Kitabı oku: «Teilchenbeschleunigung», sayfa 3
»Wenn der so eindrucksvoll ist wie die anderen Kerle hier?«
»Viel eindrucksvoller!«, versprach Dorothea und musste lachen. Sie öffnete eine gelbe Gittertür, und ich folgte ihr in einen anderthalb Meter breiten Spalt zwischen den Stapelsteinen.
Das Betreten der Anlage ist während des Betriebs strengstens verboten! Regelwidriges Öffnen der Zugangstür bricht das Interlock und führt zur automatischen Abschaltung der gesamten Beschleunigeranlage!
»Passiert so was öfter?«, fragte ich und tippte auf das gelbe Warnschild.
»Normalerweise nicht, Gott sei Dank. Allerdings hatten wir gestern eine unplanmäßige Betriebsabschaltung.«
»Ach. Weshalb?«
»Jemand hat nachts eine Interlock-Tür geöffnet. Der Anlass ist unklar. Aber das ist der Grund für den jetzigen Shutdown.« Dorothea schürzte unwillig die Lippen. »Eine Katastrophe. So eine ungewollte Betriebsabschaltung kann eine Menge Elektronik kaputt machen. Du schaltest ja deinen PC auch nicht aus, indem du den Stecker aus der Dose ziehst. Achtung, Kopf einziehen!«
Wir durchliefen im Halbdunkel ein schmales Labyrinth und gelangten in den abgeschirmten Teil der DORIS-Experimentierhalle, in dem der Detektor stand.
»ADONIS!«, stellte Dorothea nicht ohne Stolz einen metallenen Kubus von den Ausmaßen eines Einfamilienhauses vor, eingezwängt zwischen Stapeln von riesigen Betonklötzen.
»Wow! Was für ein Brocken.«
»Und schwer. Allein das Kalorimeter wiegt siebenhundert Tonnen. Zusammen mit dem Eisenjoch hat ADONIS ein Gewicht von knapp der Hälfte des Eiffelturms.«
Ich pfiff anerkennend durch die Zähne. »Properes Kerlchen.«
»Da oben siehst du die Vakuumröhren für die Protonen und Antiprotonen.« Sie legte eine Hand auf meine Schulter und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf zwei Strahlrohre in Höhe von knapp drei Metern zwischen Detektor und Wand. Ein schönes Gefühl, ihre Hand auf der Schulter.
»Die Protonen kommen links aus dem Tunnel und die Antiprotonen von der anderen Seite. In der Mitte des Detektors laufen die beiden Teilchenstrahlrohre zusammen. Dort ist der Kollisionspunkt.« Sie zog die Hand zurück.
»Der Wechselwirkungspunkt?«, fragte ich.
Sie genoss sichtlich meinen gespannten Gesichtsausdruck. »Richtig.«
»Aber was passiert hier, wenn die Anlage in Betrieb ist?«
»Bis zu zweihundert Teilchenpakete, bestehend aus Bienenschwärmen von Protonen und Antiprotonen, laufen im Nominalbetrieb in der Beschleunigeranlage gegenläufig im Kreis herum und durchtunneln viele Millionen Mal pro Sekunde den Wechselwirkungspunkt in der Mitte des Detektors. Dabei prallen ein paar von ihnen mit einer Schwerpunktsenergie von einem Tera Elektronenvolt aufeinander.«
»Eine Eins mit zwölf Nullen: tausend Milliarden Elektronenvolt«, reflektierte ich erfreut.
»Es kommt zu elementaren Wechselwirkungen, zu physikalischen Reaktionen, wie sie kurz nach dem Urknall im Universum stattgefunden haben, zur Produktion von Sekundärteilchen, die wie Billardkugeln beim Karambolage-Spiel auseinanderfliegen.« Um die Gewalttätigkeit der Explosion anzudeuten, die im Innersten des Detektors vonstattengeht, breitete sie die Arme weit aus, was mir einen tiefen Blick in ihr Dekolleté gestattete.
Ich war beeindruckt. Nicht nur von Dorotheas Maßen. Auch von ihrem Fachwissen. Und kurz davor, mich wieder in sie zu vergucken.
Sie machte schnell den obersten Knopf ihres Business-Kostüms zu, der sich bei der jähen Bewegung geöffnet hatte, und setzte ungerührt ihren Vortrag fort. »Der Detektor hat die Aufgabe, die physikalischen Eigenschaften der Bruchstücke dieser elementaren Kollisionsreaktion zu vermessen. Dafür stehen ganz unterschiedliche Detektorkomponenten zur Verfügung. Im Inneren sitzt die Driftkammer zur Bestimmung der Spuren und Ladungen der Teilchen, die bei dem Zusammenstoß entstehen. Die Driftkammer wird nahezu hermetisch von dem Kalorimeter umschlossen, das wiederum die Aufgabe hat, die Teilchenenergien zu vermessen. Ich merke, du bist nicht mehr ganz bei der Sache.«
»Doch, doch«, versicherte ich und machte ein interessiertes Gesicht. »Wir waren bei der Driftkammer, die nahezu hermetisch –«
»Zugegeben«, unterbrach sie, »im zusammengefahrenen Zustand wirkt der Detektor nicht sehr vielschichtig. Wir gucken uns ADONIS später an, wenn er nackt vor uns steht. Lass uns stattdessen einen Blick in den DORIS-Tunnel werfen.«
Also liefen wir das schmale Labyrinth zurück, weiter vor bis zur Interlock-Tür, stiegen von dort eine Stahltreppe zu einer Galerie hinauf, passierten eine weitere gelbe Interlock-Tür, trabten mit eingezogenen Köpfen im Zickzack durch ein zweites Labyrinth und betraten endlich den Beschleunigertunnel.
»Wow!«, wiederholte ich beim Anblick der leicht gekrümmten, fünf Meter breiten Röhre, die in hundert Metern Entfernung aus dem Sichtfeld lief.
»Die Ringanlage DORIS hat einen Umfang von knapp drei Kilometern«, sagte Dorothea so selbstbewusst, als hätte sie sie eigenhändig gebaut.
Neonleuchten hingen an der Decke. Die zwei Strahlrohre für die Protonen und Antiprotonen waren auf massive Gestelle montiert, flankiert von pfeifenden Vakuumpumpen, rosafarbenen Fokussierungs- und Ablenkungsmagneten und metallischen Hohlraumresonatoren. Parallel zu den Strahlrohren lief eine schmale Trasse für das wissenschaftlich-technische Personal.
»Die Erforschung der Struktur der Materie ist direkt gekoppelt an die maximal erreichbare Energie des Beschleunigers«, referierte Dorothea und lehnte sich lässig gegen einen der metallenen Hohlleiter. »Je höher die Energie der Teilchen bei der Kollision, desto tiefer unser Einblick in den Mikrokosmos. Deswegen hat jede Beschleunigeranlage per definitionem eine feste Schranke, bis zu der sich die Wissensgrenze maximal verschieben lässt.« Sie holte tief Luft, um dann unvermittelt in die Geschichte der Streuexperimente einzutauchen: angefangen bei der Streuung von Alpha-Strahlen an einer hauchdünnen Goldfolie, aus der Rutherford vor knapp hundert Jahren darauf geschlossen hatte, dass ein Atom aus einem kompakten Kern besteht, über die Versuche von Otto Hahn und Lise Meitner zur Kernspaltung, bis hin zu den beschleunigerbasierten Teilchen-Antiteilchen-Kollisionen der jüngeren Zeit.
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn ich fühlte mich plötzlich wie eine Besucherin am Tag der offenen Tür, der man die Grundlagen der Physik beibringen muss. Mir kamen die kruden Fragen von Taxi-Christian in den Sinn. Aber war seine Skepsis gegenüber der Teilchenphysik so unbegründet? Es heißt, Wissen ist Macht. Welche Bedeutung hat dann die Erforschung der »Struktur der Materie«? Welche Relevanz hat diese Art der Forschung? Was bedeutet sie theoretisch, was praktisch? Was bedeutet sie wirtschaftlich und was politisch? Welchen Einfluss haben Entdeckungen der Teilchenphysik auf die Gesellschaft? Können sie zu Paradigmenwechseln führen? Zu technischen Revolutionen? Gar zu gesellschaftlichen Umwälzungen? Wie mächtig ist letzten Endes das teilchenphysikalische Wissen? Und wie mächtig ist man, wenn man die Weltformel kennt?
»Mit DORIS haben wir diese maximal verschiebbare Wissensgrenze leider so langsam erreicht«, beendete Dorothea ihren Vortrag.
»Die Wissenschaft fängt eigentlich erst da an interessant zu werden, wo sie offiziell aufhört«, sagte ich feierlich.
»Der Kalenderspruch des Tages, Frau Rührmann?«
Wir drehten uns überrascht um. Der Mann war Anfang dreißig und hatte ein äußerst gewinnendes Lächeln. Weiß der Himmel, woher er plötzlich gekommen war. Er hatte sich, wie offenbar am DESY üblich, einen leichten Sommerpullover leger über die Schultern geworfen. In der linken Hand hielt er eine Kanne, der weißer Dampf entstieg. Er hatte ein schön geschnittenes, leicht gebräuntes Gesicht, das auch durch eine lange Narbe auf der rechten Wange nicht an Reiz verlor. Im Gegenteil.
»Der Spruch stammt von Justus von Liebig«, belehrte ich den Mann und musterte ihn. Seine rauchgrauen Augen waren lebhaft und hatten einen ungewöhnlichen Glanz. »Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte ich.
»Ihre morgendliche Ankunft mit dem ELV hat den Flurfunk am DESY mächtig aktiviert. Alle Achtung, kein schlechter Auftritt.« Er stellte die dampfende Kanne ab, deutete entschuldigend auf seine bandagierte rechte Hand und gab mir zur Begrüßung die linke. »Ich nehme an, Sie haben den Job bekommen?«
»Es sieht so aus. Zumindest für die Probezeit.«
»Willkommen an Bord!«
»Danke«, sagte ich und spürte im Nacken den kurzen Atem von Dorothea. »Mit wem habe ich die Ehre?«
»Mein Name ist Hässler. Erik Hässler.« Er konnte gut lächeln. Überzeugender als Petra Landau. Ich fragte mich, wie oft er dieses Lächeln schon zu seinem Vorteil eingesetzt hatte. Was aber verrieten mir die feinen Schweißperlen auf seiner Stirn?
»Und was die Verschiebung der Wissensgrenzen anbetrifft«, fuhr er fort und seine Narbe flammte plötzlich rot auf, »genau da haken wir jetzt ein. Dank unserer guten alten DORIS – allen neu geplanten Beschleunigeranlagen zum Trotz.«
»Erik arbeitet in der Gruppe von Professorin Bärbel Bolz«, erläuterte Dorothea von hinten. »Er ist mit seinen Messungen maßgeblich beteiligt an der Interpretation der neuen …«, sie hielt kurz inne, »Geisterteilchen.«
Wirklich ein erstaunlich schöner Mann. Groß und kräftig und mit einer Narbe im Gesicht wie ein Blitz. Ein Glückskind, dem die Sterne vom Himmel geholt werden.
»Inzwischen sind viele auf den fahrenden Zug aufgesprungen, wie das immer so ist«, sagte Hässler ärgerlich. »Und es sind unzählige theoretische Interpretationen zur Erklärung dieser Geisterteilchen erschienen, darunter schließlich auch die Behauptung, dass ein ganz banaler Effekt nicht ausgeschlossen werden könne.«
»Wie interpretiert Dietmar Schäfer die Messungen?«, fragte ich sachlich.
Der Blitz auf Hässlers Wange rötete sich.
»Arbeiten von Schäfer hierzu sind mir nicht bekannt«, sagte er knapp.
»Das erstaunt mich. Gerade an seiner Interpretation müssten Sie doch brennend interessiert sein, heißt es doch, dass er auf diesem Gebiet eine wahre Koryphäe ist.«
Hässler blickte überlegen und amüsiert auf mich herab, aber ich ließ mich nicht beirren.
»Ferner heißt es, dass Schäfer längst ein entsprechendes Papier verfasst hat.«
»Wie gesagt, das entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Obwohl der Flurfunk ansonsten perfekt funktioniert?«
»Ich für meinen Teil bin hundertprozentig von der Richtigkeit unserer Messungen überzeugt«, wich er aus.
»Dafür legen Sie offensichtlich Ihre Hand ins Feuer.« Ich deutete auf seinen Verband.
Er ließ seine weißen Zähne aufblitzen. »Am DESY wird mit harten Bandagen gekämpft. Was nicht tötet, härtet ab.« Aber hallo. Pingpong auf höchster Ebene. Bin gespannt, wie unser Spiel ausgeht.
»Und was tötet?«, fragte ich.
Für einen Moment schien Hässler den Atem anzuhalten. »Vielleicht eine so freche Frau wie Sie?«, fragte er und bemühte sich um seinen belustigten Gesichtsausdruck von vorhin. »Liebe Kolleginnen«, sagte er dann, »Sie entschuldigen mich. Die Arbeit ruft.« Er verabschiedete sich mit einem kurzen Kopfnicken und lief, die dampfende Kanne in der Hand, Richtung Tunnelausgang.
»Der soll mal nicht über seinen Stickstoffbehälter stolpern«, bemerkte Dorothea zickig. »Nimm dich in Acht vor ihm. Der geht über Leichen.«
»Welche Position hat er am DESY?«
»Erik ist einer unserer Shootingstars.«
»Hmm.« Ich kam nicht umhin zuzugeben, dass er mir imponiert hatte.
»Er gilt als exzellenter Nachwuchswissenschaftler.«
»Hmm.« Aber warum wollte er nichts von Schäfers Analyse wissen?
»Aber wenn du mich fragst, wird er maßlos überschätzt.«
»Wie kommt er dann zu dieser hervorgehobenen Stellung?«
»Erstens wird er von Bärbel Bolz protegiert. Und Bolz ist neben Schäfer die Autorität am DESY. Na ja, und sein letzter Auftritt im Science Council war ein echter Coup.«
Schwang da eine gewisse Anerkennung mit?
»Was hat er gemacht?«
»Er hat die Messdaten des ADONIS-Experiments mit denen eines Experiments zur Dunklen Materie an Bord des Satelliten ARIADNE verglichen. Hässlers Theorie zufolge müsste ARIADNE ähnliche Prozesse vorhersagen wie diejenigen, die jetzt bei ADONIS gemessen wurden, allerdings in wesentlich schwächerer Form.« Sie hielt nachdenklich inne. »Und tatsächlich wurden unlängst solche Ergebnisse des Satellitenexperiments veröffentlicht. Viele Kollegen meinten im Nachhinein, so kurz nach der Veröffentlichung der ADONIS-Ergebnisse könnte der Hinweis auf die ARIADNE-Messungen kaum ein Zufall gewesen sein. Es heißt«, raunte Dorothea so leise, dass ich dichter an sie herantreten musste, »eine ungeprüfte Version eines Artikels zu den ARIADNE-Messungen sei bereits seit Juli online zugänglich gewesen.«
»Absichtlich?«, fragte ich ebenso leise und kam ihr so nah, dass ich den Duft ihres Haares riechen konnte.
»Wohl eher aufgrund der Fehlkonfiguration eines Servers.« Sie senkte die Stimme noch weiter. »Böse Zungen behaupten allerdings, Erik hätte seine Arbeit deshalb klammheimlich auf den spektakulären Effekt maßschneidern können.«
»Nein!«, flüsterte ich.
»Doch!«, flüsterte Dorothea.
Dann wird es höchste Zeit, Licht ins Dunkel zu bringen.
»Besuchen wir doch einfach«, sagte ich und schaltete stimmlich wieder auf Zimmerlautstärke, »das oberste Schiedsgericht des Labors, Professor Dietmar Schäfer. Fragen wir ihn, was er dazu meint!«
Flurfunk
Montag, der 10. August, 11:57 Uhr
Die Tür zu Schäfers Büro war nur angelehnt.
»Herr Professor Schäfer?«, fragte ich und äugte ins Zimmer. Es schien den dritten Satz der Thermodynamik, wonach die Entropie, also die Unordnung der Welt, beständig zunimmt, auf kongeniale Weise bestätigen zu wollen. Das Büro quoll über von Büchern, Papieren, Aktenordnern und Zeitschriften. Die Unterlagen stapelten sich bis zur Decke. Auch hier rotierte ein Ventilator, dessen lange Papierstreifen wie Blätter im Sommerwind rauschten. Unter dem Schreibtisch kniete ein Mann.
»Professor Schäfer?«
Ächzend krabbelte der Mann hervor. Gernot Schmidt. Die kleine Gymnastik hatte ihm ein zartes Rosa ins aschgraue Vogelgesicht gezaubert.
»Was machst du denn da, Gernot?«, fragte Dorothea irritiert.
»Im Prinzip wollte ich den Laptop in Betrieb nehmen«, stotterte er und deutete auf ein altes Gerät auf einem der vergilbten Papierstapel. »Aber er funktioniert nicht. Die Batterie ist kaputt.«
»Der tut es wohl schon eine ganze Weile nicht mehr, so verstaubt wie der ist«, sagte Dorothea. »Hat dich etwa Professor Schäfer darum gebeten?«
»Ja«, sagte Gernot Schmidt verlegen, »im Prinzip ja. Ich soll alle seine Laptops betriebsbereit einsammeln.«
»Wie viele hat er denn?«, fragte Dorothea.
»Im Prinzip zwei.«
Schlechte verbale Angewohnheit, das mit dem Prinzip. »Und was ist da drin?«, fragte ich und zeigte auf einen Aluminiumkoffer unter dem Tisch.
»Das ist sein Aktenkoffer.«
Gernot Schmidt klopfte sich den Staub von der Hose. »Darin deponiert Schäfer normalerweise die Unterlagen, an denen er arbeitet. In seiner Abwesenheit muss ich drauf aufpassen.«
»Wo ist denn Herr Schäfer jetzt?«, fragte ich und betrachtete den Koffer. Er sah genauso aus wie der von dem katholischen Mafioso im Zug heute Morgen.
»Ich nehme an, zu Tisch«, sagte Schmidt an mir vorbei. Er gehörte zu den Leuten, die einen nicht ansehen, wenn man mit ihnen spricht. Dabei waren Schmidts braune Augen das einzig Schöne an ihm.
»Bestellen Sie ihm bitte, dass ich ihn dringend sprechen muss«, sagte ich und wunderte mich über die Strenge in meiner Stimme.
»Sie sind nicht die Einzige, die das will«, donnerte es plötzlich hinter mir. Den Türrahmen füllte eine ältere Frau mit der Figur eines Kubus. »Wir sind uns noch nicht begegnet, nehme ich an?« Sie begutachtete mich ungeniert von oben bis unten.
»Nikola Rührmann«, stellte ich mich vor.
»Bärbel Bolz mein Name!«, dröhnte sie asthmatisch zurück.
Sie trug eine braune Jacke und Hosen von märchenhaften Dimensionen. Ihr Mund war schlaff, das Fleisch der Wangen lose und welk. Ihre Gesichtszüge, die einmal recht hübsch gewesen sein mussten, waren verfallen. Trotz der äußerlichen Makel strahlte sie ein tonnenschweres Selbstbewusstsein aus.
»Bitte entspannen Sie sich!«, röhrte sie und schaute sich in dem Büro um. »Erik hat mir berichtet, dass Schäfer etwas zu meckern hätte. Ich wollte nur wissen, woran er sich stößt, der Kollege.« Sie hob mit spitzen Fingern eins der ausgedruckten Blätter hoch und überflog flüchtig den Text. Dann entdeckte sie den glänzenden Koffer unter dem Tisch. »Gernot, bestellen Sie Ihrem Chef, dass ich ihn dringend zu sprechen wünsche.« Mit einem kreisenden Blick, der auch meinen traf und mit dem sie unwiderruflich klarstellte, dass ihr Anliegen prioritär zu behandeln war, fing sie den Raum noch einmal ein, ehe sie das Schlachtfeld so schnell, wie sie gekommen war, wieder verließ. Gernot Schmidt, Dorothea Weber und ich atmeten auf.
»Das war Bärbel Bolz.«
»Wow!«, sagte ich. Heute zum vierten Mal.
»Wir sollten nicht länger auf Schäfer warten. Kommst du mit in die Kantine?«, fragte Dorothea halbherzig und schaute auf die Uhr. »Aber natürlich nur, wenn du Lust hast«, setzte sie knapp hinzu. Eine Einladung klingt anders.
»Nein, ich werde mich ein bisschen in meinem Büro einrichten.«
»Okay, wir sehen uns später.« Und schon eilte sie davon.
»Im Prinzip würde ich dann auch gehen«, drängte auch Gernot Schmidt schüchtern zum Abschied. »Auf Wiedersehen, Frau Rührmann.«
Aufpassen, dat der sich jetzt nicht in Luft auflöst, warf Edu dazwischen. Wie es aussah, würde ich alleine essen gehen müssen.
Als ich mein Büro betrat, saß ein junges Mädchen an meinem Schreibtisch.
»Hallo!«, rief sie und sprang auf. »Sie sind sicher …«
»Nikola Rührmann. Und Sie sind …«
»Sibylle Reinold, Ihre Praktikantin. Ich war gerade dabei, den Rechner einzurichten …«
Sie war sehr jung und sah noch jünger aus. Ihre Augen, sanft und groß, waren porzellanblau und hatten Ausdruck und Tiefe. Das flachsblonde Haar, zu einem dicken Zopf geflochten, reichte bis zur Taille. Ein ganz eigener Duft umwehte sie: ein frischer Sommerduft mit einer Mischung aus Tuberose und frisch gebackenen Brötchen.
Ich hatte sofort den Eindruck, dass ich in Sibylle einen echten Kompagnon finden würde, den ersten im Labor, einen, den ich hier noch dringend gebrauchen konnte. Spontan schlug ich ihr vor, uns zu duzen, und weil keine Warnung aus den Wolken kam, ich sei zu voreilig, weihte ich sie auch gleich in meinen Sonderauftrag ein. »Aber erzähl das nicht weiter. Ist streng vertraulich!«
Unnötig drauf hinzuweisen, brummelte Edu, dat Mädchen hat Charakter. Haben wir doch gleich erkannt.
»Sonderauftrag«, wiederholte Sibylle nachdenklich. »Jetzt verstehe ich.«
»Was verstehst du?«
»Weißt du schon, wo du heute Nacht schlafen wirst?«
»Ich müsste mich noch kümmern.«
»Eben nicht«, sagte Sibylle und hielt ein Kuvert in die Höhe. »Der Forschungsdirektor bittet darum, dass du dich für diese Woche im Hotel Royal einquartierst.« Sie verdrehte vielsagend die Augen. »Fünf Sterne.«
»Wie komme ich zu dieser Vorzugsbehandlung?«
»Ab Mittwoch sind auch die Gutachter dort untergebracht. Ich nehme an, dass du flankierend helfen sollst. Außerdem«, sie ließ ihre Porzellanaugen erneut rollen, diesmal verschwörerisch, »wohnt auch Professor Schäfer während dieser Woche dort.«
Ach! »Der wohnt im Hotel?«
»Ja, ich vermute, aus dem gleichen Grund wie du.«
Alles generalstabsmäßig geplant, dachte ich. Na, mal gucken, ob am Ende auch alles generalstabsmäßig abläuft. »Okay«, grinste ich, »tun wir Hermann Mann den Gefallen. Aber bevor wir zur Arbeit schreiten, möchte ich unsere Kantine kennenlernen.«
»Dann guten Appetit«, sagte Sibylle.
»Der Spott wird dir vergehen, Helferlein. Du kommst nämlich mit. Wir machen ein Working Lunch!«