Kitabı oku: «Kein Durchkommen», sayfa 4

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Die Nachricht

Nebelschwaden stiegen vom nah gelegenen Manzanares herauf und zogen über den mit Trümmerteilen übersäten Platz. Vorsichtig lugte Smirnoff aus dem Hauseingang. Die khakibraune Mütze hatte er sich tief ins Gesicht gezogen. Seine nasskalten Hände umklammerten den alten Karabiner, den Zeigefinger hatte er am Abzug. Sein Blick richtete sich auf die lehmige Hauptstraße, die von dem großen Platz zum Manzanares führte und von zerzausten Bäumen flankiert war. Der Wind hatte die abgefallenen Blätter zu Haufen zusammengeweht. An den zum Flussufer hin abfallenden Hang schmiegten sich engstehende Häuser. Eine Sitzbank war infolge der Druckwelle einer Granatexplosion umgestürzt. Die dunstige Atmosphäre unter blaugrauem Wolkenhimmel verschleierte das Ende der Straße, ließ nur den Umriss einer kleinen Bogenbrücke erkennen.

»Und, Yuri? Hast du was gesehen?«

»Nichts. Nur Nebel«, raunte er und zog den Kopf in den sicheren Hauseingang zurück.

»Das gefällt mir nicht«, sagte David, der hinter ihm auf den Fliesen kniete. David stammte aus Breslau. Er war ›entarteter Künstler jüdischer Rasse‹, wie er selbst sagte, für ihn einer der Gründe, nach Spanien zu gehen und gegen den Faschismus zu kämpfen. David war klein und untersetzt, hinter einer zarten goldenen Brille flackerten dunkle Augen. »Es ist viel zu ruhig«, sagte er, während er seine Gamaschen neu wickelte. Er machte das an diesem Tag sicher zum zehnten Mal, stets mit der Begründung, die Wickelgamaschen säßen zu fest und würden das Blut in seinen dicken Waden abklemmen. »Das gefällt mir nicht, Yuri.« Seine Nasenflügel zitterten vor Erregung. »Das gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht.« Hinter David kauerte Hans im Hauseingang und strich sich nervös über das unrasierte Kinn. Hans war Autoschlosser und kam aus Winterthur in der Schweiz. Er hatte schon im Thälmann-Bataillon an den Kämpfen an der Aragon-Front teilgenommen. »Yuri, wirf noch mal einen vorsichtigen Blick nach draußen!«

Die Nationalen und Karlisten hatten vor ein paar Tagen zum Angriff gegen das republikanische Madrid geblasen, nun ließen die Putschisten ihre maurischen Legionäre mit aller Gewalt gegen die hastig gebauten Barrikaden laufen. Aber der Widerstand der Republikaner war unerwartet groß. Und er wuchs mit jedem Tag. Zu den regulären spanischen Milizen und dem fünften Regiment unter dem Kommando Enrico Listers war die XI. Internationale Brigade gestoßen. Mit einer den Feind überraschenden Verbissenheit verteidigten sie im Straßenkampf die spanische Republik.

»Jetzt seid’s nicht so nervös. Eben war euch die Knallerei noch zu viel und jetzt könnt ihr plötzlich nicht genug davon kriegen«, näselte es aus dem hinteren Teil des Hauseingangs. Rudolph mit ph wie Paulus Hubertus, so hatte er sich ihnen vorgestellt, stieß sich von der mächtigen Eingangstür ab und rückte sein Koppel zurecht. »Habt’s doch Geduld! Die Faschisten blasen noch früh genug zum Angriff.« Ein Lächeln erhellte sein strenges, von tiefen Furchen durchzogenes Gesicht, zu dem seine hellblauen Augen so gar nicht passen wollten. Rudolph war Österreicher. Und Weltkriegsveteran. Galizien. Deshalb war er ihr Gruppenführer. Die letzten Jahre hatte er in Wien bei der Gewerkschaft verbracht. Bis es die Spatzen von den Dächern pfiffen, dass Österreich bald heim ins Reich kommen würde, und es Zeit wurde, ganz schnell rauszukommen. »Na, gleich qualmt’s aus allen Rohren.« Rudolph klopfte verschwörerisch auf die Ledertasche. »Aber wir melden uns auch noch zu Wort!«

Für Rudolph, Hans, David und Yuri, wie für die tausend anderen Freiwilligen, die aus aller Herren Länder hierhergekommen waren, um gemeinsam gegen den Faschismus zu kämpfen, war Spanien die Hoffnung, die Hoffnung auf ein neues, auf ein freies und gerechtes Leben, auf ein Leben ohne Faschismus und Unterdrückung.

Dienstag, der 9. November, 16:26 Uhr

»Wach auf, du Träumerin.«

Ich blicke von dem Buch auf, drehe mich aber nicht um.

»Vom achtzehnten Stock des Geomatikums wirkt die Welt so klein, wie sie ist«, sagt Helmut, mein Doktorand, und tritt neben mich ans Flurfenster, gegen das heftig der Regen prasselt. Gemeinsam schauen wir runter.

»Eine Spielzeugstadt im Wasserglas«, sage ich.

»Was für ein Wetter«, staunt Helmut und streicht sich durchs semmelblonde Stoppelhaar. Der Qualm seiner Zigarette sticht mir in die Augen. Selbstbewusst stemmt er einen Daumen in die Tasche seiner sandfarbenen Cordhose, die er zu passender Jacke und Weste trägt. »Was liest du denn da?« Er nimmt mir das Buch aus der Hand. »¡No pasarán!« Er spricht den Titel unbeholfen aus und verzieht sein hübsches freches Gesicht. »Die Biographie des Meteo­rologen, Mathematikers und Revolutionärs Yuri Smirnoff«, liest er laut vor, »Edition Leipzig 1989«, und schlussfolgert ganz richtig: »Das Buch stammt ja noch aus DDR-Produktion.« Seit Gerd Najen vor vier Wochen im Zusammenhang mit seiner Diskretisierungstheorie ein begeistertes Referat zum Smirnoff-Verfahren gehalten hat, ist dieser uns allen ein Begriff. Helmut blättert in den Seiten und runzelt die Stirn. »Klingt ganz schön pathetisch.«

»War eben eine idealistische Zeit.«

»Wem die Stunde schlägt«, antwortet er und lächelt. »So oder so. Der Krieg ist vorbei. Aber die Ergebnisse von CORVUS, die sind da«, sagt er munter. »Wir sollten mal reinschauen.«

»Gut, lass uns in die Daten gucken.« Ich bringe es nicht fertig, seinen Optimismus zu dämpfen, und beschließe, erst mal nichts von Valinos Tod zu erzählen.

Als wir den Flur zurückgehen, begegnen uns Kollegen unserer Arbeitsgruppe. Miko Landau, Dorothea Weber und Thomas Paulsen auf dem Weg zur Kaffeepause in der Geo-Mensa. Sie bleiben vor uns stehen und scheinen alle die gleiche Frage an mich richten zu wollen: Warum gab Rindeck sich gestern so schnell geschlagen? Als wüsste ausgerechnet ich die Antwort. Was soll das? Bin ich seine Intima?

»Nicht alle durcheinanderreden. Immer hübsch einer nach dem anderen«, sage ich gereizt in die stumme Runde.

Dorothea hat eine heftige Erwiderung auf den Lippen, klappt den Mund auf, klappt ihn zu. Sie hat Augen wie Kohlestückchen. Das streng zum Pferdeschwanz gebundene Haar ist auch schwarz, macht den weißen Teint und den fülligen Mund noch bleicher.

»Wenn ihr das Match zwischen Seeler und Rindeck gestern meint«, sage ich, »dann bin ich genauso enttäuscht wie ihr.«

Von Seelers Einladung erzähle ich nichts. Ich rieche Dorotheas herbes Parfüm. Irgendwie macht sie mich an, besonders ihre Grübchen und sogar das Damenbärtchen. Eine Haarsträhne hat sich aus dem festen Knoten gelöst. Sie streift sie zurück und wendet sich mit einer knappen Drehung zu Thomas Paulsen: »Lass uns lieber gehen.«

Thomas nickt und schiebt die Hornbrille ins nach hinten gekämmte Haar. »Am Ausgang des gestrigen Disputs lässt sich nichts mehr ändern. Alea iacta est, würde Rindeck sagen.« Die Fahrradklammern an seinen Hosenbeinen konterkarieren seinen auffallenden »Preppy«-Stil. Man sollte ihn dezent darauf hinweisen.

Ein Handy klingelt. Alle schauen zu Miko. Er ist der Einzige hier in der Runde, der eins hat. Miko ist von kräftiger, fester Statur. Das Gesicht unter dem fahlen Haar ist kantig, seine Mundwinkel sind meistens sichelförmig nach unten gezogen. Er lacht selten, und wenn, dann verhalten. Er ist launenhaft. Außerdem hat er chronischen Schnupfen.

Miko steht etwas abseits von uns und spricht leise, aber weil zwischen uns immer noch ratloses Schweigen herrscht, hören wir unfreiwillig zu. »Du bekommst alles. Wie versprochen«, sagt er mit unbewegtem Gesicht.

»Wie Buster Keaton. Der verzog auch nie ’ne Miene«, grinst Helmut und guckt von Miko zu mir und knufft mich in die Seite. Der Rauch seiner Zigarette stört mich gewaltig.

»Never change a winning team«, sagt Miko leise, aber ich höre den Stahl in seiner Stimme. Er klappt sein Handy zu und kommt zu uns zurück. Er zieht die Nase hoch. Sein Gesicht ist blass wie Hefeteig. Seine Klamotten sind so zerknittert, als wäre er seit Tagen nicht aus ihnen rausgekommen.

Thomas sagt: »Also, gehen wir.«

»Bis später«, sage ich.

Die Karawane zieht weiter. Mir fällt auf, dass Gerd Najen wieder nicht dabei ist.

»Also dann«, sagt Helmut und klatscht die Hände zusammen. »Die Ergebnisse. Nichts wie runter.« Er eilt zum Lift, ich hinterher.

Verdammter Rindeck, denke ich. Er hätte sich gestern stärker wehren sollen.

Helmut drückt auf den Fahrstuhlknopf. Der Aufzug setzt sich in Bewegung und gleitet durch den Schacht.

»Ich glaube, das wird spannend heute«, sagt Helmut. Einen Optimismus hat der Kerl, einfach nicht zu trüben. Und das trotz der Stagnation unserer Arbeit. Aber wenn ich ehrlich bin: Ich selbst habe kaum noch Hoffnung. Seit geschlagenen vier Wochen stellen sich die thermischen Signale von CORVUS als unbrauchbarer Datensalat heraus. Und das, obwohl die CORVUS-Kollaboration fieberhaft daran arbeitet, die Infrarotkamera des Satelliten zu rejustieren. Zugegeben, ein reibungsloser Betrieb ist angesichts der Komplexität des Satellitenprojekts ohnehin nicht zu erwarten, und Pannen sind für wissenschaftliche Programme dieser Größenordnung nichts Ungewöhnliches, ganz zu schweigen davon, dass Rückschläge seit jeher naturwissenschaftliche Projekte begleiten. Darum konnte die mangelhafte Qualität der ersten Messdaten unsere Freude zunächst kaum trüben. Immerhin war uns der Satellit nach dem Start nicht abgeschmiert und wir erhielten regelmäßig Nachrichten von ihm. Allein die Vorstellung, dass ein so kleiner Apparat aus der Höhe von neunhundert Kilometern erfolgreich Daten zu uns runterschickt, faszinierte uns. Im Satellitenzeitalter eigentlich eine Selbstverständlichkeit, gut, aber trotzdem: beeindruckend! Und wir hatten das Gefühl, ein wichtiger Teil dieser wunderbaren Forschungskollaboration zu sein. Nach ein paar Tagen allerdings verflog die Freude über den Anfangserfolg. Und langsam, ganz langsam kam die Frustration. Denn leider Gottes war mit den Infrarotdaten, die uns dieses verdammte Gerät aus dem Orbit runterfunkte, absolut nichts anzufangen. Statt Informationen über die Thermik der Erdatmosphäre nur das autistische Gestotter eines funktionsgestörten Mess­automaten. Die CORVUS-Kollaboration diskutierte jede in Frage kommende Art von Fehlerquelle, sie prüfte mit den Kollegen des deutschen und des spanischen Raumfahrtinstituts alle technisch gangbaren Wege zur Lösung des Problems. Wir schrieben Korrektur- und Dekodierungsprogramme, tauschten elektronische Komponenten bei unseren Empfängern auf der Bodenstation aus, arbeiteten Tag und Nacht an den verschiedenen Initiativen, vergaloppierten uns während hitziger Debatten, stritten uns, versöhnten uns, schworen uns ewige Freundschaft, bibberten und fluchten, beteten zu Gott und der Welt – vergebens: CORVUS sendet uns, uneinsichtig wie ein ungezogenes Kind, ohne Unterlass reinen Unsinn.

Am Ende erschien uns das Drallrad des Satelliten als die wahrscheinlichste Ursache für das fehlerhafte Verhalten. Der zwei Kilogramm schwere Kreisel, der für die Dreiachsenstabilität des Satelliten sorgt, verursachte möglicherweise eine resonanzartige Erschütterung an der Halterung der Thermalkontrolle. Und diese Erschütterung übertrug sich wiederum auf die Aufhängung der Infrarotkamera, brachte sie sozusagen zum Schwingen, vergleichbar mit dem heftigen Schlag eines Klöppels auf das Becken eines Schlagzeugs. Die Ironie der Geschichte ist, dass dadurch sämtliche Störmomente, die zu einer ungewollten Präzessionsbewegung des Satelliten führen können, kompensiert wurden, der Satellit in seiner Gesamtheit also außerordentlich gut stabilisiert wurde und deshalb seinen übrigen Aufgabenstellungen weitestgehend fehlerfrei nachgehen kann. Einzig die Infrarotkamera, die nur von unserer Gruppe benutzt wird, verhält sich fehlerhaft. Seit wir die mögliche Ursache eingekreist haben, versucht sich die CORVUS-Kollaboration in orbitalen Reparaturmaßnahmen. Die bestehen darin, einen Antennenarm, der ursprünglich für das einmalige Ausrichten der Kommunikationsantenne gedacht war, per Fernsteuerung rhythmisch hin und her zu schwenken, in der Hoffnung, dabei die Vibration der Infrarotkamera zu dämpfen. Was für eine Sisyphosarbeit.

Schrecklich war die Strafe, die Zeus dem Frevler bestimmt hatte. Ihm wurde die Aufgabe gestellt, einen mächtigen Marmorstein einen Hügel hinaufzuwälzen. Unter unsäglichen Mühen ging der Verurteilte ans Werk, stemmte sich mit aller Kraft seiner Hände und Füße dagegen und zwang den ungefügen Stein auch wirklich bis zur Höhe. Schon glaubte er ihn auf den Gipfel gewälzt zu haben, da – im allerletzten Augenblick entrollte der tückische Felsblock seinen Händen und stürzte in die Tiefe!

Eine Etage tiefer betreten wir unser Büro, Helmut entschieden beschwingter als ich. Ohne von seinem Terminal aufzusehen, ruft uns Jörg Held, unser wissenschaftlicher Mitstreiter, ein triumphierendes »CORVUS schickt uns was Neues« entgegen, fügt aber sofort einschränkend hinzu: »Kann aber noch nicht sagen, ob es brauchbar ist.« Er schnauft hörbar durch die Nase, die etwas zu mächtig über die dünnen Lippen und den blassen Strich von Oberlippenbart ragt. Seine Augen sind gerötet. Hat er wieder die Nacht durchgearbeitet? Ich setze mich auf meinen Stuhl, ich fühle mich schlapp heute. »Ich brauche einen Kaffee mit Milch, stark und nicht von gestern.«

»Gerade durchgelaufen«, murmelt Jörg, ohne den Blick zu heben. Er zeigt mit dem Daumen zur Kaffeemaschine auf dem Fenstersims, während seine Augen die unendlichen Datenkolonnen abfahren.

Ich gieße Kaffee in Jörgs Becher. Arbeit macht das Leben süß, aber ich mag keinen Zucker! steht drauf. Ich halte mich dran. Ich gieße auch Helmut und mir Kaffee in unsere Becher und reiche ihm seinen mit den Blümchenmotiven.

Wir trinken und warten. Helmut raucht, ich gucke. Unser Büro ist viel zu klein für unsere drei Stühle, die Schreibtische mit den Computerterminals, den Schrank mit den Aktenordnern und dem Regal für die Kaffeemaschine. Zeitschriften, Computerausdrucke und Skripte sind über den gesamten Raum verstreut, dazu Gläser gefüllt mit Bleistiften und Kugelschreibern, elektronische Basteleien, zwei Telefone einschließlich Modem und sogar ein kleiner Fernseher. Den schalten wir selten an, weil wir uns nicht auf ein Programm einigen können. Jörg sieht gern Wissenschaftssendungen, Helmut liebt Tiergeschichten, und ich bin für Quizshows. Eine Literaturecke haben wir übrigens auch. Außerdem ein winziges Waschbecken, einen Zerrspiegel und Waschutensilien für den Fall, dass wir längere Zeit nicht aus dem Büro kommen. Die Enge wäre noch erträglich, hätte Jörg nicht Anfang des Jahres eine Australische Silbereiche aus dem Urlaub mitgebracht. Silbereiche, das klingt größer, als das Bäumchen ist. Trotzdem beansprucht der Kümmerling eine ganze Ecke für sich. »Beengtes Wohnen«, sage ich öfter mal spitz, aber Jörg ist vom Bäumchen nicht abzubringen. »Es musste hier was Lebendiges rein.«

»CORVUS schickt uns neue Daten«, ruft Helmut aufgeregt, als hätte Jörg das nicht längst verkündet. Er drückt seinen Zigarettenstummel im Pflanzenkübel aus und macht sich über seine Tastatur her. Jörg linst drohend hinter seinem Rechner hervor. Ich starte mein Testprogramm, mit dem wir die Qualität der neuen Daten überprüfen können. Ich logge mich unter nikola@corvu-s.de ein und gebe mein Passwort an. Zwei, drei Kommandos, und das Programm läuft. Ich öffne ein Unix-Fenster, um eine neue Kommandozeile einzugeben. Da unterbricht mich ein elektronischer Aufruf zu einem Online-Talk. Ich bin irritiert.

guest@it-4.corvu-s.de steht da.

Ich weiß nicht, wer hinter dem Login-Namen steckt. Die Adresse it-4.corvu-s.de gehört zu einem Server, der in das Computer-Cluster unseres Instituts eingebunden ist.

Ich bestätige den Anruf und tippe ein zurückhaltendes »Hallo«.

»Henri an Yuri Smirnoff: Erbitte Änderung der Verabredung.«

Ich bin erstaunt. Ich kenne weder einen Henri, noch wurde ich je als Yuri Smirnoff bezeichnet. Okay, ich bin der jungenhafte Typ, aber mein Hauswirt wird seit Jahren nicht müde, mir zu versichern, dass ich eine hübsche junge Frau bin, jedenfalls kein ausgedörrter Wissenschaftler vom Schlage eines Yuri Smirnoff. Ich weiß außerdem, dass ich seit der Trennung von Ulli keine Verabredungen mehr getroffen habe. Mit niemandem. Was soll das also?

Unsicher schau ich rüber zu meinen Kollegen. Vielleicht ist die Nachricht für einen der beiden? Oder von einem der beiden? Unsere Terminals laufen alle über einen gemeinsamen Hauptrechner, folglich ist es problemlos möglich, untereinander Nachrichten auszutauschen. Man kann sogar richtige Dialoge führen. Macht Spaß, solange man nicht an Rindeck gerät, der auf diese Weise überprüft, ob man tatsächlich bei der Arbeit ist.

»Hey!«, spreche ich Jörg und Helmut an, aber die sind total vertieft in ihre Programme und reagieren nicht.

»Yuri ist gespannt, was jetzt kommt«, antworte ich. Vielleicht etwas zu forsch? Ich warte ab. Nichts passiert. Henri scheint den Irrtum bemerkt zu haben. Schade.

Doch plötzlich tauchen neue Letter auf meinem Bildschirm auf: »Müssen Termin und Lokalität ändern!«

»Einverstanden!«, tippe ich schnell ein. »Wann? Wo?«

»Treffen schon heute. Um 22 Uhr in der Daniela Bar.«

Jetzt bin ich richtig neugierig. Die Daniela Bar kenne ich. Cooler Laden im Schanzenviertel. Mit einer der Bar-Keeperinnen hatte ich mal was. »Ok«, schreibe ich und mache mir weiter keine Gedanken.

»Unser Erkennungszeichen ist CORVUS«, schreibt Henri. Und damit beendet er den Dialog. Der Cursor meiner Prompt-Zeile blinkt mich kalt an.

Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und denke nach. Da habe ich offensichtlich ganz zufällig die Planung für ein Rendezvous zwischen einem Henri und einem Yuri Smirnoff abgefangen und bin nicht mehr dazu gekommen, die Verwechslung aufzuklären. Das heißt, ich bin mehr oder weniger vorsätzlich nicht dazu gekommen. Habe ich jetzt ein schlechtes Gewissen? Nein, die Neugier ist größer. Und schon bekomme ich Ansporn von oben.

Lät jon!, ruft Edu. Trau dich was. Das riecht nach Abenteuer! Typisch Edu. Für die Geheimnisse anderer Leute hat er sich immer schon interessiert. Ich soll also das Spielchen weiterspielen und zu der Verabredung gehen? Unser Erkennungszeichen ist CORVUS, hat Henri geschrieben. Klingt geheimnisvoll. Und etwas amourös. Spannend. Hab schon lange keinen Kerl mehr heiß gemacht. Tut dem Ego immer gut.

»Nein, nein, nein«, klagt Helmut und massiert sich die Schläfen, »das sieht nicht gut aus. Nik, was sagt dein Programm. Kannst du die Daten verifizieren?«

»Freunde, was stellt ihr euch unter einem typischen Erkennungszeichen vor?«, frage ich. »Ich meine, bei einem Blind Date?«

»Ich erkenne überhaupt keine Korrelationen«, jammert Jörg in Betrachtung der Zahlenkolonnen. »Hat Niks Programm schon was rausbekommen?«

»Macht doch mal Vorschläge, Jungs. Eine rote Nelke im Knopfloch? Sonnenbrille? Oder den Spiegel unterm Arm?«

»Seit Stunden hänge ich hier schon vor dem Terminal – und wieder nur Datensalat«, heult Jörg auf und reibt seine Liddeckel mit den Mittelfingern.

»Oder die FAZ«, überlege ich, »dahinter steckt immer ein kluger Kopf.«

»Was redest du da, Nik? Was sagt dein Verifikationsprogramm?« Helmut hat Unruhe in den Augen. Er greift zu seiner Schachtel P&S.

»Moment, Moment, Geduld, Geduld«, sage ich, »ich führe das Programm jetzt aus.« Das Programm rattert los, um zwischen guten und schlechten Daten zu selektieren. Ich bin auf einmal ungemein heiter. »Ruckedigu, ruckedigu, trenn mir die Spreu vom Weizen im Nu.«

»Bitte nicht hier und nicht jetzt«, zischt Jörg. Meint er meine albernen Reime oder Helmuts Gequalme? Jörgs Hand zittert vor Nervosität, als er seine Arbeit macht das Leben süß-Tasse zum Mund führt und einen Schluck daraus nimmt.

Ich beschließe, zum Ernst des Lebens zurückzukehren und mich zu konzentrieren. Wir warten auf das Ergebnis meines Programms. Eine Minute sitzen wir gespannt da, ohne ein Wort. Dann kommt das Ergebnis.

»Und? Was sagt CORVUS?«, fragt Helmut in die Stille.

Jörg kann mir das niederschmetternde Resultat vom Gesicht ablesen. »Wieder nichts«, sagt er mit versickernder Stimme und fasst sich an den Kopf.

Helmut springt auf und kommt zu mir rüber. »Nicht zu fassen.«

Jetzt steht auch Jörg auf. »Das darf doch nicht wahr sein.«

»Völlig unbegreiflich«, pusten mir die beiden im Wechsel ihre Enttäuschung in den Nacken.

»Jungs«, sage ich, gegen meine Absicht mehr als ungeduldig, »akzeptiert endlich, dass das Konzept unserer Reparaturmaßnahmen nicht greifen will.«

Jörg bürstet mit dem Daumen seinen Oberlippenbart und kriegt vor lauter Nachdenken Falten im Gesicht.

»Gestern standen wir noch am Abgrund, heute sind wir einen ganzen Schritt weiter«, sage ich, hebe meinen Skorpionbecher hoch und proste den Kollegen zu. Keiner lacht.

»Ich will es nicht akzeptieren«, stöhnt Jörg. Helmut untermalt sein Klagen mit grunzenden Geräuschen des Aufbegehrens. Ich höre mir das eine Weile an.

»So kann es nicht weitergehen«, sage ich schließlich und beende mein Programm mit ein paar Klicks. »Ich werde mit Rindeck sprechen.«

»Hier kann nicht mal Rindeck helfen«, seufzt Helmut.

»Kommt schon, Jungs. Wir müssen uns keine Sorgen machen«, versuche ich sie wieder auf ein lebensfähiges Niveau zu hieven. »Zur Not konzentrieren wir uns voll und ganz auf die Simula­tionsrechnungen. Klar, Daten von CORVUS wären fantastisch, aber …« Ich breche ab, ich habe auch keine Idee mehr.

»Ach, Nik, es hilft doch nichts. Ohne die Daten von CORVUS ist unsere Arbeit …«, Helmut sucht nach den richtigen Worten, »ist unsere Arbeit …«

»Wie ein Saufgelage mit Malzbier«, vollendet Jörg den Satz.

Donnerwetter, denke ich, so viel Schlagfertigkeit hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Aber das Dumme ist, dass die Jungs recht haben. Ich greife nach meiner Lederjacke und dem Integralhelm. »Für heute schmeiße ich das Handtuch. Aber vorher gehe ich noch zu Rindeck.« Ich will sowieso mit ihm über den tragischen Tod von Miguel Valino sprechen.

Mein knappes »Tschüss!« überhören meine Kollegen. Sie starren mit leeren Gesichtern auf ihre Terminals.

Die Tür von Rindeck ein Stockwerk höher ist verschlossen. Dann ist er nicht mehr im Büro. Ich lege den Brief von Seeler zu seiner Hauspost. Er wird ihn morgen früh finden.

Im Aufzug abwärts steigt Anglistik-Andreas zu. Auch das noch.

»Guten Tag, Nik. Na, Neuigkeiten von CORVUS?« Andreas arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geologischen Institut, das im gleichen Gebäude wie die Meteorologie untergebracht ist. Der wissenschaftliche Misserfolg unseres Experiments hat sich natürlich bis zu seiner Abteilung herumgesprochen. »Habe ich dir eigentlich von meiner Exkursion nach Alaska erzählt?«, fragt er. Ich bin erleichtert, dass er nicht weiter nachhakt. »Vom geologischen Standpunkt betrachtet ohne Zweifel hochinteressant.«

Schon während unserer gemeinsamen Studienzeit hatte ich unter seinen geistigen Ergüssen zu leiden. Damals waren sie philosophischer Art. Er verkündete sie auch damals mit Vorliebe im überfüllten Fahrstuhl. Vielleicht, weil da niemand weglaufen kann? Seit dem Wechsel von der angelsächsischen Philosophie zur Geologie sind es seine Erkenntnisse über magmatische, sedimentäre oder metamorphe Gesteine, die mich erdrücken. Sorgenvoll schau ich auf die Anzeige des Fahrstuhls. Wir sind erst am dreizehnten Stockwerk vorbei.

»Bodenschätze, so weit das Auge reicht, Nik, ehrlich, aber das Interessanteste war diesmal ein Erlebnis in der belebten Natur.«

Ich denke an das Bäumchen in unserem Büro und mime spannungsvolle Erwartung.

»Während einer Messpause konnten wir mit Hilfe eines Feldstechers ein Rudel Wölfe beobachten, das drei Moschusochsen angriff.«

Was für eine hübsche Vorstellung. Ich nicke begeistert.

»Das Rudel attackierte die Rinder wieder und wieder. Von allen Seiten. Die Wölfe versuchten, eines der drei Tiere zu isolieren.« Andreas’ Augen kreisen erregt hinter den Brillengläsern. »Aber die Ochsen, schwere, bullige Tiere, ließen sich nicht trennen. Rücken an Rücken bildeten sie sternförmig eine Einheit, wehrten jeden Angriff der Wölfe ab, führten fast synchrone Bewegungen aus. Die waren unglaublich zäh. Nik, was für ein Kampf.« Mit zur Decke zeigendem Finger unterstreicht er seine donnernden Worte. Der Aufzug hält mit einem Ruck. Wir sind im Erdgeschoss angekommen. »Ich sage dir, wie eine Tanzchoreografie. Es ging um Leben und Tod. Einfach irre.«

»Und wer hat am Ende gewonnen?«, frage ich, als wir zum Ausgang laufen.

»Du weiß doch, die Natur ist wie ein Casino«, ruft Andreas hinter mir her und lacht. »Am Ende gewinnt immer die Bank.«

Bei so viel Begeisterung steht bald ein Wechsel in die Biologie an, denke ich.

Draußen wartet mein Motorrad. Nach der Moritat von Anglistik-Andreas erinnert es mich, wie kann es anders sein, an einen Moschusochsen. Ein tiefer, sonorer Ton ist sein Lebenszeichen. Wir beide sind eine unzerstörbare Einheit. Im leisen, unaufhörlich niedergehenden Nieselregen kreuzen wir durch die Stadt nach Hause.

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22 aralık 2023
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9783867549486
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