Kitabı oku: «Die Hoffnungsvollen», sayfa 6
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Als die Straßenbahn endlich kam, atmete Alex erleichtert auf. Der fette Stadtdreck und der fliegende Müll auf dem grauen Asphalt stark befahrener Straßen waren unerträglich. Es ist ein Rätsel, wie man an einer solchen Durchgangsstraße freiwillig wohnen konnte. Beim Warten hatte sie die schmutzigen Fassaden in der Innenstadt betrachtet und sich vorgestellt, wie eine dicke Wolke aus Staub und Abgasen in die Wohnung kroch und sich dann langsam auf das Mobiliar senkte, sobald man nur ein Fenster öffnete. Selbst die Kronen der wenigen Bäume wirkten, als sei ihr Chlorophyll von silbergrauer Farbe.
Bei dem Gedanken, hier wohnen zu müssen, hätte sie am liebsten den Atem angehalten, denn sie schmeckte den Staub auf der Zunge, sooft sie diese zu einer Schluckbewegung an ihren Gaumen presste. Und als sie sich in einen Park mit ausgedehnten Wiesen, alten Bäumen und frischer Luft wünschte, fiel ihr ein, dass die einstigen Salzsieder dieser Stadt, die eine der trockensten Deutschlands war, wohl deshalb den Wasserdampf über ihren Salzpfannen so geschätzt hatten. Er wusch ihnen den gelben Staub aus den Gesichtern, der Solau einhüllte, wie eine wabernde Wolke.
Auch Alex wischte sich den Schweiß von der Stirn. Um zu Svens Wohnung zu kommen, musste sie hier warten, bis die Linie 7 sie endlich mitnehmen würde.
Sven stand mit wehendem Haar und braun gebranntem Gesicht an der Straßenbahnhaltestelle, als sie ausstieg. Er wusste genau, mit welcher Bahn sie kommen würde, wenn sie ihn vierzehntägig in Solau besuchte. Er nahm sie in die Arme und Alex durchströmte ein tiefes Glücksgefühl. Sie hatte, bereits als ihre Bahn einfuhr, erkannt, dass er ungeduldig auf sie wartete. Ansonsten würde er ihr ja nicht bis zur Straßenbahnhaltestelle entgegenlaufen.
Diese Freude hatte sie vor Sven bei keinem anderen gespürt. Vorher war jede Beziehung etwas altersgemäß Notwendiges gewesen. Das Glück hatte sie stets dazuholen müssen, mit abgefahrenen Ideen für die Freizeit. Die Berührungen und die Küsse hatten zum Tête-à-Tête gehört. Man küsste sich eben, wenn man beschlossen hatte, ein Paar zu sein.
Sven hingegen löste in ihr ein bislang unbekanntes Bedürfnis nach Nähe aus. Wenn sie auf der Straße liefen, umschlangen sie sich, als könnte sie ein Luftzug zwischen ihren Körpern erkälten. Jeder Moment, den sie sich nicht berührten, rief einen unstillbaren Schmerz hervor, der sofort mit dem Tasten nach des anderen Hand gestillt werden musste. Und diesem Bedürfnis unterlagen sie, so oft und solange sie zusammen waren. Es fiel Alex schwer, sich aus Svens Umarmung zu lösen. Doch Sven kündigte ihr an, dass er vorhabe, mit ihr auf ein Konzert zu gehen und sie hätten nur wenig Zeit, sich darauf vorzubereiten.
∞
In der dicht verrauchten Studentenkneipe war das Konzert beendet, sie tranken Bier und plauderten. Sven war nur für sein Treffen mit Alex aus Bilzingsleben zurückgekehrt, wo er täglich an seiner Diplomarbeit saß. Deshalb kam Alex’ Frage erwartet: „Na, wie kommst du voran?“
Bereits als Jugendlicher hatte er an der Ausgrabung dieses altsteinzeitlichen Siedlungsplatzes teilgenommen. Unter den jahrtausendealten Kalkablagerungen einer Quelle hatten sich die Hinterlassenschaften des Homo erectus erhalten, seine Steinwerkzeuge, Knochen seiner Beutetiere und sogar menschliche Überreste, die zu den ältesten in Europa gehörten. Die Fundstelle in der ehemaligen DDR war weltberühmt, und selbst Alex hatte sich an das prachtvoll illustrierte Buch seines Grabungsleiters erinnert, als sie es in seinem Bücherregal wiederentdeckte: „Begegnungen mit dem Urmenschen“ von Dietrich Mania. Sie hatte durch die farbenfrohen Gemälde der Urzeitmenschen geblättert, und er hatte ihr erklärt, dass diese Bilder von Adelbert Dietzel stammten. Das Buch war einer der Gründe gewesen, warum er Ur- und Frühgeschichte studiert hatte.
Jetzt sah ihn Alex aus ihren im Kneipenlicht grau schimmernden Augen an und wartete auf eine Antwort, zu der er viel zu müde war. Doch er wusste, Alex nahm auch noch Anteil, nachdem sie ein Paar geworden waren. Das war bei Katharina nicht so gewesen. Schon nach dem ersten Kuss war Katharinas Interesse an seinem Studium versiegt, und sie hatten sich nur noch über Freunde und Vergnügungen unterhalten.
„Es sind Hunderte Geräte und Abschläge, die ich bearbeite“, erklärte er genervt, fast etwas schroff. Doch dann sah er, wie Alex leicht zusammenzuckte und dachte an die sanfte Neugier, die eben noch in ihren Augen geschimmert hatte und die mit seiner Antwort zersplittert war, wie eine Scheibe Glas. Ihre Anteilnahme hatte ihn immer gerührt, und er beschloss, sich zu beherrschen: „Ich kann dir nur jede Woche dasselbe erzählen“, sagte er mit sanfter Stimme. „Täglich sitze ich im Gutshaus, wo die unzähligen Kisten mit Fundmaterial lagern, und zeichne ein Artefakt nach dem anderen, suche nach Bearbeitungs- und Gebrauchsspuren, zeichne sie ein und vermesse schließlich den Stein. – Stein für Stein, das ist pure Puzzelei – diese vermaledeite Arbeit kann noch Monate dauern. Und draußen auf dem Feld strahlt die Sonne und hängen die reifen Süßkirschen an den Bäumen. Ich würde am liebsten den ganzen Tag spazieren gehen, aber dazu habe ich keine Zeit.“
Alex’ Augen strahlten wieder, und sie schaute auf seinen Mund, als könne er jetzt noch Bände über diese Steine erzählen. Dass sie ihn immer so bewundern musste. Statt Stolz auf seine Tätigkeit, fühlte er Zweifel, Zweifel an allem, was er tat. Und diese Zweifel machten ihm Lust, auf etwas zu schimpfen und er verdüsterte seine Miene und schlug missmutig mit der Hand auf den Tisch: „Wenn ich dagegen an dieses Drecknest hier denke. Jedes Mal, wenn ich aus Bilzingsleben komme, würgt es mich. Ich kann die staubigen Straßen, die immer gleichen Kneipen und die Dutzende Male besuchten Museen nicht mehr ertragen. Ich ersticke in dieser provinziellen Enge, und der dümmliche Dialekt der Leute greift mir in die Seele.“
Endlich hatte er die Beklemmung ausgesprochen, die ihn immer überfiel, wenn er, um Alex zu treffen, nach Solau reiste. Wenn er doch endlich diese Stadt hinter sich lassen könnte, diese öde dumme Stadt. Und Alex, die ihn nicht zu verstehen schien, sah ihn nur weiter an.
„Hast du schon mal was von der Marktplatzverwerfung gehört?“, fuhr er deshalb fort. „Eine tektonische Störzone, die durch die Heraushebung des Harzes verursacht wird. Du wirst es nicht glauben, aber der Harz wächst immer noch! Nur hier wächst nichts.“ Der ganze angestaute Hass sprudelte aus ihm heraus, und er spürte, wie er die Beherrschung verlor: „Ich hoffe, dass sich einst diese Spalte klaftertief öffnet, dieses Nest mit Mann und Maus verschluckt und sich dann wieder schließt, als ob nichts gewesen wäre. Und weißt du, was das Schönste daran sein wird?“, breit musste er grinsen, „Niemand wird dieses Kaff wirklich vermissen!“
Sein Zynismus brachte Alex zum Lachen. Doch dann schüttelte sie den Kopf: „Ich weiß nicht, was du hast? Die Stadt, in der man lebt, ist doch egal, wenn nur das Leben stimmt.“
Doch Sven hatte sich in Rage geredet. Er musste Alex erklären, was er so hasste, an dieser Umgebung: „Dieser Bruch läuft durch das Zentrum der Stadt, eben über den Marktplatz, und das scheint sich auf das Gemüt der Menschen auszuwirken. Die Störzone geht mitten durch die Seelen der Leute. Nirgends habe ich so kaputte Menschen erlebt, so verbitterte stumpfe Gesichter gesehen, wie in dieser sinnlosen Zusammenballung von Häusern. Ganze Straßenzüge vollkommen verfallen, schwarze, leere Fensterhöhlen, wo man hinsieht. Der schwarze Dreck von Kohleruß an allen Fassaden. Und dieselbe Trostlosigkeit spiegelt sich in den dunklen Augenhöhlen der Arbeitslosen, die hier dahinvegetieren.“
„Ist deine Sicht auf Solau nicht etwas übertrieben? Du sagst das so total und kompromisslos. Wirst du nicht ungerecht gegenüber den Menschen, die hier leben?“
‚Sie hat recht‘, dachte Sven und ihre Berührung tat ihm gut. Doch in ihm brodelte die Wut. Ja, er war ungerecht, aber er fühlte sich gefangen in diesen mickrigen Häuserzeilen, und er wollte hier nicht mehr gefangen sein. Und wann immer er sich in seinem Leben gewehrt hatte, hatte er dies mit Worten getan, und schon in der Schule hatten die Stärkeren und Älteren geschätzt, was er in seine Worte zu legen vermochte. Mit seiner Rhetorik hatte er bereits als Kind andere an sich gebunden, die ihn – den schmalen Jungen – dann schützend gegen Stärkere verteidigt hatten.
„Übertrieben? Ganz und gar nicht“, wehrte er sich gegen ihren Einspruch. „Die Chemie hat die Stadt gründlich verätzt. Noch vor zehn Jahren stiegen jeden Herbst die Nebel aus der Saale auf, sodass man nicht mal zehn Meter weit schauen konnte. Und ständig hatte man das Gefühl, stinkendes Wasser atmen zu müssen, wie ein Ertrinkender, ich werde das nie vergessen.“
Sven senkte seinen Kopf und wischte sich mit der rechten Hand über die Stirn, als litte er gerade unter den giftigen Nebeln, die er Alex beschrieben hatte. Die giftigen Nebel über der Saale.
„Sehr beeindruckend“, sagte Alex. „Waren sie grün oder blau oder vielleicht auch violett?“
Dann schüttelte sie über die Vorstellung den Kopf. „In der Kneipe hier steht nur Zigarettenrauch, den wir freiwillig atmen“, und lachte. „Das war vor zehn Jahren. Aber jetzt …“
„Jetzt? – Die Chemiepelzer sind immer noch dieselben. Nur dass sie jetzt arbeitslos sind. Da kann man sich über die bessere Wasserqualität freuen, aber die Trostlosigkeit liegt wie ein wabernder Brei über der Stadt, wie früher die giftigen Dämpfe von Leuna und Buna. … Die Stadt ist ein Orkus der Melancholie!“
Und weil er sich über Alex’ Gleichgültigkeit ärgerte, fügte er hinzu: „Sobald ich meinen Abschluss habe, ziehe ich weg.“
Verstört erwiderte sie seinen Blick: „Wegziehen?“ Sie sah ihn lange an. In Sven stiegen Bilder seiner Traumstadt auf, Straßenzüge voller Szenelokale, die abendlich im Kerzenlicht schwammen, inspiriert gekleidete junge Menschen, die die Straßen entlangflanierten, Plakate mit Konzertankündigungen, Kunst in den Kellern der Stadt … Dann brach es aus ihm heraus: „Nach Berlin!“ Und während er fühlte, wie die Begeisterung von ihm Besitz ergriff, bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie Alex zusammensank. Er griff fast flehend nach ihrer Hand auf dem Tisch, als hätte sie die Macht, ihn am Schopf aus dieser Stadt zu ziehen. ‚Nach Berlin wollte er ziehen‘, wiederholte er seinen Wunsch in Gedanken und begann Alex von seinem Traum zu erzählen: „Berlin brennt, man kann sich verlieren und verlaufen in Angeboten. Jeden Tag etwas Neues, jeden Tag etwas anderes. Raus aus der Bedrückung und Reinstürzen ins Leben!“
Er spürte wie ein Strahlen in seine Augen stieg: „Jahre hat diese Stadt gebraucht, um zusammenzuwachsen, und überall sind Nischen entstanden, die von den Leuten mit Kultur und Leben gefüllt werden. In Mitte und in Prenzelberg öffnen ständig neue Szenekneipen. Und wenn eine verschwindet, öffnet an der nächsten Ecke eine andere. Die Leute brennen vor Tatendrang. Jede Lücke, die sich auftut, wird sofort mit kreativen Ideen gefüllt, die aus dem Boden sprießen und wieder versinken, um Platz für Neues zu schaffen. Dort bleibt kein Fenster schwarz und hohl. Du kannst dir die ganze Nacht um die Ohren schlagen. Überall Konzerte, von irgendwelchen Bands, von denen man noch nie etwas gehört hat. Ausstellungen, Lesungen, Theateraufführungen, und was da an den Theatern läuft, ist einfach geil! Frank Castorf, Heiner Müller, Christoph Schlingsief und wie sie alle heißen.“
Die Metropole stand vor seinen Augen wie das glänzende Ziel seines Lebens, und er wollte Alex so gern von ihr überzeugen, doch stattdessen nahm er wahr, wie er ihr mit seiner Schwärmerei den Atem genommen hatte. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Und als müsse sie sich vor dem Aufprall einer Sinnesflut schützen, baute sie sofort eine Mauer auf: „Du suchst das pralle Leben, aber zu viel davon würde mich auffressen!“ Bei diesen Worten sah sie ihn so erschöpft an, als hätte sie sich in Berlin bereits abgestrampelt: „Die Stadt ist pure Zerstreuung. Wenn man nur auf die Straße tritt, wird man von Sinneseindrücken überflutet. Wo bleibe ich da selbst? Und wo bleibt mein Zentrum, mein Ziel? Ich will arbeiten und dazu brauche ich Konzentration und kein Chaos. Berlin ist aber das pure Chaos. Und von den Sonnenuntergängen und den Kirschbäumen in Bilzingsleben bist du dort weit entfernt. In allen Richtungen wirst du nur Steinwände mit staubigen Fenstern sehen, und als ob das nicht reicht, sind sie auch noch mit Graffiti besprüht.“
„Die Sonnenuntergänge und Kirschbäume bleiben mir ja, wenn ich auf Grabung fahre.“ Sven fühlte, wie sie ihm den Wind aus den Segeln genommen hatte. „Aber die Wochenenden kann man doch dort verbringen, wo das Leben pulsiert!“
„Aber ich müsste die ganze Woche dort verbringen und dort arbeiten, leben und schlafen.“
Bittere Enttäuschung über Alex’ Abwehr machte sich in Sven breit. Sie hatte nicht mal überlegt, ob sie mit ihm nach Berlin gehen würde. Von vornherein hatte sie diese Möglichkeit für sich ausgeschlossen. Ernüchtert trank er sein Bier aus und sagte: „Lass uns bezahlen.“
Dann verließen sie die Kneipe. Mit einer versöhnlichen Geste legte Alex ihren Arm um seine Hüfte und sein Ärger verflog augenblicklich. Sie wanderten eng umschlungen durch die grauen engen Gassen dieser einstigen Metropole der Aufklärung und heutigen Arbeiterstadt, von der die Trostlosigkeit der Armut Besitz ergriffen hatte. ‚Natürlich kann man jeder Stadt etwas abgewinnen‘, dachte er, doch seine Wahlheimat sollte man sich schon etwas bewusster aussuchen. Aber konnte man das heute überhaupt noch? Gab es nicht schon zu viele Zwänge, die einem den Wohnort diktierten? Sven war dieser Gedanken müde und am Ende der Straße zeigte sich bereits sein dreigeschossiges, unsaniertes Wohnhaus. Ein kleiner Vorteil, sah er ein, man musste nicht stundenlang U-Bahn fahren, um von der Kultur ins Heim zu kommen.
Schließlich bogen sie in den Hof ein, und Sven suchte den Schlüssel in seiner Tasche.
In dem Moment, in dem er den Schlüssel ins Schloss steckte, drehte sich Alex plötzlich erschrocken um. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich aus dem Schatten der unverputzten Wand, die den Hof vom Nachbarhof trennte, eine dunkle Gestalt löste. Verblüfft hörte er Alex’ Namen rufen.
„Jörg!“, sagte sie und blickte fassungslos die Gestalt an.
Sven fixierte den Fremden, der plötzlich vor ihm stand, und registrierte, wie der zwischen Alex und ihm hin und her sah. Er erblickte die blonden wehenden Locken, die das bleiche Gesicht umrahmten, und die so gar nicht zu der unbeherrschten Wut in seinen Zügen passten. Der andere schien zu rasen und je männlicher dieses Rasen wurde, umso mehr ekelte es ihn an. Die Knie des Blonden schlotterten im Zorn, sein Oberkörper und seine Arme zitterten. Und Sven begriff, dass sich an diesem Fremden die ganze Hilflosigkeit eines gerade eben Verlassenen zeigte, während er ihn immer noch erschrocken anstarrte, als wäre er eine Erscheinung. Alex und der Fremde kannten sich, so viel war klar, oder besser, der Fremde kannte Alex näher, als es Sven in diesem Augenblick lieb war. Sie hatte ihm gegenüber doch nie einen Freund erwähnt …
„Was machst du hier?“, fragte Alex plötzlich und Sven war froh, dass sie mit ihrer Frage das bohrende Schweigen beendete und etwas Ruhe in diese obskure Situation brachte.
„Das sollte ich eher dich fragen“, rief der Blonde zurück. „Wer ist das?“ Er durchbohrte mit dem Zeigefinger die Luft. „Und warum höre ich seit Monaten nichts von dir? Geht man so miteinander um?“ Dann japste er nach Luft. „Habt ihr was miteinander?“
Alex stand da und brachte sichtlich kein Wort heraus. Ihre Augen wanderten suchend durch den schwarzen Nachthimmel. Sie hob hilflos ihre Arme, und Sven begriff, mit dieser Geste gestand sie alles.
Plötzlich stürmte der Fremde auf ihn los. „Nimmt man einfach einem anderen die Freundin weg?“ Sven fühlte sich am Kragen gepackt und obwohl der Lockige nicht größer als er sein konnte, nämlich eher zierlich, schien er gegenüber Sven zur Übergröße anzuwachsen und ihn am Kragen in die Höhe stemmen zu wollen. Sven stieß unter seiner Gewalt heftig mit dem Rücken gegen die Tür, dann wurde er wieder fallen gelassen. Der Blonde holte mit dem rechten Arm aus und schlug ihm mit der Faust direkt ins Gesicht. Ein heller Schmerz stach in sein Kiefergelenk, und vor seinen Augen tanzten plötzlich weiße Punkte. Unwillkürlich rieb seine Hand über die schmerzende Stelle. Er öffnete seinen Mund, um den Kiefer wieder einzurenken und erst nach drei Sekunden, als sein Blick wieder klar geworden war, sah er den Blonden wieder vor sich. Er war zwei Schritte zurückgetreten und starrte Alex mit brennenden Augen an.
Zornig und ohne ein Wort wendete sich Sven zur Tür, drehte den Schlüssel um, den er bereits ins Schloss gesteckt hatte, und verschwand in seinem Haus. Die Tür fiel krachend hinter ihm zu, und er hörte, wie der Fremde laut lachte: „Dieser Feigling!“ Wütend rieb er sich das schmerzende Kinn: ‚Die sollen verschwinden! Beide! Alle beide!!‘
∞
Alex war Sven nicht gefolgt. Sie hatte auch nicht nach der Tür gegriffen, um sie offen zu halten. Entsetzt stand sie da und versuchte das Toben ihrer Gedanken in den Griff zu bekommen. ‚Was war los?‘ Es dauerte einige Sekunden, bis sie zur Besinnung kam und zu verstehen begann, was hier gerade geschehen war.
Jörg war für sie Geschichte, nur hatte sie ihm das nie gesagt. Sie hatte sich einfach nicht mehr bei ihm gemeldet und über der Fülle ihres neuen Lebens keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendet. Aber wo kam Jörg jetzt her? Wieso stand er hier auf Svens Innenhof, wo er doch seit ihrem Auszug aus dem Wohnheim nicht einmal wissen konnte, wo sie wohnte?
„Lass uns zu dir nach Hause fahren“, sagte plötzlich Jörg mit sanfter Stimme und griff nach ihrem Arm, als hätte er sie gerade aus der Uni abgeholt.
„Sag mal, spinnst du?“, schrie Alex. „Was tust du hier und wie kommst du überhaupt dazu?“
Jörg war plötzlich ruhig geworden, als wäre mit seinem Schlag in Svens Gesicht und dessen Flucht ins Haus die Entscheidung über Alexandra gefallen. Sie dachte an die Brunftkämpfe der Hirsche. Der Stärkere vertrieb mit Gewalt den Schwächeren und hatte dann das Recht, das Weibchen zu begatten. Entsetzt schüttelte sie den Kopf und entwand ihm ruckartig ihren Arm. Keine Berührung von ihm wollte sie ertragen, ja seine bloße Nähe war ihr widerlich.
Doch Jörg ließ nicht ab. Er trat einen Schritt zur Seite und wiederholte seine Bitte: „Ich erzähle dir dann alles auf dem Weg zum Bahnhof.“
„Bahnhof?“, fragte Alex und sah ihn entgeistert an. „Ich brauche jetzt eine Wanderung, um mich zu beruhigen.“
„Wohin willst du denn?“
Doch Alex antwortete nicht und setzte sich erst einmal auf einen Mauervorsprung, um sich eine Zigarette anzuzünden.
„Rauchst du jetzt?“
„Das siehst du doch!“
Langsam sog sie den grauen Nebel in ihre Lunge ein und starrte vor sich hin. Kurz überlegte sie, Jörg einfach in diesem Augenblick zu sagen, dass Schluss sei, dann bei Sven zu klingeln und mit ihm den Abend fortzusetzen, als sei nichts geschehen. Doch irgendetwas in ihrem Inneren sagte ihr, dass das nicht ging. Es wäre so verlogen, und Sven, was dachte der jetzt von ihr? Glaubte er, sie hätte die ganze Zeit noch einen Freund neben ihm gehabt? Und wieso war er einfach im Haus verschwunden, ohne sich nach ihr umzusehen oder sie aufzufordern, ihm zu folgen. Wollte er sie nicht vor Jörg beschützen? Oder gab er ihr die Schuld an diesem abendlichen Überfall?
Jörg stand immer noch vor ihr. Sich neben sie zu setzen, wagte er wohl nicht. Schweigend sah er sie an, und Alex spürte, er würde nicht zu bewegen sein, jetzt einfach zu gehen. Wenn sie jetzt nach Linden fuhren, würde er bei ihr übernachten müssen und dieser Gedanke war unerträglich. Genauso unerträglich wie die Gewissheit, dass es unmöglich war, ihn heute noch abzuschütteln. In den Zug nach Hause konnte sie ihn erst am nächsten Tag setzen.
„Lass uns eine Weile laufen. Dann reden wir“, sagte sie deshalb und stand auf. Schweigend liefen sie ein halbe Stunde durch die Straßen.
„Wohin willst du?“
‚Lass mich in Ruhe‘, dachte Alex, doch es gab einiges zu sagen und es war schwer einen Anfang zu finden.
„Am besten, wir laufen nach Linden“, sagte sie plötzlich ohne nachzudenken.
„Laufen?“ Erstaunt sah er sie von der Seite an: „Das sind 45 Kilometer, da brauchen wir ja die ganze Nacht!“
„Warum nicht?“, fragte sie nun fröhlicher. Sie hatte die Lösung gefunden. Wenn sie schon die Nacht mit ihm verbringen musste, dann doch bitte auf der Straße und nicht im Zug oder gar in ihrem Zimmer. Und sie ergänzte: „Das ist ein reichlicher Marathon, den werden wir wohl schaffen. – Traust du dir keinen Marathon zu?“, lachte sie ihn aus. „Ich schaffe das, und ich laufe jetzt!“
Jörg stoppte und nahm seinen Rucksack vom Rücken, den Alex erst jetzt bemerkte.
„Da ich die Wohnung deines … dieses Kerls ja finden musste, habe ich mir einen Stadtplan gekauft.“
Das passte, zum ersten Mal an diesem Abend machte ihr Jörg eine Freude. Sie studierten den Plan und suchten den Weg aus der Stadt zu einer Landstraße nach Linden. Neben der Autobahn zu laufen, hatten sie sofort verworfen. Zu hässlich, zu viele Autos und zu gefährlich. Und Alex wunderte sich über die Normalität ihres gemeinsamen Suchens nach dem richtigen Weg. Sie verhielten sich in diesem Moment wie ein altes Ehepaar, das sich mit wenigen Worten verstand. Dann gingen sie los.
Erst als sie nach anderthalb Stunden aus der Stadt herausgefunden hatten und nun auf der Landstraße liefen, beruhigte sich Alex langsam. Sie genoss die laue Luft der warmen Sommernacht. Nur sehr selten hörten sie ein Auto, das später an ihnen vorbeifuhr. Meist war es still und in den Häusern, die sie passierten, waren die Fenster dunkel. Die Seiten der Landstraße waren mit Obstbäumen bepflanzt, die krumm und alt, dem Asphalt eine Ahnung von einer Allee verliehen. Die Äpfel an ihnen waren noch nicht reif. Dann kamen Süßkirschen. Alex blieb unwillkürlich stehen und ein Lächeln durchflog ihr Inneres. Sie musste an die blühenden Wiesen und an die übervollen Süßkirschenbäume denken, von denen Sven erzählt hatte. Sie zupfte eine Frucht und steckte sie sich in den Mund. Doch als sie zwischen ihren Zähnen zerknackte, durchmischte Straßenstaub den süßen Saft.
Plötzlich erreichte sie ein weiterer Lichtkegel. Und dann bremste neben ihnen ein Auto. Jörg blieb stehen, während Alex keine Lust verspürte, sich nach dem Wagen umzudrehen.
„Warte mal“, fasste Jörg sie am Arm. Alexandra drehte ihren Arm aus seiner Hand, stöhnte und drehte sich widerwillig um. Der Autofahrer war ausgestiegen und winkte ihnen zu. „Wollt ihr mitfahren?“
„Nein!“, rief sie sofort. Erstaunt hörte sie ihre eigene abweisende Stimme.
„Wirklich nicht? Wohin wollt ihr denn?“
„Nach Linden!“, rief nun Jörg.
„Dann fahrt mit, ich bringe euch 15 Kilometer weiter.“
„Nein danke!“, erklärte nun Alex etwas freundlicher, legte aber Bestimmtheit in ihre Worte. „Wir wollen laufen!“
„Wollen wir nicht doch mitfahren?“ Jörg sah sie bittend an.
Erneut spürte sie den Widerwillen bei seinem Anblick und Ungeduld machte sich in ihr breit.
„Fahr doch, wenn du willst. Ich laufe.“
„Ihr braucht Stunden nach Linden“, versuchte der Autofahrer sie noch einmal zu überzeugen.
Doch nun schüttelte auch Jörg den Kopf. Er bedankte sich höflich und der Autofahrer stieg wieder ein. Langsam fuhr er an ihnen vorbei, als wolle er ihnen Zeit geben, es sich noch einmal zu überlegen. Aber Alex wendete ihren Blick ab. Sie würde heute in kein fremdes Auto steigen. Ihr lag alles andere im Sinn, als zügig ans Ziel zu kommen. Sie wollte einfach nur gehen, in der Sommernacht, bis sie ihre Beine und ihr Herz nicht mehr spürte, und dann wollte sie völlig erschöpft, aber allein in ihrem Zimmer, den nächsten Tag verschlafen.
Schweigend liefen sie weiter, Stunde um Stunde verging, ohne dass sie ein Wort miteinander sprachen. Alex bemerkte, dass auch Jörg begann, die Monotonie ihrer Schritte zu genießen. Weder sie hatte ein Bedürfnis mit ihm zu reden, noch schien er Bedarf an einer Unterhaltung zu haben. Oder fürchtete er sich davor? Alex war es gleichgültig.
Dann dämmerte es, und als sie Jörg auf das Licht am Horizont aufmerksam machen wollte, zeigte er plötzlich begeistert auf ein gelbes Schild, das er vor einem völlig verfallenen und von hohem Gebüsch umwucherten Industriegebäude entdeckt hatte.
Begeistert rief er den Namen von Alex’ neuer Heimatstadt: „Wir haben es geschafft!“
Er tanzte auf der Straße und wollte fröhlich nach ihren Händen greifen. Doch sie wendete sich ab.
„Dann lass uns jetzt endlich reden“, sagte sie stattdessen in trockenem Ton.
„Reden? Jetzt? Das wird höchste Zeit! Ich dachte schon, du willst heute gar nichts mehr sagen.“
‚Der Tag hat ja gerade erst angefangen‘, kam es ihr in den Sinn, aber das zu sagen, hätte ihren Gefühlen völlig widersprochen. Das Laufen hatte Alex in eine Art wohlig-meditative Stimmung versetzt. Alles schien ihr jetzt machbar. Auch die Diskussion, die ihr bevorstand und sie hoffte, die Monotonie in ihr würde die Gefühle auch bei Jörg klären. Sie fürchtete die Heftigkeit seines Ausbruches. Ihre Stimme war weder freundlich, noch kühl, sie war einfach nur müde, als sie Jörg fragte: „Wie hast du Svens Wohnung gefunden?“
„Tja, das hättest du nicht erwartet, oder?“, sagte Jörg sichtlich stolz auf seine Leistung und lebte auf.
„Nachdem du dich nicht mehr bei mir gemeldet hast, wollte ich dich suchen und zur Rede stellen. Deine Eltern haben mir deine Adresse gegeben.“
Alex ärgerte sich, aber was konnten schon ihre Eltern wissen, bei denen sie sich auch seit Wochen nicht gemeldet hatte?
„Und dann?“
„Bei dir hat ein blonder Bursche die Tür aufgemacht. Manne hieß der, und er hat mir dann erzählt, dass du in Solau bist und das dein Freund Sven heißt und Ur- und Frühgeschichte studiert. Wir haben in eurer Küche gesessen und uns gut unterhalten. Aber wo Sven wohnt, konnte er mir auch nicht sagen.“
Wieder ärgerte sich Alex. Er hatte in ihrer Küche gesessen und womöglich in ihr Zimmer geschaut, ohne ihre Einladung. Einfach nur mit der Erwähnung ihres Namens hatte sich ihm die Tür aufgetan. Gern hätte sie nachträglich diesen Zugang zu ihrer Privatsphäre vor ihm verschlossen, aber das ging natürlich nicht. Unwillig wendete sie ihr Gesicht ab. Und Jörg erzählte weiter, ohne an Begeisterung zu verlieren.
„Ich bin dann zur Telefonzelle gegangen, habe mir von der Auskunft die Telefonnummer des Instituts für Ur- und Frühgeschichte geben lassen und habe dort angerufen.“
Was wagte der sich eigentlich? Ihre Schultern wanderten nach hinten und sie richtete ihren Kopf auf. Doch dann biss sie sich auf die Lippen. Sie wollte nichts sagen und schwieg.
„Am Institut war es einfacher, als ich gedacht hatte. Ich sagte der Sekretärin, dass ich Journalist sei und mit Sven dringend über eine Grabung sprechen müsse, um noch einige notwendige Informationen für einen Artikel zu bekommen, und sie gab mir dann Svens Adresse. Ich fuhr also nach Solau und habe im Hof von Svens Haus auf euch gewartet. Alles Weitere weißt du ja.“
Zornig kaute sie auf ihren Lippen. Keine Regung wollte sie ihm schenken, keine wütende und erst recht keine bewundernde. Die Fragen, die sich ihr aufdrängten, verkniff sie sich. ‚Woher kannte Jörg so gut die Gepflogenheiten in der Ur- und Frühgeschichte? Wie konnte er so einfach die Sekretärin überzeugen, Svens Adresse herauszugeben?‘
Aber dann fiel ihr ein, dass er ja früher Philosophie studiert hatte, bevor er das Studium geschmissen hatte und einer Frau hinterher gezogen war, um bei Diamant als Fahrradmechaniker zu arbeiten. Er und sein rechthaberischer Ökotick, dachte sie. Ein abgebrochenes Studium hatte er vorzuweisen und die Cleverness, sich über Ahnungslose ungefragt in ihr Leben einzuschleichen. Wie leicht es ihm gefallen war, in ihre Wohnung zu gelangen und sie dann in einer anderen Stadt bei Sven, den er noch nie gesehen hatte, aufzuspüren. Das machte ihr Angst. Aber dann fragte sie sich, ob sie nicht selbst schuld daran war. Warum war sie so leichtfertig mit seinen Gefühlen umgegangen und hatte ihm nicht geschrieben, dass sie die Beziehung beenden wollte? Er hatte schon recht, sauer auf sie zu sein.
Aber hätte nicht auch er den ersten Schritt tun können und ihr schreiben? Dann hätte sie ihm sicherlich geantwortet und sich von ihm getrennt, wie es sich gehörte. Sie kannte Jörg nicht gut, aber sie ahnte, dass sein Stolz ihn daran gehindert hatte. Immer war sie seiner Gunst hinterhergelaufen, und vielleicht hatte er seine eigene Gunst ihr gegenüber erst entdeckt, als sie im Nichts verschwand. Und sie wusste, die Eigenliebe Jörgs musste ihn dazu bringen, nicht einfach flehende Briefe zu schreiben, sondern mit einem lauten Knall vor ihr aufzutauchen. Und das war ihm gelungen. Sie wollte sein Engelshaar nicht ansehen, sie wollte, dass er endlich geht, also musste sie es jetzt sagen.
„Du hast mich beeindruckt“, fing sie an, ohne auch nur den Kopf zu ihm zu wenden. Still lief sie weiter. Dann atmete sie noch einmal tief ein, sah aus den Augenwinkeln das grüne Gestrüpp, das jetzt in weißem Morgenlicht glänzte, und entdeckte den Wendepunkt einer Straßenbahn.
„Dort ist eine Haltestelle. Ich steige jetzt in die Straßenbahn und du gehst weiter und fährst noch heute zurück. Ich betrachte unsere Beziehung als beendet.“
Jörg blieb mitten auf der leeren Straße stehen und starrte sie an. Alex konnte nicht umhin, sich zu ihm umzuwenden und ihm nun direkt ins Gesicht zu schauen. Seine schlanke Gestalt schlotterte wieder, aber nun bei vollem Tageslicht. Er tat ihr plötzlich unsagbar leid. Dann verzog er sein Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen: „Wir werden uns nicht mehr wiedersehen“, sagte er hart und ging davon.