Kitabı oku: «Teilchenbeschleunigung», sayfa 4

Yazı tipi:

Mahlzeit

Montag, der 10. August, 12:56 Uhr

Das Essen in der Kantine schmeckte wie angekündigt.

Der Hunger treibt’s rein, knurrte Edu.

»Du hast leicht reden da oben, du musst es ja nicht essen.«

»Was meinst du?« Sibylle guckte mich mit großen, runden Augen an.

»Ach nichts, manchmal spreche ich mit meinem Großvater Edu. Ist so eine Marotte von mir.«

»Lebt er in Hamburg?«, fragte Sibylle in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit.

»Das nicht gerade. Er ist seit 27 Jahren tot.«

»Ach so«, sagte Sibylle.

»Lass uns einen Plan aufstellen, Helferlein!«, schlug ich vor.

»Bin ganz Ohr«, strahlte sie.

»Ich benötige die Artikel zu den jüngsten ADONIS-Messungen. Such mir alles raus, was du darüber finden kannst, insbesondere die Veröffentlichung von Erik Hässler.«

»Aye, aye, Sir!«

»Dann ist da noch ein Satellit, der die Dunkle Materie erforscht. Er heißt ARIADNE. Zwischen den Ergebnissen von ARIADNE und denen von ADONIS soll es einen forschungstheoretischen Zusammenhang geben.«

Sibylle wurde sehr ernst. »Du brauchst den dazugehörigen Artikel?«

»Genau, meine kluge Kleene. Besorg mir das Paper.«

»Verstanden.«

»Gut«, sagte ich und vergewisserte mich, dass niemand mithörte. »Dann benötige ich das DESY-Organigramm. Ich muss die Organisationsstrukturen verstehen.«

»Ja, Chef.«

»Nenn mich nicht Chef.«

»Sondern?«

»Chefin!«

Wir lachten. So laut, dass sich die Kollegen am Nebentisch neugierig umdrehten.

»Zurück auf Eins«, flüsterte ich. »Zu DORIS. Hier interessiert mich, welche Bedingungen das Forschungsministerium für den Fall einer Laufzeitverlängerung stellt.« Ich schob die Erbsen an den Rand des Tellers. »Ferner benötige ich die wesentlichen Informationen zur Planung von FLIX.«

»FLIX?«, erkundigte Sibylle sich vorsichtig.

»Der Free electron laser based on linear acceleretors for X-rays, das große Nachfolgeprojekt am DESY.« Ich runzelte irritiert die Stirn. »Hast du etwa noch nicht davon gehört?«

Sibylle schüttelte verschämt den Kopf und errötete.

»Musst du aber«, mahnte ich. »Wenn DORIS eine Laufzeitverlängerung erhält, dann verzögert sich der Bau des neuen Projekts um mindestens ein Jahr.«

»Verstehe«, sagte Sibylle artig.

»Wirklich? Hast du im Rahmen deines Praktikums schon einen Gang über das Gelände gemacht?«

»Nein, noch nicht.«

»Das machst du morgen gleich als Erstes. DESY hat eine PR-Abteilung. Die bieten sicherlich öffentliche Führungen an.«

»Verstanden«, sagte sie zerknirscht.

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Iss weiter.« Ich beugte mich vor. »Und nun zu den Gutachtern.«

»Du brauchst alle Informationen über die Gutachter?«, fragte sie eifrig.

»Genau. Alles, aber auch alles, was du über sie herausfinden kannst«, sagte ich eindringlich. Ich schob meinen Teller von mir weg. »Noch viel mehr interessiert mich allerdings«, raunte ich und kontrollierte mit einem kurzen Rundblick, ob uns nicht doch jemand zuhörte, »Dietmar Schäfer.«

»Professor Dietmar Schäfer?«

»Genau der. Besorg mir sämtliche Informationen über ihn: Curriculum Vitae, sein aktuelles Vorlesungsverzeichnis, seine Literaturliste, vielleicht ein paar seiner jüngsten Veröffentlichungen, wo er wohnt, mit wem er wohnt, mit wem er gerne wohnen würde und so weiter und so weiter.« Ich blickte kurz nach rechts und links. »Und besorg mir vor allem ein Foto von ihm. Das wär’s.«

»Verstanden«, sagte Sibylle und legte ihr Besteck ab. Wir hatten beide unser Essen kaum angerührt.

»Ach, noch was: Mike Cardy, ein junger amerikanischer Physiker, hatte die witzige Idee, in einigen Büros Papierstreifen an die Ventilatoren zu kleben. Bastelst du mir auch so was?«

»Das berühmte Blätterrauschen am DESY. Klar, mach ich dir.«

Zufrieden ließ ich den Blick durch die Kantine schweifen. Das Publikum war ein Querschnitt des DESY-Personals, die leger übergeworfenen Pullover waren das Erkennungsmerkmal der Teilchenphysiker. Am anderen Ende des Speisesaals entdeckte ich Dorothea. Ihr gegenüber saß ein Geschäftsmann im Dreiteiler. Sieh mal einer an, er strich ihr vertraut über die Hand, ehe er sein Glas hob, um ihr zuzuprosten. Dann schaute er zur Seite, und ich sah sein hartes Profil.

»Was ist? Was guckst du so gespannt?«, fragte Sibylle.

»Den Typen da drüben bei der Weber, den kenne ich irgendwoher.«

Sibylle wollte den Kopf wenden, aber ich zischte sie an: »Dreh dich nicht um.«

Sie gehorchte.

»Ich habe so ein Gefühl … und das hat bei mir immer was zu bedeuten.« Edu wollte sich zu Wort melden, aber ich wehrte ihn ab. »Wir sollten die Kantine regelmäßig aufsuchen.«

»Weshalb?«, fragte sie verblüfft mit Blick auf unsere nicht einmal halb geleerten Teller.

»Weil es hier soziokulturell betrachtet verdammt viel zu sehen gibt, deshalb«, flüsterte ich und rollte die Augen bedeutungsvoll vier Tische weiter. »Mit wem sitzt Mike Cardy da?«

»Das ist ein Azubi«, klärte Sibylle mich auf. »Zu erkennen an seinem blauen Overall. Den tragen alle Auszubildenden am DESY.«

Der Junge war etwa in Sibylles Alter, ein südländischer Typ. Mike Cardy sprach wild gestikulierend auf ihn ein. Wir spitzten die Ohren, doch war im allgemeinen Gemurmel der Kantinenbesucher kein Wort zu verstehen.

»Macht nichts, Helferlein, Bill Ramsay nehme ich mir nächstens persönlich vor. Ich habe den Eindruck, dass es ein leichtes Spiel wird, von ihm zu erfahren, was ihn gerade so aufregt. Er ist die reinste Plaudertasche.«

»Und ich hatte schon befürchtet, dass mein Praktikum am DESY etwas langweilig werden könnte.«

Hotel Royal

Montag, der 10. August, 19:34 Uhr

Jede Stadt hat ihre Eigenheiten. In Hamburg zieht am Abend oft kühle, feuchte Seeluft von der Elbe den Hang hinauf und ist sogar noch in der Innenstadt zu spüren. Auch an diesem Montag, als ich müde in der Rothenbaumchaussee unweit des Dammtor-Bahnhofs vor dem Hotel Royal stand.

Wat machste so ein finsteres Gesicht, Herzblättschen? Geh rein undgenieß jeden Stern einzeln, versuchte mir Edu einen Schubs zu geben.

»Ich frage mich, was ich in Hamburg eigentlich will«, brummte ich.

Arbeiten, wie wir alle, rief Edu.

»Morgens ins Büro und abends brav wieder nach Hause? Fünf Tage die Woche? Achtundvierzig Wochen im Jahr? Fünfundzwanzig Jahre lang? Danach die Hacken zusammenschlagen und zu dir auf die Wolke kriechen? Nee danke.« In Berlin hatte ich mich von diesem biedermeierlichen Lebensentwurf verabschiedet, aber Pustekuchen. Die Weltwirtschaftskrise spülte mich an die Gestade meiner Jugend zurück, dorthin, wo alles angefangen hat. Was war aus meinen Plänen geworden?

Du bist eine Schwarzseherin und badest in Selbstmitleid!

»Außerdem ärgert es mich, dass ich Schäfer heute nicht in seinem Büro angetroffen habe, vielleicht wäre ich sonst bei meinem Sonderauftrag vorangekommen.« Aber das Rumstehen brachte mich auch nicht weiter. Also gab ich mir einen Ruck und ließ mich von der Drehtür in die Hotellobby treiben.

Die Empfangshalle war großzügig ausgelegt und ihre mit Motiven der Stadt bemalte Kuppel von beachtlicher Höhe. An einem schmalen Pult neben der Tür stand ein livrierter Portier. Zur Begrüßung bleckte er seine Biberzähne und schaute diskret über meinen geschulterten Rucksack hinweg. Die Hotelgäste, die die Lobby bevölkerten, schienen gut situiert, die Herren in dunklen Anzügen, die Damen in teuren Roben.

Ich schlenderte zum Empfang und checkte ein. Die junge Rezeptionistin im marineblauen Kostüm, mit tiefsitzendem Seitenscheitel und einem roten Nickituch um den schmalen Hals, überreichte mir die elektronische Schlüsselkarte und sagte professionell lächelnd: »Zimmer 304 in der dritten Etage. Die Karte bitte mit dem Pfeil nach oben einführen. Der Lift ist gleich links. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in unserem Haus, Frau Doktor Rührmann!«

Die Zahl 304 gefiel mir – die Null in der Mitte wie eine Dame, von einem jüngeren und einem älteren Herrn flankiert.

Dat ist nicht von dir, Liebschen, dat ist von Joseph Roth, rügte Edu. Aber egal, lenkte er gleich ein, schöne Gedanken darf man ruhig klauen. Damit sie nicht verloren gehen.

Der Fahrstuhl schloss sich lautlos, und ebenso lautlos setzte er sich in Bewegung. Auf der dritten Etage lief ich den langen Hotelflur entlang, immer die Zimmernummern im Auge: 301, 302 … Der dicke Teppichboden verschluckte jeden meiner Schritte.

Im Zimmer 304 angekommen schmiss ich meinen Rucksack in die Ecke, stellte den Radiowecker auf FSK 93,0 MHz, sank auf das frische, kühle Bett und fiel von den Sternen begleitet in tiefen Schlaf.

In diesem Sinn stellt man sich nicht so an und überlässt das Denken den Profis. Und das Handeln sowieso. Und am besten lässt man alles so, wie’s ist. In diesem Sinn begräbt man seinen Stolz, in diesem Sinn strengt man sich an, in diesem Sinn zu arbeiten, zu überlegen, wie man noch mehr raffen kann.

Wir können nichts, wir sind nichts, wir wollen nichts und wir werden nichts: in diesem Sinn.

Ein Klingeln weckte mich. Wo war das Telefon? Auf dem Nachttisch.

»Ja?«, meldete ich mich kraftlos.

»Nikolaus, bist du etwa schon im Bett?«, bellte eine Stimme in mein Ohr. Sie klang nach Jan N Punkt.

»Nein, am Schreibtisch.«

»Hört sich gar nicht so an«, raunzte es zurück. Kein Zweifel, Jan N Punkt. »Ich bin unten in der Lobby!«

»In vier Minuten bin ich bei dir.« Ich richtete mich auf und verglich die Uhr auf dem Nachttisch mit meiner eigenen: 20:22 Uhr zeigten beide übereinstimmend.

Wie hat mich Jan nur ausfindig gemacht, dachte ich, während ich mir die flachen Schuhe zuschnürte und die Bluse glattstrich. Aber gut, dass er mich geweckt hatte, denn ich musste Herrn Schäfer heute noch einen Besuch abstatten. Außerdem freute ich mich, Jan wiederzusehen.

Genau vier Minuten später betrat ich die Eingangshalle, Jan saß in einem der schweren Sessel der Sitzgruppe und schmökerte im Hamburger Abendblatt. Das Haar meines ehemaligen Kommilitonen war schütter geworden, das Gesicht fülliger, aber sein schwarzer Spitzbart und seine kleinen, scharf blickenden Augen hinter der Nickelbrille waren noch so, wie ich sie von unserer letzten Begegnung vor acht Jahren in Erinnerung hatte.

»Jan N Punkt, alter Trotzkist!«, rief ich.

Er legte die Zeitung beiseite, sprang vom Sessel auf und lief auf mich zu. Wir umarmten uns innig. Dann betrachtete er mich von Kopf bis Fuß. »Gut siehste aus, Nikolaus!«

»Also, wenn du auf mein Outfit anspielst: So was trage ich nur, weil ich mich heute für einen neuen Job vorstellen musste.«

»Du bist unverändert, Nikolaus.«

»Das stimmt nicht. Guck dir nur meinen Raben an!« Ich schob den Ärmel der Bluse hoch und zeigte auf die blaugraue Tätowierung auf meinem Arm. »Der lässt schon die Flügel hängen.«

»Er sieht aus wie gerade aus dem Ei geschlüpft.«

»Wir sollten nicht unserer Jugend nachrennen, alter Charmeur. Wir holen sie eh nicht mehr ein. Von wem weißt du überhaupt, dass ich hier bin?«

»Christian hat mich informiert, dass du jetzt am DESY arbeitest. Ich habe kurzerhand dort angerufen. Die Zentrale hat mich mit deiner Sekretärin verbunden.«

»Praktikantin, wenn du mit Sibylle telefoniert hast.«

»Ist ja egal. Jedenfalls nannte sie mir deine Unterkunft. Und ich muss sagen«, er sah sich übertrieben andächtig um, »nobel, nobel. Ein Sechs-Sterne-Hotel.«

»Fünf! Es hat fünf Sterne. Die reichen aber auch schon. Im Übrigen bin ich aus …«, ich legte kurz den Finger auf die Lippen, »aus investigativen Gründen hier. Es geht um einen Sonderauftrag.«

»Das klingt aufregend, Nikolaus«, stellte Jan fest und fragte nicht weiter nach. Das hat er nie getan.

In diesem Augenblick betrat Gernot Schmidt die Hotellobby, sichtlich um ein sicheres Auftreten bemüht. Unter den Arm hatte er ein aufgerolltes Poster geklemmt, in der Hand hielt er Schäfers dubiosen Aluminiumkoffer.

»Was will der denn hier?«, entfuhr es mir, und ich trat instinktiv hinter Jan. Gernot Schmidt blickte fragend zum Biber in Livree, worauf dieser in Richtung Empfangstresen wies und Schmidt sich mit unsicheren Schritten auf den Weg dorthin machte.

»Wer ist das?«

»Ein Kollege vom DESY«, sagte ich leise. »Ich frage mich, was er hier macht.« Und warum er diesen Koffer mit sich herumträgt. »Ich gehe kurz rüber und erkundige mich, was er vorhat.«

Ich erreichte den Tresen in dem Augenblick, als die junge Rezeptionistin mit einer Miene des Bedauerns den Telefonhörer auflegte und zu Gernot Schmidt sagte: »Professor Schäfer ist offensichtlich noch nicht im Hause. Ich kann die Sachen aber gerne auf sein Zimmer bringen lassen.« Sie winkte einem Pagen in grauer Hoteluniform.

»Im Prinzip könnte ich ja selber«, sagte Gernot zögerlich und lächelte verlegen an der Rezeptionistin vorbei. »Aber es wäre natürlich nett –«

»Guten Abend, Herr Schmidt«, fuhr ich dazwischen.

Er blickte überrascht hoch und sah dann hastig beiseite. »Frau Rührmann?«

»Was treibt Sie denn hierher?«

»Im Prinzip Herr Schäfer.« Die Antwort kam zweifellos schneller als gewollt. Er senkte den Blick auf seine Schuhspitzen.

»Bitte die beiden Sachen auf Zimmer 317«, wies die Rezeptionistin den Pagen an. Der Junge nickte höflich, griff nach dem Aluminiumkoffer und dem gerollten Plakat und trabte zum Fahrstuhl.

»Herr Schäfer bat mich, seine Posterpräsentation und die beiden Laptops, die er im Büro vergessen hatte, im Hotel vorbeizubringen«, murmelte Gernot Schmidt.

»Die waren im Koffer? Auch der Laptop, auf dem er seine aktuellen Arbeiten deponiert hat?«

»Im Prinzip ja.«

Ich sah dem Pagen nach, der in diesem Moment hinter der sich schließenden Fahrstuhltür verschwand. Da ging sie hin, die Analyse von Schäfer. »Verdammt!«

Die Rezeptionistin überhörte taktvoll meinen Fluch.

»Warum haben Sie mir nicht …«, zischte ich und wandte mich wieder Gernot Schmidt zu, aber der hatte sich bereits auf Französisch verabschiedet. Ich sah noch, wie er durch die große Drehtür verschwand. »Ich geb’s auf!«

»Was ist passiert? Du machst so ein grimmiges Gesicht, Niko«, stellte Jan besorgt fest, als ich ihn zum zweiten Mal aus seiner Abendblatt-Lektüre riss.

»Gehen wir in der Hotelbar was trinken«, erwiderte ich deprimiert. So dicht dran an der Erfüllung des Sonderauftrags – und dann das. Zu blöd.

Mach dir keine Gedanken, ming Mädsche. Du wirst diesen Schäfer noch treffen, versuchte mich Edu zu trösten. Schalt jetzt mal ab und trink disch einen!

Ein guter Rat. Das wollte ich probieren.

»Und wie geht es den Kindern?«, bemühte ich mich um einen heiteren Ton, nachdem wir auf den Barhockern am geschwungenen Tresen Platz genommen hatten.

»Gut.« Er kniff die Augen zusammen. »Ich hab sie vier Tage die Woche. Immerhin.«

Wir schwiegen. Auch Jan schätzte es, die Dinge manchmal im Raum stehen zu lassen.

»Was darf ich Ihnen anbieten?«, fragte der Barkeeper.

»Nicht zu fassen«, rief ich den rotschopfigen Mann überrascht an.

»Das haben wir leider nicht«, antwortete er trocken.

»Karotten-Rambo!«, rief ich. »Erkennst du mich nicht mehr? Du hast mir vor zwanzig Jahren mal auf ’ner Party deine Telefonnummer gegeben.«

»Offensichtlich habe ich nie einen Anruf bekommen, sonst würde ich mich bestimmt erinnern«, sagte er ungerührt.

»Du hattest eine Aquaholikerin zur Mutter und bist, wie sie vorausgesagt hat, Barkeeper geworden«, ereiferte ich mich. »Das ist ja toll! Nur deine Sommersprossen sind wegdiffundiert.«

»Leider nicht nur die«, entgegnete er melancholisch. »Meine Mutter gibt es inzwischen auch nicht mehr. Was wollt ihr trinken?«

»Na, anlässlich dieses Wiedersehens zwei Wodka-Kirsch«, sagte ich bedeutungsvoll, »aber in der richtigen Mischung!«

Karotten-Rambo begann leise zu lächeln, als dämmerte ihm, dass er sich über Wodka-Kirsch, aber in der richtigen Mischung schon mal mit jemandem unterhalten hatte.

»Verdammte Hacke«, sagte ich zu Jan, als uns der Barkeeper den Rücken zukehrte, um die Getränke zu mixen, »ich weiß nicht, ob mir diese Stadt guttut. All diese Erinnerungen, die in einem hochsteigen wie Kohlensäurebläschen im Wasserglas. Diese Stadt ist offensichtlich zu klein für mich.«

»Du hast einen Sonderauftrag, Niko«, erwiderte Jan ernst. »Da hast du etwas, woran du dich halten kannst.«

Ja, ich hatte einen Sonderauftrag, an den ich mich halten konnte. Aber leider verstand ich ihn nicht.

Karotten-Rambo servierte die Wodka-Kirsch und wünschte uns ein »Wohl bekomm’s!«.

»Stell dir vor«, sagte Jan mit neuem Schwung, nachdem er von seinem Drink mehr als nur gekostet hatte, »ich bin dabei, wieder unter die Hausbesetzer zu gehen.«

»Nein!«

»Doch! Und das auf meine alten Tage.« Er lachte und schien sich diebisch an dem Gedanken zu freuen. Im Flüsterton fuhr er fort: »Gemeinsam mit Rüde hab ich mich einer Künstlergruppe angeschlossen, um einen Altbaukomplex im Gängeviertel vor dem Abriss zu bewahren. Die Häuser gehören einer Investorengruppe, die sich von der neuen Bebauung des historischen Geländes großen Profit verspricht.« Die Augen hinter seiner Nickelbrille schauten wachsam nach links und nach rechts. »Du darfst mit niemandem darüber sprechen!«

»Warum nicht?«

»In ein paar Tagen startet die Aktion.«

»Welche Aktion?«

»Die Besetzung des Gängeviertels!«, flüsterte Jan.

»Die gehen aufs Haus, zum Wohlsein!«, warf Karotten-Rambo ein und goss uns Wodka-Kirsch in der richtigen Mischung nach. Offenbar hatte er mich wiedererkannt.

»Danke sehr!«, sagte ich zu ihm. Und dann zu Jan: »Was ist das für eine Gruppe?«

»Künstler. Frei von Ideologien und Dogmatismus. Es geht um Raum für Kreative. Gegen die Kommerzialisierung der Stadt. Und vor allem um die Rettung der Häuser zwischen Valentinskamp, Caffamacherreihe und Speckstraße.«

»Das gefällt mir.« Wir prosteten uns zu. Ich dachte an meine Hausbesetzerzeit und daran, wie lange sie schon zurücklag. Und dass am Ende alles zu einem zurückkehrt. So oder so.

»Dabei fällt mir ein …« Jan setzte das Glas ab und leckte sich über die Lippen. »Könnte nicht die Stiftung zur Rettung der Welt ein paar Fördermittel …« Er vollendete den Satz nicht, sondern verließ sich auf seine konspirativ funkelnden Augen.

Ich zuckte nur mit den Schultern. »Die Stiftung existiert doch praktisch nicht mehr. Frag mal bei Rüde nach, er ist ihr Insolvenzverwalter.«

»Nikolaus«, rief Jan entsetzt, »wo ist bloß dein Idealismus geblieben?« Er rollte sein Glas zwischen den Händen.

»Entschuldige, die Stiftung war doch nur eine Schnapsidee.« Ich trank von meinem Wodka-Kirsch und sagte weiter nichts dazu.

»Egal, wir schaffen es auch so«, fuhr er optimistisch fort. »Die Leute auf der Straße geben uns extrem viel Rückhalt. Zum Beispiel las ich eben einen interessanten Artikel über die fortschreitende Gentrifizierung der Stadt, und dass durch die Neubebauung Ähnliches dem Gängeviertel –« Er brach mitten im Satz ab.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Sieh dich mal unauffällig um.«

Der angrenzende Konferenzraum entließ eine Gruppe Geschäftsleute in die Freiheit der Bar, an der Spitze ein stämmiger Mann mit energischem Kinn. Tatsächlich, erst heute Mittag hatte ich diesen Mann in der Kantine des DESY im Profil gesehen.

»Sönke!«, flüsterte ich fassungslos.

»Ja, Sönke!«, bestätigte Jan nicht minder erstaunt. »Bei unseren Demos stets als Rädelsführer im schwarzen Block.«

»Mit Marx und Hegel unterm Arm dem Häuserkampf verschrieben«, ergänzte ich tonlos. Ich wusste nicht, was mich mehr erstaunte. Der Zufall, der uns hier zusammenführte, oder die Veränderung, die Sönke vollzogen hatte. Er trug das grau melierte Haar kurz und penibel gescheitelt, sein dreiteiliger dunkelblauer Anzug saß tadellos, die glatten Schuhe blitzten.

»Aus der autonomen Szene scheint er inzwischen ausgetreten zu sein«, bemerkte Jan. »Aber radikal ist er wohl geblieben. Wenn auch unter anderen Vorzeichen.« Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas, als müsste er sich beruhigen.

»Seltsam, wie sich alles verändert.«

»Darauf noch einen Wodka-Kirsch«, rief Jan dem Barkeeper zu.

»Auf meine Rechnung«, ergänzte ich.

»Kommt sogleich«, entschuldigte sich Karotten-Rambo, während er seinen Tresen verließ, um die Flügeltür des Konferenzraums hinter den Geschäftsleuten zu schließen, die die Bar als Abkürzung zur Hotelhalle benutzten.

Erst Karotten-Rambo, dann Sönke, flüsterte Edu mir zu. Dat kann doch kein Zufall sein, dass du gleich am ersten Tag in deinem Hotel auf alte Bekannte triffst. Dat hängt mit deinem Sonderauftrag zusammen.

»Das Gesamtpaket ist suboptimal, aber alternativlos«, hörten wir einen der Männer zu Sönke sagen, ein Herr in einem Fischgrät-Sakko, dem man getrost das respektvolle Hamburger Attribut reell oder solide zusprechen konnte, zumindest dem ersten Eindruck nach.

»Richtig, das müssen wir noch zielführender kommunizieren«, antwortete Sönke nachdenklich, da fiel sein Blick auf uns. Er riss erstaunt die Augen auf. »Nikola? Jan? Was macht ihr denn hier?« Er entschuldigte sich kurz bei dem Hanseaten, machte den übrigen Geschäftspartnern ein kleines Zeichen und trat auf uns zu. »Unglaublich, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?« Mit einem kameradschaftlichen Augenzwinkern gab er erst mir die Hand, dann Jan. Die Herzlichkeit seiner Begrüßung wunderte mich nicht weniger als seine äußere Verwandlung. »Gut siehst du aus, Nikola«, sagte er mit sonorer Stimme.

»In Berlin würde man meinen Aufzug als schnieke bezeichnen«, erwiderte ich.

»Du hast in Berlin gelebt?«, schlussfolgerte Sönke ganz richtig und lupfte die Brauen.

»Eine ganze Weile. Bin seit Jahren das erste Mal wieder in Hamburg.«

»Und? Hat sie sich verändert, unsere Hansestadt?«, fragte Sönke mit selbstgefälliger Liebenswürdigkeit.

»Mir ist aufgefallen, dass es auf den Bahnsteigen keine Penner mehr gibt«, antwortete ich kühl.

Karotten-Rambo brachte Jan ein neues Getränk und blickte fragend zu Sönke. Der winkte ab.

»Was aber nicht daran liegt, dass Hamburg keine Penner mehr hat«, stieg Jan sofort ein, »sondern an den neuen pennerfeindlichen Sitzbänken auf den Bahnsteigen.« Er nahm wieder einen Schluck aus seinem Glas. »Daran liegt das.«

»Sehr spannend«, sagte Sönke gelangweilt und fragte mich weiter: »Und sonst?«

»Ansonsten erscheint mir Hamburg im Vergleich zu Berlin merkwürdig gestresst. Und das trotz der Sommerferien«, fügte ich hinzu.

»Weil im Gegensatz zu Berlin in dieser Stadt wirklich gearbeitet wird«, erklärte Sönke mit jovialem Lächeln. »Was machst du hier, Nikola?«

»Ich hatte heute ein Bewerbungsgespräch.« Ich machte eine Pause. »Am DESY.«

Sönkes Pause dauerte mindestens ebenso lange. »Am DESY. Interessant. In der Tat.« Nicht das kleinste Zucken umspielte seinen Mund oder seine Augen.

»Und was arbeitest du so?«, fragte Jan unvermittelt zurück, der Fragen dieser Art normalerweise nie stellte.

»Export – Import«, erwiderte Sönke nur und lachte kurz auf. »Für dich völlig uninteressant, mein Lieber.«

Dem würde ich keinen Gebrauchtwagen abkaufen, warnte Edu.

»Na, da bin ich ja beruhigt, dass du nichts mit diesen Hedgefonds zu tun hast«, sagte Jan ernst und ohne Ironie. »Das globale Finanzsystem ist in die schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs geraten. Es droht der Kollaps der Weltwirtschaft. Und was das für die Menschen auf der Straße bedeutet …«

»Papperlapapp«, antwortete Sönke brüsk. »Die Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte der Finanzkrisen. Sie beginnt mit dem spanischen Staatsbankrott Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, knapp hundert Jahre später, am Ende des Dreißigjährigen Krieges, kam es zum ersten Börsenkrach in Holland, der großen Tulpenschlacht, und 1929 zum Schwarzen Freitag. Alles ganz normal.«

»Das Platzen der New Economy-Blase und die Bankenkrise im neuen Jahrtausend nicht zu vergessen«, fügte Jan hinzu.

»Wie dem auch sei. Ich bin da gelassen. Die Auswirkungen auf die reale Wirtschaft bleiben begrenzt. Davon geht die Welt nicht unter.«

»Das werden wir sehen«, konterte Jan bissig. »Was Finanzkrise genannt wird, ist letztlich die Krise des kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensstils.«

»Lernt man das in den Germanistik-Seminaren?«, lächelte Sönke und zwinkerte mir zu.

»Keine Ahnung, hab schon lange keins mehr besucht«, antwortete Jan säuerlich. »Aber auf den Wirtschaftskongressen der letzten Jahre hat man das Heraufdämmern der Krise jedenfalls nicht vorhergesehen.«

Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht, bemerkte Edu anerkennend.

Sönke zupfte ärgerlich an seinen goldenen Manschettenknöpfen. »Kinders, entschuldigt, dass ich diese spannende Diskussion abbrechen muss, aber ich darf meine Kunden nicht zu lange warten lassen. Nikola, ich gehe davon aus, dass du noch ein paar Tage im Hotel bist?« Er zwinkerte mir abermals zu. »Lass uns mal in Ruhe sprechen. Ein Bewerbungsgespräch am DESY? Hochinteressant. Ich würde mich sehr freuen …«, er zog eine Visitenkarte aus seinem Jackett und sah stoisch an Jan vorbei, »wenn du dich melden würdest. Schon bald, ja?« Er drehte sich kurz zu den anderen um, die am Ausgang der Bar warteten. »Ich komme!«, rief er mit selbstbewusstem Lächeln. Und zu mir: »Was haben wir nicht alles gemeinsam erlebt, nicht wahr? Darauf müssen wir einen trinken!« Bevor er die Hotelbar verließ, winkte er noch einmal.

Jan kippte seinen Wodka-Kirsch hinunter, als bräuchte er dringend eine innere Abkühlung. Karotten-Rambo schloss die Tür hinter den Geschäftsmännern, und weil er als guter Barkeeper die Wünsche von den Lippen ablesen konnte, fragte er beim Zurückkommen: »Noch einen?«

»Zwei«, sagte ich und betrachtete Sönkes Visitenkarte. »Was für ein Gesinnungswandel!« Ich stockte. »Jetzt guckst du aber grimmig. Was ist los, Jan?«

Jan tippte auf die Visitenkarte. »Seine Firma! Sieh doch bloß!«

»IM-Invest-Coop«, las ich vor. »Klingt irgendwie nach … Export – Import.«

»Die Firma gehört zu der Investorengruppe«, Jan musste schlucken, »die unsere Häuser im Gängeviertel verramschen will.«

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺291,45

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
271 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783867549325
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre