland Ihrer Simulation zufolge alles in allem glimpflich davon.«

»Allerdings sind genaue Daten für derart ausgewählte Regionen klimatologisch sehr schwierig zu simulieren.« Rindecks Lippen zucken vor Wut.

»Dann geben Sie also zu, werter Herr Kollege, dass genaue Vorhersagen gar nicht möglich sind?« Triumph schwingt in Seelers Stimme, er schaut ins Publikum, wartet auf lebhafte Zustimmung aus dem Saal. Der Moderator als Star kurz vor dem nächsten Torschuss.

»Vorhersagen sind möglich, Doktor Seeler. Insbesondere sind Trends erkennbar, die …« Rindeck bricht plötzlich ab. Sein Gesicht geht zu. Er schiebt seine Manuskriptseiten auf dem Pult zusammen, klopft sie säuberlich auf Kante und sagt förmlich: »Meine Damen und Herren, wir haben die Zeit weit überzogen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Und mit einem schiefen Lächeln: »Soweit es das Wetter erlaubt.« Er tritt vor das Pult, verbeugt sich kurz und strebt zur Seitentür. Dort dreht er sich um und ruft müde nach hinten: »Mundus vult decipi. Und Sie spielen dabei den Betrüger, Herr Seeler. Sie sind Biedermann und Brandstifter zugleich.« Die Tür schließt sich. Stille.

»Das tut mir leid, sollte ich Professor Rindeck mit diesem kleinen Disput provoziert haben«, entschuldigt sich Franz Seeler beim Publikum. Das schweigt.

Kämmerlein tritt vor das Pult, hektische Flecken im Gesicht. »Meine Damen und Herren, vielen Dank für Ihren Besuch. Ich hoffe, die interessante Veranstaltung …« Sie nimmt Rindecks Glas und holt hinter dem Pult eine Wasserflasche hervor. Dann verschwindet auch sie durch die Seitentür.

Ratlos schauen sich die Anwesenden an. Nach und nach erheben sie sich von ihren Stühlen, auch unsere Gruppe steht auf. Ich lasse mich von der drängenden Menge zum Ausgang schieben.

Plötzlich steht Seeler dicht neben mir. »Sie gehören doch zur Arbeitsgruppe von Rindeck?«, sagt er mit Betonung auf Sie. Ich rieche seinen Pfefferminzatem. »Doch, doch«, beteuert er, »ich habe Sie auf der Weltklimakonferenz im Sommer gehört. Sehr beeindruckend, Ihr Vortrag, wirklich.« Er blickt sich um und sagt vertraulich: »Dieser kleine Schlagabtausch mit Ihrem Doktorvater tut mir leid. Eigentlich wollte ich ihn und seine Arbeitsgruppe zu meiner Sendung nächste Woche einladen.« Er greift in die Innentasche seines Jacketts. »Könnten Sie ihm das hier geben?« Er überreicht mir ein Kuvert, wirft mir einen letzten charmanten Blick zu und ist auch schon weg.

Warum, frage ich mich, bin ausgerechnet ich ihm aufgefallen? Ob er sich meinen Vortrag im Sommer wirklich angehört hat? Offensichtlich, sonst hätte er ihn nicht erwähnt. Ich suche in meiner Hosentasche nach meiner Garderobenmarke. Alle nesteln nach ihren Garderobenmarken. Die Marken werden rübergereicht, die Mäntel und die Regenschirme herausgegeben. Ich ziehe meine Lederjacke an. Sie ist noch ganz nass von meiner morgendlichen Motorradfahrt.

»Nicht das beste Wetter zum Mopedfahren.«

»Ole? Lange nicht gesehen«, rufe ich überrascht. Mindestens acht Jahre. Mein Gott, ist der alt geworden. »Der Vortrag ist vorbei«, sage ich. »Und du weiß doch, wer zu spät kommt, den …«

»Lass den ollen Spruch, Nik«, unterbricht er mich und zieht sich eine Regenjacke über. »Ich war da. Zweite Reihe rechts.«

»Dann warst du das mit dem Taschentelefon?«

Er grinst. »Die Mädels vom FSK haben mitten in Rindecks Vortrag angerufen.« Er klopft auf eine Stelle seiner Jacke, wo ich sein Handy vermute. »Wir machen heute Abend eine Live-Sendung zu diesem Thema.«

»Arbeitest du immer noch für das Freie Sender Kombinat?«

»Selbstverständlich. Diese Woche beschäftigen wir uns mit dem Klimawandel und der Globalisierung. Hör ruhig mal rein«, sagt er und lacht unangenehm. »Auch wenn du dich in deinem Forschungsinstitut gut eingerichtet zu haben scheinst.« Ein kleiner Seitenhieb auf meinen Rückzug aus der politischen Szene. Wieder klingelt sein Handy. »Du gestattest?« Er greift in seine Jacke. »Was gibt es? Nein, ich hab ihn verpasst. Ich bleib aber dran.«

Er nickt mir zum Abschied zu und verlässt im versiegenden Strom der Gäste das Haus der Patriotischen Gesellschaft. Meine Gruppe muss auch schon gegangen sein. Kämmerlein steht gegenüber der Garderobe am Fenster und schaut traurig in den Regen. Ich sehe zu, dass ich rauskomme.

Unterwegs
Montag, der 8. November, 19:38 Uhr

Gnadenloses Läuten, das mich aus dem Schlaf reißt. Zwei Sekunden Stille. Dann wieder gnadenloses Läuten. Das Licht der Deckenlampe sticht mir wie Nadeln in die Augen. Wo ist das Telefon? Verdammtes schnurloses Telefon. Früher brauchte ich nur der langen Strippe zu folgen.

Ich finde den Apparat schließlich beim Ficus Benjamini. »Ja?«, frage ich kraftlos in die Muschel.

»Sag bloß, ich hab dich geweckt.« Es ist Asphalt-Wilfried.

»Hast du mich geweckt?«

»Sput-Nik, es ist zwanzig vor acht. Was machst du in den Federn?«

»Ich muss grad eingenickt sein.«

»Sput-Nik, hey!«, sagt Wilfried barsch. »Heute findet im Hafenklang die Benefizveranstaltung Zur Rettung der Welt statt. Hast du das etwa vergessen?«

»Selbstverständlich nicht«, lüge ich.

»Ich hole dich in dreißig Minuten ab. Shake your legs, baby! Ich bin pünktlich.«

»Klar. Wie immer. Plus 30 Minuten«, antworte ich, aber Wilfried hat schon aufgelegt.

Unter der Dusche lasse ich eine halbe Ewigkeit heißes Wasser über meinen Körper laufen. Ich fühle mich völlig zerschlagen. Wie konnte ich nur die Benefizveranstaltung vergessen? Vielleicht, weil ich an die Rettung der Welt nicht mehr glaube?

Ming Mädsche!, ruft mir Großvater Edu aus Himmelssphären in seinem singenden, niederrheinischen Tonfall zu. Sei nicht so fatalistisch!

Vielleicht bin ich auch nur überarbeitet. Diese zermürbende Maloche an CORVUS. Und was kommt dabei raus? Null Komma nix. Ich kann einfach nicht mehr. Ich schlüpfe in meinen Morgenmantel und schlurfe in die Küche. Die Bedienung der Kaffeemaschine geht mir von der Hand wie das Pianospiel mit Fäustlingen. Während der Kaffee durchläuft, sinniere ich vor mich hin. Niemand da, der mich dabei unterbricht. Leider auch keine Milch. Kaffee pur. Wie ich das hasse.

Ich stelle das Radio an. Blümchens Cover-Version von Nena knallt mit harten Techno-Beats aus dem Gerät.

Ich hab heute nichts versäumt,

denn ich hab nur von dir geträumt,

wir haben uns lang nicht mehr gesehn,

ich werd mal zu dir rübergehn,

alles, was ich an dir mag, mein es so, wie ich es sag,

ich bin total verwirrt, ich werd verrückt, wenn’s heut passiert …

Die Trennung von Ulli ist auch schon wieder drei Monate her.

Ich bin so allein, ich will bei dir sein,

ich bin so allein, ich will bei dir sein,

ich bin so allein, ich will bei dir sein …

Ich schalte das Radio aus. Woran ist die Beziehung eigentlich zerbrochen? Ich weiß es nicht. Es wurde mir einfach zu eng. Zu häuslich. Jeden Dienstag mit ihr über den Ise-Markt latschen und Linda-Kartoffeln kaufen, das kann es doch nicht sein. Am Ende hätte sich Ulli noch ein Kind besorgt für unser Familienglück. Ich musste da raus. Verdammt, ich bin so allein. Eigentlich will ich bei dir sein.

Kaum bin ich angezogen, da klingelt es an der Haustür. Ich schaue auf die Uhr: 20:12 Uhr. Um 20 Uhr 13 steht Wilfried in meiner Wohnung. Er trägt Röhrenjeans, ein hellblaues T-Shirt unterm Sakko und die Haare rappelkurz. In der Hand hält er eine weiße Plastiktüte.

»Auf die Minute pünktlich«, japst er und schmeißt die Tüte in den Sessel.

»5 Minuten zu spät«, sage ich streng.

»Ich wollte doch mit der kleinen Verspätung nur deine Vorfreude steigern«, lächelt er charmant. »Außerdem hab ich was für dich.«

»Deine neue Frisur gefällt mir.«

»Tja, mit dem Älterwerden sind wir äußerlichen und innerlichen Veränderungen unterworfen.« Er tippt sich an den Kopf, auf dem die Stirn zweifellos an Höhe gewinnt. »Den Buffalo Bill der Großstadt gibt es nicht mehr.«

»Und ich dachte, wir verdanken dein Outfit den Zwillingen oder einer deiner Reportagen: Wilfried – ganz unten!« Ich muss lachen. »Willst du was trinken?«

»Immer!«

In der Küche mixe ich uns zwei Drinks. Im Kühlschrank finde ich sogar noch ein paar Eiswürfel. Als ich ins Zimmer zurückkomme, schaut Wilfried aus dem Fenster.

»Cheers!« Ich reiche ihm den Havanna-Club mit Cola.

»Eine schöne Aussicht. Darum beneide ich dich«, sagt er, die eine Hand in der Hosentasche, in der anderen das Glas, in dem er das Eis klickern lässt.

»Um den Blick in den dunklen Garten meines Hauswirts?«

»Dahinten leuchten zwei Punkte«, sagt er. »Sieht unheimlich aus.«

»Wahrscheinlich die Augen der Katze. Sie sitzt oft in der Kastanie und beobachtet mich.«

»Das wäre mir unangenehm.« Er dreht sich zu mir um und lächelt mich an. »Gut siehst du heute aus. Wie knapp einunddreißig.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst. Cheers!« Wir stoßen an.

»Was ist das da?« Wilfried zeigt auf den blutverschmierten Ausdruck der E-Mail von Miguel Valino auf dem Schreibtisch.

»Nichts. Nur Blut vom Hauswirt.« Ich knülle den Zettel zusammen und schmeiße ihn in den Papierkorb.

»Apropos Papier«, Wilfried kramt in der Plastiktüte, »das hier sollte ich dir doch besorgen.« Er überreicht mir ein Buch.

Ich schaue auf das Cover. »¡No pasarán! Die Biographie des Meteo­rologen, Mathematikers und Revolutionärs Yuri Smirnoff«, lese ich laut. »Edition Leipzig 1989. Klasse, genau das habe ich gesucht, wie bist du da drangekommen?«

»Ich bin in Archiven groß geworden, weißt du doch. Ich hab meine Quellen.«

»Yuri Smirnoff kämpfte als junger Mann im Spanischen Bürgerkrieg, später in der Résistance, geriet in die Fänge des Naziregimes und überlebte die Gefangenschaft im Konzentrationslager Oranien­burg. Nach dem Krieg engagierte er sich beim Aufbau des neuen Deutschlands, arbeitete nach dem Studium der Mathematik an der Akademie der Wissenschaften in Berlin, revolutionierte die Meteorologie und gründete schließlich das nach ihm benannte Smirnoff-Insti­tut.« Ich pfeife anerkennend durch die Zähne und blättere weiter. »Seit drei Wochen war er nun in Spanien – drei Wochen spärlicher militärischer Ausbildung in Albacete.elche Mühen hatte er auf sich genommen, welchen Gefahren sich ausgesetzt, als er dem Aufruf eines Flugblattes der KP gefolgt war.In Spanien wird auch für unsere Freiheit gekämpft! Tod dem Faschismus!«, lese ich vor. Wilfried steht am Fenster. Hört der gar nicht zu? Ich lese etwas lauter. »Dieser Appell ließ Smirnoff nicht einen Augenblick zögern, die beschwerliche Reise nach Spanien anzutreten, dem Land seiner Hoffnung. Von Deutschland nach Prag, dann über den Balkan, auf Umwegen nach Paris, schließlich nach Marseille, von wo aus der Dampfer Ciudad de Barcelona ihn und seine Genossen nach Barcelona brachte. Barcelona, die Stadt des Lichts. Als es an die Front nach Madrid ging, hatte Smirnoff den Jubel der Bevölkerung noch in den Ohren, mit dem die Freiwilligen empfangen worden waren und der sie auf jeder Station ihres Weges nach Albacete begrüßt hatte.«

»Klingt ganz schön pathetisch«, kommt es vom Fenster.

»War eben eine verdammt idealistische Zeit.« Ich schmeiße das Buch aufs Bett und ziehe mir die Jeansjacke über.

»Wem die Stunde schlägt«, sagt Wilfried und lächelt.

»Komm«, ich hebe das Glas, »stürzen wir das hier runter und uns ins Leben.«

Später im Treppenhaus fragt Wilfried: »Hast du eigentlich von dem Unfall gehört?«

»Von welchem Unfall?«

In diesem Moment kommt uns mein Hauswirt mit einem dicken Verband um den Daumen entgegen. Er schenkt Wilfried ein Begrüßungslächeln und strahlt mich an. »Liebe Frau Doktor Rührmann, ich habe mir eine Tetanusspritze geben lassen. Vorsichtshalber. Der Arzt sagt, Sie hätten die Wunde vorbildlich versorgt.«

»Noch ein Unfall«, murmelt Wilfried.

Der Hauswirt räuspert sich. »Meinen Sie, Sie und Ihr Freund könnten mir vielleicht kurz zur Hand gehen? Es dauert nur eine Minute.«

»Wobei?«, fragt Wilfried irritiert.

»Es geht um einen Ausziehtisch«, kläre ich ihn auf und ahne, dass wir in der Falle sitzen.

»Okay«, sagt Wilfried gedehnt, »wenn es nicht zu lange dauert.«

Wir folgen dem Hauswirt in den Salon.

»Ist ja gediegen«, sagt Wilfried.

»Reines Biedermeier«, erwidert der Hauswirt und sucht zwischen Holzplatten, Tischbeinen, Schrauben und Verpackungsmaterial nach der Bauanleitung.

»Nicht nötig«, wiegelt Wilfried ab und beginnt zu schrauben.

»Wo ist meine Brille?«, fragt der Hauswirt.

»Auf Ihrem Kopf«, sage ich.

»Ach, das alte Klischee«, wehrt der Hauswirt ab, greift sich an den Kopf und findet die Brille genau dort. Mutz kommt hereinspaziert und umschnurrt meine Beine. Hatte wohl lange keinen Kater. Der Hauswirt greift in seine Jackentasche und wirft ihr Trockenfutter zu. »Liebe Frau Doktor Rührmann, wie wird denn nun das Wetter an meinem Geburtstag?«

»Wann ist der denn?«, fragt Wilfried am Boden kniend.

»Am 21. November«, sage ich. Und zum Hauswirt: »So weit im Voraus kann man keine zuverlässigen Vorhersagen machen.«

»Aber ihr forscht ja dran, dass das besser wird«, sagt Wilfried von unten und steckt die Tischbeine zusammen. Wir schauen ihm bei der Montage zu.

»Wie Sie sofort wissen, welches Bein in welches Loch muss«, staunt der Hauswirt.

»Fertig!«, ruft Wilfried nach wenigen Minuten. Stolz zieht er die Tischplatten auseinander und schiebt sie wieder zusammen.

»Fertig?«, freut sich der Hauswirt und zieht die Tischplatten auseinander und schiebt sie wieder zusammen. »Tatsächlich.«

»Wir müssen jetzt wirklich los«, dränge ich.

Mein glücklicher Hauswirt und die Katze begleiten uns noch bis zur Haustür. Ein ganz kleiner Fiesel hängt in der Luft. »Passen Sie auf«, ruft er hinter uns her. »Die Herbstblätter sind von tückischer Glätte. Und der Regen hat alles aufgeweicht.« Er winkt uns zum Abschied.

Im Auto langt Wilfried nach einem Päckchen Zigaretten, schüttelt eine halb heraus und schnappt sie sich mit den Lippen.

»Ich denke, du hast aufgehört?«

»Es führt nur ein Weg zur Lunge, und der muss geteert werden«, sagt er und startet seinen alten R4. Er zündet sich mit seinem Zippo die Zigarette an und bläst den Qualm genüsslich gegen die Windschutzscheibe. »Jetzt aber endlich zum Hafenklang«, ruft er munter.

An der Alster reihen wir uns ein in die Hauptschlagader des Hamburger Autoverkehrs und folgen der roten Lichterkette.

»Du hast vorhin von einem Unfall gesprochen«, sage ich.

Wilfried kneift die Augen zusammen, weil ihn die Lichter der entgegenkommenden Autos blenden. »Richtig. Ein spanischer Kollege von euch ist gestern auf seinem Anwesen tot aufgefunden worden.«

»Wer?«

»Ein ganz hohes Tier. Der Leiter des spanischen Raumfahrt­instituts. Ging heute über den dpa-Ticker. Ich habe gleich an dich denken müssen, Sput-Nik, weil seine Leistungen für CORVUS hervorgehoben wurden.«

»Was? Miguel Valino?«

Wilfried nickt. »Ja, genau der.«

»Valino tot?« Ich fasse es nicht. Es dauert eine Weile, bis ich wieder sprechen kann. »Er war der Direktor des IIEE, des Instituto de Investigaciones Espaciales de España«, sage ich leise. »Er war bis vor kurzem der Sprecher der CORVUS-Kollaboration. Was ist passiert?«

»Tja«, sagt Wilfried und drückt die Zigarette aus. »Valino soll sich bei der Reinigung seines Jagdgewehrs erschossen haben. Ein Erbstück seines Vaters. Es stammt noch aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. Der Vater war früher bei der Falange.«

»Valino ist tot.« Ich sehe die leidenschaftlichen Augen in seinem freundlichen Gesicht, ich höre die helle Stimme.

Voy a dormir … Ah, un encargo:

si él llama nuevamente por teléfono

le dices que no insista, que he salido …

War das ein Abschied?

Wilfried schüttelt die nächste Zigarette aus seinem Päckchen.

»Schon wieder eine?«

»Die letzte für heute.«

Er zündet sich die Zigarette an und legt das Zippo zurück ins Handschuhfach. Ich kann diese Raucherei gar nicht mit ansehen. Bei nächster Gelegenheit werde ich das Feuerzeug heimlich einstecken.

»Hast du Valino gut gekannt?«, fragt Wilfried.

»Er hat sich für das CORVUS-Projekt sehr eingesetzt. Und auch für die Rindeck-Gruppe. Ich habe ihn auf ein paar Konferenzen erlebt. Ein Berserker, unermüdlich im Einsatz für die Sache.«

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22 aralık 2023
Hacim:
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ISBN:
9783867549486
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