Kitabı oku: «Teilchenbeschleunigung», sayfa 2
Das Vorstellungsgespräch
Montag, der 10. August, 10:23 Uhr
»Können Sie mir noch folgen, Frau Doktor Rührmann?« Professor Hermann Mann, Forschungsdirektor des DESY, blickte mich aus tiefliegenden Augen an. Seine Haut war wächsern, das volle, sorgfältig gescheitelte Haar kalkweiß. Er trug einen hellgrauen Dreiteiler, der seine Blässe auf kongeniale Weise unterstrich. Und zum weißen Hemd eine kleine, schief sitzende Fliege, die rot-rosa gestreift war – überraschend auffällig für einen sonst so farblosen Mann. Er hatte eine hohe, runzlige Stirn, einen grüblerischen Gesichtsausdruck und strahlte eine gewaltige Nervosität aus, deren Ursache ich mir nicht erklären konnte, schließlich bewarb ich mich hier um eine Stelle, nicht er. Seit exakt dreiundzwanzig Minuten, wie ich einem vorsichtigen Blick auf meine Armbanduhr entnehmen konnte, saß er mir, geneigt wie der Schiefe Turm von Pisa, an dem großen Konferenztisch gegenüber und referierte über Aufgaben und Ziele seines Forschungszentrums. Ich selbst war so gut wie noch gar nicht zu Wort gekommen.
»Können Sie mir folgen?«, wiederholte er.
»Natürlich kann ich Ihnen folgen. Überallhin«, sagte ich entschlossen und guckte grimmig. Ich hatte allerdings den leisen Verdacht, dass Professor Mann um den heißen Brei herumredete und dass ich im Kreis laufen würde, wenn ich ihm tatsächlich folgte.
»Das ist gut. Das ist sehr gut. Wie ich eingangs bereits sagte, ist das Deutsche Elektronen-Synchrotron, kurz DESY, eins der international erfolgreichsten Laboratorien für Teilchenphysik. Es gehört zu den bekanntesten Großforschungseinrichtungen der Bundesrepublik Deutschland.«
»Ein Forschungszentrum der Helmholtz-Gemeinschaft, das vor sehr großen Herausforderungen steht«, warf Petra Landau, die kaufmännische Geschäftsführerin, lächelnd ein. Sie saß ihm zur Rechten und war außerordentlich gut gelaunt. Oder tat zumindest so. Vielleicht, um die Nervosität ihres Kollegen ein wenig auszugleichen. Petra Landau war von geradezu übernatürlicher Reizlosigkeit. Sie trug ein hochgeschlossenes Kleid, in dem ihre schmale Figur steif wie ein Plättbrett wirkte. Sie hatte ungewöhnlich große Hände und kurzes, aschblondes Kraushaar, das ihr rundes Gesicht umwehte. »Frau Rührmann«, preschte sie unvermittelt vor, »den folgenden Gesprächsteil bitten wir Sie diskret zu behandeln.«
Was in aller Welt meinte sie? Ich ließ mir die Irritation nicht anmerken. »Kein Problem«, beteuerte ich, und Petra Landau fuhr unverzüglich fort:
»Eigentlich schienen die Tage unseres größten Teilchenbeschleunigers namens DORIS schon gezählt«, ihr glucksendes Lachen zeigte unbefangen weiße, auffallend unregelmäßige Zähne, »aber der Ausfall des LHC am CERN Ende letzten Jahres verschafft uns ungeahnte Möglichkeiten.«
Professor Hermann Mann nickte. »Kurz nach der Panne an dem Beschleuniger unserer Kollegen in Genf hat uns das deutsche Forschungsministerium überraschend in Aussicht gestellt, den Betrieb von DORIS ein weiteres Jahr zu finanzieren.« Er sprach stockend, aber wohlüberlegt. Dem fast unmerklichen Zittern seiner Stimme begegnete er durch gezielten Einsatz von Pausen. »Ausgerechnet in dieser entscheidenden Phase des Betriebs meinen einige unserer Physiker nun auf Spuren von rätselhaften Geisterteilchen gestoßen zu sein.«
»Was denn für Geisterteilchen?« Etwa das Higgs-Boson, dieses ominöse Teilchen, von dem immer wieder in der Presse die Rede ist, das für die Masse in der Welt verantwortlich sein soll? Das wäre in der Tat eine Sensation.
»Die Elementarteilchen unseres Universums und ihre Wechselwirkungen werden durch das sogenannte Standardmodell beschrieben«, holte Hermann Mann aus, ohne auf meinen Einwurf einzugehen. »Es wird durch teilchenphysikalische Experimente sehr gut bestätigt, enthält aber eine ganze Reihe von physikalischen Hilfsparametern, für die es bisher keine theoretische Erklärung gibt.«
»Deswegen sind im Grunde alle Teilchenphysiker überzeugt, dass das Standardmodell nur eine Hilfskonstruktion ist«, wandte Petra Landau feixend ein, »ein Konzept, das irgendwann einmal abgelöst wird von der wahren Theory of Everything.«
»TOE – die Weltformel?«, fragte ich, als verstünde ich etwas davon.
Hermann Mann nickte bestätigend. »So etwas in der Art. Nun wurde an unserem Beschleuniger DORIS erstmals ein Hinweis auf eine neue Teilchensorte gemessen, die es laut Standardmodell gar nicht geben dürfte.«
»Nicht zu glauben«, staunte ich.
»Viele Wissenschaftler geben sich bei der Bewertung der Ergebnisse noch zurückhaltend«, relativierte Petra Landau, »aber wenn sich der Verdacht erhärten sollte, wäre das zweifellos ein Weltereignis.« Ihr Gesicht strahlte. »Bereits die Vorabanalyse, die in der Zeitschrift Science vorgestellt wurde, hat international mächtig Wind gemacht.«
»Würde sich die Vermutung tatsächlich bestätigen, dann wäre zum ersten Mal ein physikalisches Phänomen jenseits des Standardmodells gemessen worden«, sagte Professor Mann. Er war so erregt, dass das Zittern in seiner Stimme nicht zu überhören war. »Verstehen Sie, was das bedeuten würde, Frau Doktor Rührmann?«
Nicht im Detail, aber es ging offensichtlich um eine sehr, sehr große Sache. Ich straffte mein Kreuz. »Außergewöhnliche Behauptungen verlangen außergewöhnliches Beweismaterial«, sagte ich trocken. »Was wäre, wenn sich das Phänomen jenseits des Standardmodells nach einem weiteren mühevollen und kostspieligen Arbeitsjahr als Hirngespinst entpuppen würde?«
»Sehr gut, Frau Doktor Rührmann. Das ist genau der Punkt, denn das wäre eine Katastrophe, die ich mir in all ihren Facetten gar nicht ausmalen mag«, gab Hermann Mann unumwunden zu.
»Aber dafür haben wir ja Sie!«, schmeichelte mir Petra Landau und warf ihrem Direktoriumskollegen als Wink, endlich zur Sache zu kommen, ein kurzes Lächeln zu.
Professor Mann nickte wieder, schaute mir dann konzentriert in die Augen und sagte ernst: »Kollegin Landau hat recht. Genau deshalb brauchen wir Sie!«
Achtung, ming Mädsche!, warnte Edu aufgeregt. Irgendwat is faul.
»Ich verstehe nicht ganz. Ich bin keine Teilchenphysikerin. Welche Hilfe versprechen Sie sich von mir?«
»Keine wissenschaftliche.« Professor Hermann Mann griff nach meinen Bewerbungsunterlagen auf dem Konferenztisch, blätterte sie mit dem Daumen wie einen Kartenstapel durch und lehnte sich, den undurchdringlichen Blick an die Decke geheftet, die Fingerspitzen aneinandergedrückt, in seinem Stuhl zurück. »Sie sind aus verschiedenen Gründen für uns die ideale Kandidatin.« Er klopfte auf die Tischplatte, den Blick unverwandt nach oben gerichtet. »Eine promovierte Naturwissenschaftlerin, die auf verschiedenen Forschungsgebieten tätig war, die aber auch die forschungspolitische Landschaft und die verschiedenen wissenschaftlichen Dachorganisationen wie ihre Westentasche kennt.«
Ich blieb abwartend. Mein vorletzter Job am Geoforschungszentrum in Potsdam hatte mir längst nicht so viel Erfahrung eingebracht, wie mein Lebenslauf glauben machen sollte, aber wenn die das hier so interpretierten, bitte schön.
»Sie können also den Einfluss wissenschaftlicher Spitzenergebnisse auf den forschungspolitischen Gesamtzusammenhang sehr gut nachvollziehen. Und darüber hinaus besitzen Sie noch ganz andere Qualifikationen.«
»Nämlich?«
»Sie verfügen über kriminalistische Raffinesse.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ihr legendärer Auftritt in der Sendung des Fernsehmeteorologen Franz Seeler ist uns allen unvergessen.«
Ach so. Die berühmte Wetterwette zwischen Seeler und meinem Doktorvater Professor Udo Rindeck, deren kriminellen Hintergrund ich in einem furiosen Finale live im Fernsehen aufgedeckt hatte. Das war spektakulär, ohne Zweifel, aber immerhin schon zehn Jahre her.
»Auch Ihre letzte Tätigkeit in der Consulting-Firma spricht für Sie«, ergänzte Petra Landau. Sie lächelte mich an und tippte auf die Bewerbungsunterlagen. »Sie scheinen exakt über die Fähigkeiten zu verfügen, die wir für unser Labor derzeit so dringend benötigen.«
Ich war mir da nicht so sicher. »Die Consulting-Firma wurde am Ende von der Bank aufgekauft, gegen die ich ermittelt hatte«, gab ich zu bedenken. »Das war meinem Beschäftigungsverhältnis nicht gerade zuträglich.«
»Sollten Sie sich bei Ihrem Sonderauftrag bewähren«, überging Hermann Mann meinen Einwand, »werden wir Ihnen die ausgeschriebene Referentenstelle anbieten.«
Sonderauftrag. Da war er wieder, dieser Begriff, der schon in dem Einladungsschreiben so merkwürdig geklungen hatte.
Wat meint der mit Sonderauftrag?, fragte Edu unruhig.
»Was meinen Sie mit Sonderauftrag?«, fragte ich kühl.
Professor Mann lächelte schwach. »Derzeit tobt zwischen Theoretikern und Experimentalphysikern unseres Labors ein erbitterter Streit um die richtige Interpretation der Ergebnisse.«
»Einer unserer leitenden Wissenschaftler«, erläuterte Petra Landau eifrig, »der international anerkannte Teilchenphysiker Professor Dietmar Schäfer, hat eine Veröffentlichung zwecks Verifikation beziehungsweise Falsifikation der Daten angekündigt.«
Professor Mann kniff die Lippen zusammen. »Seine Arbeit ist gewissermaßen der Proof of Principle. Aber leider Gottes«, ergänzte er nach einem verärgerten Seufzer, »hat er die Ergebnisse seiner Arbeit noch nicht herausgerückt.«
»Vielleicht ist er noch nicht fertig?«
»Natürlich ist er das«, murmelte Mann mehr zu sich selbst. »Der würde doch nicht schlafen gehen, bevor das Ergebnis vorliegt.«
Petra Landau zog tief die Luft ein. »Dietmar Schäfer gehört nicht nur zu den führenden Denkern auf unserem Campus, er ist auch ein etwas …«, sie stockte, »wie soll ich sagen … schwieriger Mensch. Bevor Schäfer mit einem Ergebnis an die Öffentlichkeit tritt, muss er felsenfest von dessen Richtigkeit überzeugt sein.«
»Aber dann warten Sie doch einfach noch ein bisschen«, schlug ich vor.
»Genau das ist ja das Problem. Fürs Warten haben wir keine Zeit«, sagte Petra Landau mit eisernem Lächeln. »Am kommenden Donnerstag trifft eine internationale Gutachterkommission ein, die beurteilen muss, ob unsere Beschleunigeranlage DORIS für die Dauer eines Jahres weiterbetrieben werden soll oder nicht.«
»Bis dahin brauchen wir unbedingt Schäfers Ergebnisse«, zischte Professor Mann. Er hatte die Herrschaft über seine Stimme verloren. »Discovery only meets the prepared mind!«
Sogar das Dauerlächeln von Petra Landau verzog sich.
»Aber warum sagen Sie das mir und nicht Ihrem Schäfer?«
»Schäfer ist genial, aber wie schon gesagt kompliziert«, erwiderte Professor Mann sachlich. Er hatte seine Stimme wieder voll im Griff. »Dagegen ist jede Operndiva ein Schulmädchen.« Er hielt kurz inne, als müsste er sich den Vergleich wie eine neue Erkenntnis durch den Kopf gehen lassen. »Hiermit möchten wir Sie herzlich bitten«, sagte er dann, »die Ergebnisse von Schäfer diskret zu …«, er räusperte sich, »zu organisieren. Ja, nennen wir es einmal so: zu organisieren.«
»Ohne seine explizite Erlaubnis einzuholen, wenn es sein muss«, komplettierte Petra Landau den Satz und knipste ihr Lächeln wieder an. »Selbstverständlich diskret.«
Die Ungeheuerlichkeit dieses Ansinnens verschlug mir für einen Moment die Sprache. Welches Motiv leitete die Direktion einer seriösen Forschungseinrichtung wie DESY, mir einen so zwielichtigen Auftrag zu erteilen, wenn auch diskret? Irgendetwas verschwieg man mir, so viel war sicher. Was war der wahre Grund, warum ich mir diesen Professor Schäfer vorknöpfen sollte? Welche Interessen waren im Spiel? Was wusste der Professor, dass man gleich eine Spionin auf ihn ansetzte? Es ging zweifellos um mehr als nur um die Bestätigung einer neuen Art im physikalischen Teilchenzoo. Etwa um die sagenumwobene Weltformel. Schäfer hatte sie anscheinend gefunden, und es lag dem Direktorium viel daran, sie als Erste zu bekommen.
»Sie sind überzeugt, dass dieser Schäfer in seiner Arbeit die spektakulären Messungen am DESY …«
»Falsifiziert oder verifiziert hat? Ja, davon sind wir überzeugt«, vollendete Petra Landau meinen Satz, und Professor Mann nickte bestätigend.
»Der Entwurf einer Veröffentlichung zu den aktuellen Messungen am DESY existiert. Er befindet sich auf seinem Laptop.«
»Aber leider nur dort«, ergänzte Petra Landau, als hätte sie alle anderen Möglichkeiten bereits geprüft.
»Frau Doktor Rührmann.« Der Blick aus Professor Manns tiefliegenden Augen ließ mich nicht mehr los. »Nehmen Sie den Auftrag an?«
DESY
Montag, der 10. August, 10:44 Uhr
Klopfen an der Tür. »Ist es schon so weit?« Professor Mann blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Tatsächlich. Es ist so weit. Herein!«
Die Tür des Sitzungszimmers öffnete sich, und eine junge Frau betrat den Raum.
»Darf ich vorstellen, meine persönliche Referentin, Frau Doktor Dorothea Weber.«
Eine Sekunde verging, in der Dorothea und ich uns verblüfft ansahen.
Petra Landau lachte überrascht auf. »Sie kennen sich?«
Es war Dorothea, die als Erste ihre Fassung zurückgewann. Sie reichte mir zur Begrüßung die Hand und erklärte: »Ja, wir haben vor Jahren gemeinsam am Max-Planck-Institut für Meteorologie gearbeitet.«
»Richtig«, sagte Professor Mann trocken, »die Verbindung ist mir bei Durchsicht der Bewerbungsunterlagen auch gleich aufgefallen. Das wird Ihre Zusammenarbeit wesentlich erleichtern.«
Da war ich mir nicht so sicher. Zwischen Dorothea und mir hatte in unserer Zeit im Geomatikum ein Zustand diplomatisch verhüllter Gespanntheit geherrscht.
»Dorothea Weber wird Sie über das DESY-Gelände führen und Ihnen einige unserer Wissenschaftler und Mitarbeiter vorstellen.« Und zu Dorothea gewandt: »Frau Doktor Rührmann hat sich erfolgreich auf die vakante Stabsstelle beworben. Sie wird umgehend mit ihrer Tätigkeit beginnen. Bitte unterstützen Sie Frau Rührmann in all ihren Belangen. Zeigen Sie ihr bitte als Erstes ihr Büro. Frau Doktor Rührmann!« Damit verabschiedete er mich. Seine Hand fühlte sich an wie Pergament.
Draußen vor dem Sitzungszimmer sagte Dorothea Weber nur: »Du bist älter geworden.«
Takt war noch nie ihre Stärke, murmelte Edu von oben.
»Am Gegenüber sieht man, wie die Jahre vergehen«, konterte ich gelassen. Aber wenn ich ehrlich war, musste ich zugeben, dass sich Dorothea äußerlich nicht sehr verändert hatte. Ihr glatt zurückgekämmtes Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten gesteckt. Ihre kräftigen Schenkel waren vielleicht noch etwas kräftiger geworden, aber sie trug ein gut sitzendes Business-Kostüm und dazu passende Schuhe mit Blockabsatz, die Körper und Beine streckten. Ihre Augen (diese Kohlestückchen!) funkelten ebenso wie der strassbesetzte Schmuck an ihren kleinen weißen Ohren. Ihre gewölbten Brauen sahen immer noch aus wie mit dem Tuschpinsel auf eine Porzellanmaske gemalt. Und nach wie vor schimmerte der feine Flaum über ihrer Oberlippe, und der stand ihr nach wie vor ganz reizend. Dorothea war einfach sehr sexy in ihrer Üppigkeit.
»Du bist jetzt tatsächlich unsere neue EU-Referentin?«, fragte sie in ihrem unnachgiebigen Mezzosopran.
»Warten wir es mal ab«, erwiderte ich. Warum fragte sie mich das? Als persönliche Referentin des Forschungsdirektors musste sie doch haargenau wissen, wofür ich eingestellt worden war.
»Sicher hat dir das Direktorium noch andere Aufgaben übertragen«, fuhr Dorothea prompt fort und ein mephistophelisches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Nun, wie auch immer, dahinten ist dein Büro.« Sie wies auf ein Zimmer am Ende des breiten Ganges. »Vielleicht willst du dort dein …«, sie warf einen abschätzigen Blick auf meinen Rucksack, »Gepäck ablegen?«
»Danke, sehr aufmerksam.« Für die spitzen Pfeilchen, die sie seit unserem Wiedersehen auf mich abschoss, hatte ich nur ein müdes Lächeln.
Wir betraten mein neues Büro. Standardeinrichtung: Schreibtisch mit PC, Monitor und Tastatur, dazu ein Telefon, eine Schreibtischlampe und ein Schreibblock mit dem Logo des Forschungszentrums nebst einem Satz Kugelschreiber, unterm Tisch ein Rollcontainer, in der Ecke ein kleines rundes Konferenztischchen mit drei Stühlen, dahinter ein schwenkbarer Ventilator. Das Fenster bot Ausblick auf einen tristen Innenhof. Eine Glastür trennte mein Büro vom Nebenzimmer.
»Wer sitzt da?«
»Sibylle Reinold, eine Praktikantin«, sagte Dorothea und verbesserte schnell: »Deine Praktikantin. Professor Mann hielt es für sinnvoll, der Stabsstelle eine Hilfskraft zur Seite zu stellen. Aber ich weiß nicht, wo die kleine Abiturientin gerade steckt.« Sie funkelte mich mit ihren Kohlestückchen an und schürzte die vollen Lippen. »Ich dachte, ich zeige dir als Erstes unseren Kreisbeschleuniger. Wir haben gerade Shutdown. Die Anlage ist abgeschaltet. Wir können also in den Tunnel rein.«
»Fein«, antwortete ich und warf meinen Rucksack auf einen der Stühle. »Worauf warten wir?«
Wir durchwanderten den endlosen Korridor zur anderen Seite des Hauptgebäudes. An den Wänden hingen Poster, Ausschnitte aus Fachartikeln, Grafiken, Comic-Panels aus Zeitungen und Fotos und Karikaturen von großen wissenschaftlichen Persönlichkeiten wie Albert Einstein oder Richard Feynman. Die offenen Türen gewährten mir Einblick in die Büros des wissenschaftlichen Personals von DESY. Die Physiker trugen lose über die Schultern geworfene Pullover und saßen vor Computerterminals. Auf ihren mehr oder weniger aufgeräumten Schreibtischen türmten sich Zeitschriften, Computerausdrucke, vergilbte Skripte und Schreibutensilien. Ich fühlte mich stark an meine Doktorandenzeit im Geomatikum erinnert. In einigen Zimmern rotierten Ventilatoren, wie ich einen in meinem Büro stehen hatte, aber an denen hier flatterten lange Papierstreifen.
»Klingt schön. Wie das Blätterrauschen der Bäume im Sommerwind. Wer hat sich das ausgedacht?«
»Einer unserer Physiker. Mike Cardy. Du wirst ihn noch kennenlernen.«
Wir verließen das Hauptgebäude über einen Seitenausgang und marschierten über das Werksgelände. Geschäftiges Treiben auch hier: Arbeiter in blauen Overalls, Baufahrzeuge und Gabelstapler, dazwischen Fahrradfahrer auf institutseigenen gelben Rädern.
»Das ist wirklich ein Zufall, dass wir uns hier nach all den Jahren wiedertreffen«, sagte Dorothea mit gurrender Stimme und betrachtete mich von der Seite.
»Wie viele Angestellte gibt es am DESY?«, fragte ich sachlich. Ich hatte keine Lust, dem Gespräch eine persönliche Note zu geben.
»Normalerweise mehr als siebenhundert. Die dreihundert Gastwissenschaftler nicht mitgerechnet«, sagte sie, während sie voranschritt. »Aus mehr als vierzig Ländern. Internationalität wird am DESY großgeschrieben.«
»Wow!«
»Aber nur der kleinere Teil des festen Personals sind Wissenschaftler. Die meisten arbeiten in den Werkstätten, als Ingenieure, Techniker, Arbeiter. Oder in der Administration. Wir haben sogar eine PR-Abteilung. Jetzt im August ist weniger los auf dem Campus, wir haben Sommerpause.«
»Trotzdem beeindruckend. Eine Stadt in der Stadt.«
Wir unterquerten eine Kabeltrasse, über die plastikisolierte Metallstränge liefen, dahinter standen Transformatoren und Hochspannungsleitungen.
»Was rauscht da so?«
»Das Wasser der Kühltürme da drüben.«
Ich könnte auch eine Kühlung vertragen, nuschelte Edu von oben.
»Das Teilchenphysikzentrum existiert seit den 1960er Jahren. Im Laufe der Zeit sind mehr und mehr Experimentierhallen dazugekommen, außerdem Labor- und Bürogebäude«, erläuterte Dorothea.
»Architektonisch ein heilloses Durcheinander. Erinnert irgendwie an ein Krankenhausgelände, findest du nicht?«
»Keine Ahnung. Vielleicht. Das Wesentliche spielt sich am DESY sowieso im Verborgenen ab.« Sie blieb vor einem hellbraunen, zweistöckigen Gebäude stehen. »Unsere Kantine. Das Essen ist leider mäßig.«
Wundert mich nicht, so wie der Bau aussieht, dat färbt ab, spöttelte Edu.
Dorothea musterte mich von der Seite. »Wie ist es dir in Berlin ergangen?« Schon wieder wurde sie privat. Woher wusste sie von meiner Zeit in Berlin? Hatte sie also doch meine Bewerbungsunterlagen gelesen?
»Berlin ist Alexanderplatz«, sagte ich entschieden, damit sie endlich kapierte, dass ich persönliche Fragen nicht zuließ. Ich zeigte auf ein Gebäude mit einem frischen Außenanstrich. »Und das da?«
»Das ist die Experimentierhalle von DORIS«, sagte Dorothea. »Da gehen wir jetzt hin.«
Ich hob interessiert die Augenbrauen.
»DORIS ist ein Akronym und steht für DOppel-RIng-Speicher. Der Name des großen Ringbeschleunigers am DESY«, erklärte Dorothea mit der Stimme einer Touristenführerin. »Vergraben unter einem großen Ringwall, den man links und rechts von der Halle erkennen kann. In zwei getrennt verlaufenden Strahlrohren werden Protonen und ihre Antiteilchen, die Antiprotonen, auf einer etwa drei Kilometer langen Kreisbahn bis auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Die Protonen zirkulieren im Uhrzeigersinn, die Antiprotonen in entgegengesetzter Richtung. Mittels Dipol- und Quadrupol-Magneten können die Teilchen für Stunden auf der Kreisbahn gespeichert werden, deshalb spricht man auch von einer Speicherringanlage.«
Bei so einer Karussellfahrt muss den armen Dingern doch schwindelig werden, witzelte Edu.
»An einer Stelle in dem Ringbeschleuniger laufen die Strahlrohre der Protonen und Antiprotonen zusammen. Dort ist das eigentliche Teilchenphysikexperiment aufgebaut. Im Milliardstelsekundentakt passieren Teilchenströme diesen Wechselwirkungspunkt und stoßen aufeinander.«
»DORIS ist also eine ringförmige Schnellstraße für teilchenphysikalische Crash-Tests«, warf ich ein.
»DORIS ist mehr als eine Schnellstraße, DORIS ist eine Autobahn. Allerdings keine sehr neue. Der Teilchenbeschleuniger läuft in seiner jetzigen Ausbaustufe bereits seit mehr als fünfzehn Jahren. Wir arbeiten längst an der Konzeption eines neuen, viel größeren Beschleunigers namens FLIX. Für den wäre DORIS nur der Vorbeschleuniger.«
»Wofür steht FLIX?«, fragte ich.
Freie Liebe Inkorrekt X-mal, rief Edu närrisch von oben.
»Free electron laser based on LInear accelerators for X-rays«, erklärte Dorothea wichtig. »Eine Anlage zur Forschung mit Photonen. Eine Verzögerung des Baus von FLIX würde unseren amerikanischen Konkurrenten sehr zupasskommen, die an etwas ganz Ähnlichem arbeiten.«
»Klingt fast so, als wärst du über die Option einer Laufzeitverlängerung für DORIS nicht gerade erfreut.«
»Es gibt auf dem Gebiet der Free-Electron-Laser-Physik eine sehr starke Konkurrenz in den Vereinigten Staaten. Jeder Tag, den wir nicht in das neue Projekt investieren, ist ein verlorener Tag«, antwortete sie streng. »Außerdem glaube ich nicht an die Geisterteilchen, die jetzt bei DORIS gemessen wurden. Und ich stehe mit dieser Einschätzung nicht alleine da. Kurz: Eine Betriebsverlängerung von DORIS würde uns nur aufhalten und Zeit kosten.« Sie blickte mich auf einmal nachdenklich an. »Und Geld. Es würde uns sehr viel Geld kosten.«
Wir liefen weiter. Vor der eisenbeschlagenen Tür der Experimentierhalle blieb Dorothea überraschend stehen. »Mach dir nun selber ein Bild von dem Experiment, das angeblich die Geisterteilchen gemessen hat.« Sie tippte einen Nummerncode auf eine Anzeigetafel. Ein elektronisches Türschloss summte kurz auf, Dorothea öffnete die schwere Tür, und wir betraten eine Halle so groß wie ein Fußballfeld. Brummende Geräusche, überlagert von einem Pfeifen wie aus tausend Flugzeugdüsen.
»Ganz schön laut hier«, rief ich in das hübsche Ohr meiner Fremdenführerin.
»Das sind die Aggregate für die Wasserversorgung, auch die Transformatoren machen ordentlich Lärm. Du solltest aber erst mal hier sein, wenn DORIS in Betrieb ist, dann kommt das regelmäßige Hämmern der Hochfrequenz-Module hinzu.«
Überall wieselte technisches Personal herum. An der Decke lief eine an einem Stahlträger quer über die ganze Halle gespannte Laufkatze. Ein Arbeiter steuerte den Kran mit einem Funkgerät, das er wie ein Modellflieger vor seinem Bauch hielt. An dem Hubseil des Krans hing eine metallisch schimmernde Rollenkonstruktion.
»Da drüben, das ist Doktor Gernot Schmidt.« Dorothea deutete auf einen hageren Mann neben dem Kranführer. »Er ist ein DESY-Fellow«, sagte sie und ergänzte mit Seitenblick auf mich: »Übrigens die rechte Hand von Professor Schäfer.«
Die rechte Hand von Dietmar Schäfer? Interessant. Die guck ich mir mal genauer an.
Gernot Schmidt verfolgte konzentriert, wie der Kranführer die Last vorsichtig durch die Halle transportierte. Schmidt hatte ein aschfahles Vogelgesicht, strähniges, staubbraunes Haar und unsichtbare Lippen. Er trug einen beigefarbenen, etwas zu groß gewählten Konfektionsanzug mit messerscharf gebügelter Hosenfalte.
Der ist so klapperig, den halten nur drei Nägel zusammen, brachte es Edu auf den Punkt.
»Hallo, Gernot. Darf ich dir Frau Rührmann vorstellen? Sie wird sich künftig …«, Dorothea machte eine bedeutsame Pause, »um die EU-Förderung vom DESY kümmern.«
Ich reichte ihm freundlich die Hand. Er wich meinem Blick aus und murmelte eine kurze Begrüßung. Sein Händedruck war schlaff.
»Sie arbeiten mit Professor Schäfer zusammen?«, kam ich gleich zur Sache.
»Gernot modifiziert den Vorwärtsdetektor«, fuhr Dorothea dazwischen. »An dem Kran hier hängt ein Toroid-Magnet, der später in den Detektor eingebaut werden soll, richtig, Gernot?«
»Sozusagen«, bestätigte Gernot mit leiser Stimme.
»Gibt es vielleicht eine Möglichkeit für mich, Herrn Schäfer heute noch zu treffen?«
»Im Prinzip sollte er in seinem Büro sein.«
»Das übrigens deinem direkt gegenüberliegt, Nikola«, unterbrach Dorothea ein weiteres Mal, und zu Gernot gewandt: »Weißt du, ob Schäfer seine Arbeit zu den aktuellen DORIS-Messungen inzwischen abgeschlossen hat? Professor Schäfer ist nämlich«, sagte sie wieder an mich gerichtet, »der größte Kritiker der aktuellen Veröffentlichungen zu den Geisterteilchen.«
Gernot Schmidt machte ein Gesicht, als hätte er die ganze Nacht darauf gesessen. »Von welcher Arbeit redest du? Ich weiß von nichts.« Er fuhr sich über die trockenen Lippen.
Mir schien, als wüsste er sehr wohl, wovon Dorothea Weber sprach.
»Ist nicht weiter wichtig. Bis später, Gernot. Tschüs«, verabschiedete sie sich hamburgisch mit langgesprochenem ü und einem s. »Wir besuchen jetzt ADONIS.«
Gernot würde ich mir noch mal vorknöpfen müssen. »ADONIS?«, fragte ich, als wir auf die andere Hallenseite zuliefen.
»At DOris Nucleus Ion Scattering, kurz ADONIS, das Kollisionsexperiment von DORIS. Während des Betriebs ist es unter Stapeln von kubikmetergroßen, eisendotierten Abschirmsteinen verborgen. Aus Strahlenschutzgründen.«
»Ich sehe nur drei aufeinandergestapelte blaue Container vor einer Betonmauer.«
»Das ist der elektronische Rucksack, dort ist die komplexe Elektronik des ADONIS-Experiments untergebracht. Der Rucksack hängt huckepack am Experiment, damit die Signalwege nicht zu groß sind. Der ADONIS-Detektor verbirgt sich hinter riesigen Abschirmsteinen. Bei längeren Betriebsunterbrechungen werden diese Stapelsteine wie Bauklötze beiseitegeräumt und der Detektor wird freigelegt, damit man zu Wartungs- oder Reparaturzwecken bequem an alle Komponenten rankommt. Der Detektor besteht aus auf Gleisen gelagerten Halbschalen, die bei Bedarf auseinandergefahren werden können. Aber das macht man nur in den mehrwöchigen Betriebspausen, nicht bei einem kurzen Shutdown wie diesem.«
»Merkwürdig, dass er nichts von der aktuellen Arbeit seines Chefs zu wissen schien«, kam ich auf die Begegnung mit Gernot Schmidt zurück. »Dabei redet das ganze Labor doch sicher von nichts anderem?«
»Tut es das?«, fragte Dorothea glattzüngig und riss erstaunt ihre schwarzen Augen auf.
»Dorothy, my sweet love!«, rief ein wendiger kleiner Kerl, der gerade die letzten Stufen der äußeren Stahltreppe am elektronischen Rucksack herunterstieg. In den Händen trug er einen schweren Werkzeugkasten. In Sekundenbruchteilen hatte er mich mit seinen eng beieinanderliegenden Fuchsaugen abgescannt. »Explaining the world?«, grinste er und trat dicht an uns heran.
»Wenn du es sagst«, erwiderte Dorothea säuerlich und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. »Darf ich vorstellen: Mike Cardy, Nikola Rührmann, unsere neue EU-Referentin … mit speziellem Interesse an Professor Schäfer«, fügte sie spitz hinzu.
Mike Cardy stellte seinen Werkzeugkasten auf den Boden und griff nach meiner Hand, die ich ihm kaum wieder entwinden konnte. »Bin ganz erfullt with pleasure, Mrs. Ruman«, schnurrte er und rollte genüsslich das R meines Nachnamens. Er hatte weiches braunes Haar, das über den abstehenden Ohren kahlgeschoren war, so dass der lockige Rest wie eine Insel auf seinem Schädel lag. Seine gewöhnungsbedürftige Frisur erinnerte an die strenge Tonsur eines Mönches.
Fehlt nur noch der Heiligenschein da drübber! Der wäre aber ziemlich glanzlos, dat kann ich dir sagen, ming Mädsche, flüsterte Edu.
»Unfortunately, I must arbeiten«, entschuldigte Mike seine Eile. »Professor Bolz always has an eye on me. See you later.« Er zog sich den Pullover, den er lässig um die Schultern geschlungen trug, enger und warf mir noch einen ungemein feurigen Blick zu.
»Mike ist Amerikaner«, erläuterte Dorothea, als erklärte das alles. Wir sahen ihm nach, wie er mit dem Werkzeugkasten beladen die Experimentierhalle verließ. »Er arbeitet als Doktorand in der Gruppe, die die ominösen Geisterteilchen entdeckt hat.«
»Die spektakuläre Messung hat dieser Bill Ramsay gemacht?«
»Nein, nicht Mike Cardy. Der hat nur brav kalibriert«, sagte sie abschätzig. »Die Arbeitsgruppe wird von Professorin Bärbel Bolz geleitet. Du wirst sie noch erleben.« Es klang ein bisschen wie eine Drohung. »Nach diesen Männerbekanntschaften werfen wir mal einen Blick auf den echten ADONIS, einverstanden?«