Kitabı oku: «Morgen ist alles besser», sayfa 2
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ETWAS ERFREULICHES: Im Vorzimmer riecht es nach Sauerkraut. Mittags gibt es also Bratwurst und Sauerkraut. Wenn man Kummer hat, soll man Lieblingsspeisen essen. Und Toni hat sehr großen Kummer.
Der Friedl wird sich ärgern, weil das ganze Vorzimmer nach Sauerkraut riecht. Fekete hat natürlich wieder die Küchentür offen gelassen. Seit zwanzig Jahren ärgert sich der Friedl darüber. Und seit zwanzig Jahren ist der Fekete zerknirscht, wenn man ihm die offene Küchentür vorhält.
Der Fekete ist schon viel länger im Haus als die Toni, früher war er der Offiziersbursch vom Herrn Rittmeister, früher, in jenen sagenhaften Zeiten, als die Hubers vornehm waren und noch sehr viel Geld hatten. Vornehm sind sie geblieben, das Geld ist weg, nur der Fekete ist noch da. Der Fekete ist – ja, wie soll man die Tätigkeit vom Fekete Pista beschreiben, der früher einmal der Pfeifendeckel vom Herrn Rittmeister war? Jetzt ist der Herr Rittmeister ein Herr Rittmeister in Pension und ein sehr untergeordneter Beamter in einer Versicherungsgesellschaft. Der Fekete Pista hat den Herrn Rittmeister nicht verlassen wollen, der Offiziersbursch ist bei Hubers »Mädchen für alles« geworden, er räumt auf und serviert, er bügelt die Anzüge vom Herrn Rittmeister und geht auf den Markt einkaufen, er ist »das Personal« von Hubers.
»Fekete, wie ist heute die Laune des Herrn Rittmeisters?«, fragt die Toni.
Sie setzt sich auf den abgewetzten Küchenstuhl, eingehüllt in eine Duftwolke von Sauerkraut. Beim Herd steht die Anna, die Tochter der Hausbesorgerin, und kocht. Seit vielen Jahren kocht die Anna mittags für Hubers, weil der Fekete doch nicht alles machen kann, sie hält auch Tonis Sachen in Ordnung. Man sagt ihr »Fräulein Anna«, weil sie doch die Tochter von der Hausbesorgerin ist. Fräulein Anna kocht, sie macht dabei ein bitterböses Gesicht und spricht kein Wort. Sie kann nämlich den Fekete nicht leiden, und der Fekete sie auch nicht. Der Herr Rittmeister behauptet, das sei »ein Glück«, und der umgekehrte Fall würde den Haushalt nur schwieriger gestalten.
Verbissen kocht das Fräulein Anna, und der Fekete steht vor dem Küchentisch und säbelt Riesenscheiben vom Brotlaib herunter.
»Fekete, es ist sehr wichtig. Wie ist der Herr Rittmeister heute gelaunt?«, fragt die Toni.
»Bitte schön, Herr Rittmeister ist gut gelaunt, ist nach Hause gekommen und hat Radio aufgedreht«, meldet der Fekete. Der Fekete ist ein Ungar, der Herr Rittmeister hat bei den Husaren gedient und – »irgendwo auf der Puszta hat er sich den Fekete zusammengefangen«, behauptet die Toni. Fekete hat einen aufgedrehten, ganz unmodernen Schnurrbart, den er sich kohlrabenschwarz färbt. So ein schwarzer Schnurrbart! Er hat ein rundes, gutmütiges Bauerngesicht und vergisst meistens, sich die Haare schneiden zu lassen. Dafür werden die Haare täglich mit Pomade bearbeitet. Das ist sehr elegant, meint der Fekete, und Toni findet, dass der Fekete ein sehr fescher Mann ist.
»Fekete, ich habe Unannehmlichkeiten«, sagt Toni düster. »Schneide doch nicht so dicke Brotscheiben, Fekete, dünne Brotscheiben sind viel vornehmer! Weißt du, die Mikula ist eine gemeine Person, die Mikula – lass mich ausreden, Fekete –, diese Mikula, diese Person, also, sprich schon, Fekete, was willst du sagen?«
»Gnädiges Fräulein hat Unannehmlichkeiten«, beginnt der Fekete umständlich. Seit Tonis sechzehntem Geburtstag sagt er gnädiges Fräulein zu ihr. »Gnädiges Fräulein darf sich von der Dame Mikula nichts gefallen lassen, gnädiges Fräulein ist Tochter von Herrn Rittmeister, und gnädiges Fräulein soll zur Dame Mikula einfach sagen –«
»Lass doch, Fekete«, sagt Toni unwillig und steht auf. »Kann das Mittagessen nicht endlich beginnen?«
Nachdem Toni die Küche verlassen hat, stellt der Fekete fest: »Fräulein Anna, unser gnädiges Fräulein ist schon eine Dame geworden. Denn unser gnädiges Fräulein ist nervös und hat Launen.«
»Was Neues?«, fragt der Rittmeister Huber bei Tisch seine Tochter.
»Danke, ja. Nach dem Essen sag ich dir alles«, kommt die Antwort. »Hast du Ärger im Büro gehabt, Friedl?«
Friedl hat immer Ärger im Büro. Aber der Ärger vergeht zu Hause, wenn er den Rock ablegt und die alte Offiziersbluse anzieht, die lichte, saloppe Sommerbluse mit dem blauen Uniformkragen und den drei goldenen Sternen.
»Anton, warum steht eigentlich seit Tagen dieser scheußliche Kaktus auf dem Esstisch?«
Der Herr Rittmeister nennt seine Tochter Anton, weil er sich immer einen Sohn gewünscht hat. Einen Sohn, der mit der Zeit ein guter Kamerad wird. Und weil der Herr Rittmeister keinen Sohn hat, sondern nur eine Tochter, und weil diese Tochter von einem Rittmeister und einem Offiziersburschen erzogen wurde und ein richtiger guter Kamerad geworden ist, mit dem man alle Männerangelegenheiten besprechen kann, nennt der Herr Rittmeister das Mädchen »Anton«. Erst war es nur Spaß, jetzt ist es eine Gewohnheit.
»Friedl, du hast neulich gesagt, auf einen hübsch aufgedeckten Tisch gehört etwas Grünes. Der Fekete soll aber nicht immer frische Blumen kaufen, das kostet doch im Winter viel Geld. Deshalb haben wir den Kaktus angeschafft. Der hält sich. Er ist nicht schön, aber man kann ihn immer verwenden.«
»Anton, dir fehlt jeder Sinn für häuslichen Charme«, stellt Friedl betrübt fest. »Da hast du deine Zigarette.«
Nach dem Essen bekommt Toni immer eine Zigarette vom Vater. Damit sie nicht heimlich raucht, erklärt der Rittmeister seine Erziehungsmethode.
»Ich möchte mit dir in dein Zimmer gehen, ich muss mit dir reden. Ernst reden«, beginnt Toni.
Sie begleitet Friedl in sein Schlafzimmer. Friedl wirft sich nach dem Essen immer für eine halbe Stunde auf den Diwan. Es ist eine geheiligte halbe Stunde. Jetzt zieht die Toni einen Sessel zum Diwan.
»Also, was gibt’s, Anton?«, fragt Friedl und ist auf den Ankauf eines neuen Pullovers gefasst. Es handelt sich aber nicht um einen neuen Pullover. Toni beginnt nämlich: »Vater, ich muss dir etwas sagen.« Und da spürt Friedl gleich, dass es um wichtige Dinge geht. Wenn Toni »Vater« sagt, statt »Friedl«, dann will sie entscheidende Dinge besprechen und appelliert an seine väterliche Würde. Dann braucht sie keinen Kameraden, dann sucht sie den Vater, der voll Autorität über ihr steht, der alles besser weiß als sie und alle komplizierten Fragen ihres kleinen Lebens lösen kann. Der Vater richtet sich halb auf, stützt sich auf den Ellbogen und sieht ihr ins Gesicht.
»Ist in der Schule etwas nicht in Ordnung, Anton?«
»Etwas? Gar nichts ist in Ordnung! Du sollst – du musst zur Mikula gehen.«
»Wer ist die Mikula?«
»Die Lateinprofessorin. Du warst schon einmal bei ihr, aber du hast damals nicht mit ihr gesprochen. Voriges Jahr warst du in ihrer Sprechstunde, aber wie du sie nur gesehen hast, bist du gleich wieder weggegangen. Erinnerst du dich an diese Hässliche im Lüstermantel, sie sehe so ungewaschen aus, sagtest du damals, und du hättest einen Widerwillen gegen hässliche Frauen und könntest zu einer unappetitlichen Frau mit bösem Blick nicht freundlich sein. Und zur Mikula musst du eigentlich sehr freundlich sein, ich hab sie in Latein und sie ist Klassenvorstand.«
»Anton, du darfst nicht durchfallen, du musst maturieren. Sonst wirst du nach der Schule niemals eine halbwegs mögliche Stellung bekommen. Zum Donnerwetter, der dümmste Kerl wird Einjährig-Freiwilliger, weil er Matura hat. Und du sollst nicht maturieren? Du bist sicherlich sehr faul, Anton.«
»Nein, Vater, ich glaube, ich bin dumm. Ich bin geistig unter dem Durchschnitt.«
»Meine Tochter ist nicht geistig unter dem Durchschnitt, meine Tochter kann faul sein, aber nicht dumm. Also was ist los?«
»In Latein komm ich nicht mit, weil ich früher nie Latein gelernt hab. Ich hab die Aufgaben immer von der Raftl abgeschrieben und die Schularbeiten auch. Ich kann keine Grammatik, ich hab sie nie gelernt. Früher haben wir doch den alten Professor Müller in Latein gehabt, da konnte man sich so schön durchschwindeln. Und jetzt, seit uns die Mikula so malträtiert, weiß ich nicht, Vater, was ich machen soll …«
Große Tränen in Tonis Augen. »Anton, mach keine Szenen, erwachsene Menschen weinen nicht. Und schon gar nicht, wenn sie nicht allein sind. In welchem Gegenstand geht es dir noch schlecht?«
»In Mathematik. Aber da kann ich nichts dafür, Mathematik verstehe ich nicht. Vater, ich kann mir unter einer Hyperbel nichts vorstellen und unter einem Sinus und einem Kosinus auch nichts. Ich kann nur Sachen begreifen, die ich mir vorstellen kann.«
»Es ist ein Skandal«, murmelt Friedl und kann sich unter Sinus und Kosinus auch nichts vorstellen.
»Gib mir noch eine Zigarette, Friedl, dann sag ich dir alles«, flüstert Toni. Sie brennt die Zigarette an und beginnt mit großen Schritten auf und ab zu laufen. Toni macht Bilanz: »In Mathematik und Latein geht es in diesem Semester schief. In Geographie komm ich noch einmal dran, wir haben jetzt Nordamerika, ich werde Nordamerika büffeln, und vielleicht kann ich mich herausreißen. Aber Vater, du musst zur Mikula!«
»Wann hat sie die nächste Sprechstunde?«
»Nächsten Montag. Vormittags von elf bis zwölf.«
»Ausgeschlossen, Anton, nächsten Montag muss ich dem Direktor referieren, ich habe keine Ahnung, wann er mich rufen lässt, ich kann aus dem Büro nicht weggehen. Übernächsten Montag gehe ich zu ihr, wie heißt sie nur? – ach ja, Frau Professor Mikula –, sag dem Fekete, dass er mich übernächsten Montag daran erinnern soll. Ich werde mir Zeit nehmen.«
»Danke, Vater«, murmelt Toni.
Der Friedl hat natürlich recht, der einsame Kaktus auf dem Tisch ist eine trostlose Angelegenheit, überlegt die Toni. Ihr großer Kummer ist gar kein großer Kummer mehr, sie hört auf, an die Mikula zu denken, der Friedl wird ihr schon helfen. Auf einmal fühlt sie sich satt und zufrieden und ein bisschen müde, die richtige Nach-Tisch-Stimmung. Friedl ist eingeschlafen und Toni ist zu faul, um aus dem Zimmer zu gehen. Sie bleibt still neben ihm sitzen und geht mit ihren Gedanken spazieren.
Zuerst denkt sie noch an den Kaktus. Früher war unser Tisch viel schöner, fällt ihr dann ein. Als wir noch die vielen Silberschüsseln hatten. Schade: Wir sind keine Parvenüs. Die Meier hat einen Pelzmantel bekommen. Silbergraues Feh, geborenes Kaninchen, ein wunderschöner Pelzmantel. Neulich erzählte es Toni dem Friedl. »Ein junges Mädchen braucht keinen Pelzmantel«, sagte Friedl.
»Aber die Meier hat doch einen«, beteuerte Toni. Friedl machte sein hochmütiges Gesicht und meinte so nebenbei: »Anton, wir sind doch keine Parvenüs.«
Nein, leider sind wir keine Parvenüs, stellt Toni fest. Leider, leider. Wir sind sogar das Gegenteil von Parvenüs: Wir sind von so alter Vornehmheit, dass wir in der Nachkriegszeit unser Silber verkaufen mussten. Es ist keine Schande, Silberschüsseln zu verkaufen. Aber es ist auch keine Ehre. Es ist nur unerfreulich. Und es ist sicherlich ein herrliches Gefühl, ein richtiger, großer Parvenü zu sein.
Toni sieht Friedls Gesicht an. Mit einer wilden Zärtlichkeit studiert sie des Vaters Gesicht. Zwei bittere, hochmütige Falten gehen an den Mundwinkeln vorbei. Toni findet die Furchen sehr interessant. Ihr Friedl ist ein schöner Mann. An seinen Schläfen schimmern graue Haare, aber er sieht trotzdem nicht wie ein Vater aus. Und Toni denkt begeistert: mein père noble.
Die Raftl hat einmal zur Toni gesagt: »Ihr seid ein komisches Haus.« Sie war nämlich nachmittags bei Toni gewesen, hatte mit ihr gelernt, und abends kam Friedl nach Hause, machte vor der Raftl eine flüchtige Verbeugung und murmelte: »Küss die Hand, liebes Fräulein.« Die Raftl ist damals sehr rot geworden und verlegen. Und als ihr im Vorzimmer der Fekete in den Mantel half, der Fekete, den Friedl in einen Steireranzug gesteckt hat, ein Steireranzug ist kleidsam und praktisch, also als die Raftl den Fekete in seiner Livree sah, wurde sie noch mehr verlegen. Und am nächsten Vormittag sagte sie in einer Schulpause, dass die Hubers ein komisches Haus seien.
Vielleicht sind wir wirklich ein komisches Haus, denkt die Toni. Angestrengt versucht sie, sich an ihre Mutter zu erinnern, das geschieht öfters, aber nicht viel Erinnerung ist geblieben. Toni macht die Augen zu und versucht, ein Bild zu sehen. Die Mutter war schlank und – eine rote Jacke hatte sie, fällt der Toni ein. Mutters Gesicht – manchmal ist es ihr, als könnte sie sich ganz klar an das Gesicht erinnern, aber das kommt vielleicht daher, weil Friedl ihr viele Fotographien von der Mutter gezeigt hat. In jenen Tagen, als die kleine Toni immer beim Fekete in der Küche sitzen durfte, war die Mutter wohl krank. Der Fekete machte für Toni quietschende Schweinderln nach und zeigte ihr »Fekete – Habt acht« und »Fekete – rrrruht«. Darüber musste die dreijährige Toni so lachen.
Dann kamen ein paar Nachmittage, an denen viele fremde Leute im Speisezimmer herumsaßen. Und auch die Tante Florentine war da, ganz in Schwarz, und sie weinte und wollte die Toni küssen. Aber die Toni lief davon, weil Tante Florentine mehr mit der Nase als mit den Augen weinte, sie schnaubte und – dem Fekete gefiel sie auch nicht. Alle sagten: »Das arme, arme Kind.« Tonis Mutter war an Grippe gestorben, es war in der Nachkriegszeit, als die furchtbare Grippeepidemie in Wien wütete.
Das erste Kinderfräulein kam ins Haus. Bis zu Tonis zwölftem Lebensjahr waren Gouvernanten hier, keine hielt es länger als ein paar Monate aus, ein Bataillon von Gouvernanten kam und ging. Der Fekete ekelte alle aus dem Haus, er hetzte den Friedl gegen die Fräuleins auf, knurrte »Weibererziehung«, und Toni vertauschte die Kinderstube mit der Küche.
»Mein Kind, warum hält denn dein Vater noch immer diesen Fekete?«, hat Tante Florentine einmal gefragt. Früher musste Toni, jeden Sonntagvormittag zu Tante Florentine auf Besuch gehen. Solange man klein und wehrlos ist, kann man sich nicht genügend schützen und wird zu grässlichen Tanten auf Besuch geschleppt. »Ich verstehe das nicht«, meinte die widerliche Tante Florentine, »man kann doch nicht sein Leben lang einen Offiziersburschen halten statt einer ordentlichen Hausgehilfin.«
»Aber Tante, wir müssen doch den Fekete haben«, sagte die kleine Toni, »wegen der Schuhe und – wegen der Treue.«
Wirklich: wegen der Schuhe und wegen der Treue. Der Rittmeister hatte den Fekete nach dem Krieg von der Front mitgebracht, und der Fekete ist ein Schatz. Er putzt die Schuhe wie kein zweiter, die Schuhe blinken, er serviert stramm und tadellos, wie in der Offiziersmesse, und Tonis Mutter war mit ihm zufrieden. Der Fekete konnte bleiben. Und er blieb. Auch nach dem Umsturz, als der Rittmeister kein Rittmeister mehr war. Denn der Umsturz in der Geschichte der alten Monarchie war ein Umsturz für das ganze Leben des Rittmeisters Huber.
Die Toni beugt sich noch weiter vor und starrt dem Vater ins Gesicht. Kleine Falten sind um die Augenwinkel eingraviert. Sein Hemd ist schon lang nicht mehr neu, man sieht es am Kragen. Aber das alles macht nichts. Der Friedl ist doch ein schöner, vornehmer Mann. Die Toni kennt Friedls Geschichte ganz genau. Wenig Kinder kennen wirklich die Geschichte ihrer Eltern, aber der Friedl hat mit Toni immer wie mit einer Erwachsenen gesprochen. Nach dem Umsturz ist der Friedl in Pension gegangen, er wollte abwarten, wie sich alles entwickelt. Und er verzichtete sogar großzügig auf seine Pension. Er hatte doch sehr viel Geld, er war aus reicher Familie. Und das Geld war da, in Papieren angelegt. Aber zuerst waren die Papiere nichts mehr wert, Kriegsanleihe, es waren doch so sichere Papiere gewesen, der Staat garantierte für sie. Und dann war der Staat auch nicht mehr, der alte Staat, dem der Friedl gedient hatte, und die Papiere waren nur noch Papier.
Die Toni erinnert sich genau: Eines Morgens. machte der Fekete ein großes Geschrei, er stürzte. ins Kinderzimmer, zerrte Toni aus ihrem weißen Gitterbett und schleifte sie in Friedls Schlafzimmer. Dort stand der Friedl vor dem großen Spiegel, und der Fekete schrie immerfort »Joj mama«, denn der Herr Rittmeister war zum ersten Mal in Zivil.
Der Friedl war viele Wochen lang müd und verärgert, er rannte zu allen Freunden und ihren Bekannten, suchte eine Stellung, und mittags sagte er zum kleinen Toni-Kind: »Du, Anton, nur auf Beziehungen kommt es an, man muss Beziehungen haben, merk dir das, Anton!« Die Toni hat es sich gemerkt und der Friedl hatte Beziehungen. Gott sei Dank. Aber weil seine Beziehungen nur klein waren, langte es auch nur zu einer kleinen Stellung in einer Versicherungsanstalt.
Friedl erzählt immer von der guten alten Zeit. Die Toni stellt sich diese gute alte Zeit wie ein Märchen vor. Eine richtige Vorstellung kann sie sich nicht machen. Ihr geht es doch sehr gut, es ist ihr nie besser gegangen, sie ist sehr zufrieden. Es tut ihr nur weh, weil der Friedl so leidet. Der Friedl leidet nämlich wirklich. Unter seinem Büro. Unter den Sorgen, wie man am Ende des Monats die Telefonrechnung und das Fräulein Anna bezahlen soll. Mit dem Fekete ist es nicht so arg, der wartet schon. »Du bist um zwanzig Jahre zu spät auf die Welt gekommen«, sagt der Friedl immer zur Toni.
Und die Mikula ist um zwanzig Jahre zu früh auf die Welt gekommen, fällt der Toni in diesem Augenblick ein. Schade: Man hätte die Mikula für die nächste Generation aufheben sollen. Die Mikula ist eine Geißel Gottes, und gerade Toni hat diese Geißel erwischen müssen. »Ich werde trotzdem maturieren«, schwört sie bei sich, »justament«.
Friedl wacht auf. Er sieht sich verwirrt um. »Es ist dreiviertel drei«, sagt Toni. Der Friedl fährt zusammen. »Ach so, ach so, du bist noch da«, murmelt er verstört. Nach dem Nachmittagsschlaf ist er immer etwas verstört. »Du musst aufstehen, Friedl, Büro«, ermahnt die Toni ernsthaft.
»Zum Nachtmahl komm ich nicht«, teilt er mit, während er wieder den Zivilrock anzieht. Die Toni denkt, dass Friedl einen neuen Anzug brauchen würde. Aber ein neuer Anzug ist momentan nicht möglich. Friedl lässt nur bei einem sehr guten Schneider arbeiten und – also ist es momentan nicht möglich.
»Hoffentlich hast du einen netten Abend«, sagt Toni und lacht.
»Warum lachst du so dumm?«, fährt der Friedl auf.
»Grüß mir das Fräulein Clarisse«, grinst die Toni.
Vornehm lässige Empörung bei Friedl: eine Frechheit von Anton!
»Und du gehst bestimmt zur Mikula«, bettelt Toni. Das Gesprächsthema muss schnell gewechselt werden.
Beim »Leb wohl« fährt Friedl seiner Toni gewohnheitsgemäß in die Haare, zieht ihren Kopf etwas zurück und küsst sie auf die Wange. »Du wirst maturieren, Anton, verstanden!«, sagt er eindringlich.
»Zu Befehl, Herr Rittmeister!«, trompetet die Toni. »Und was mache ich nach der Matura, Herr Rittmeister?«
»Ja … dann wirst du – das werde ich mir noch überlegen. Oder hast du es dir schon überlegt?«
»Ich?« Tonis Gesicht verklärt sich. Ihre Stimme klingt ganz träumerisch: »Friedl, ich werde das Schönste, das es auf der Welt gibt. Ich werde ein richtiger Parvenü. Einverstanden?«
3
DER FRIEDL IST dann doch nicht zur Mikula in die Sprechstunde gegangen. Wirklich – er wollte sich Zeit nehmen, er wollte sogar den Direktor in der Versicherungsgesellschaft ersuchen, ihn übernächsten Montagvormittag auf eine Stunde zu beurlauben, er wollte mit der Mikula reden und verbindlich lächeln, er wollte seinen kleinen Kameraden herausreißen, er wollte – und dann ging es doch nicht. Er hatte keine Zeit mehr, er wurde abberufen, der oberste Chef griff ein, der alleroberste Chef aller kleinen und großen Angestellten, der Tippfräuleins und der Generaldirektoren. Der alleroberste Chef entschied, dass Rittmeister Friedl Huber keine Zeit mehr haben sollte.
Entscheidende Ereignisse beginnen so klein und nebensächlich. Das erste Anzeichen dieses unfassbaren Geschehens, das Toni niemals ganz begriffen hat, zeigte sich Donnerstagmittag. Friedl kommt nach Hause, die Küchentür ist wie immer offen, das ganze Vorzimmer riecht wieder wie ein Gasthaus. Da tobt der Friedl, er schreit so laut, wie er nicht einmal in der Kaserne geschrien hat, behauptet der Fekete. Friedls Gesicht wird dunkelrot vor Wut und sein Antlitz – furchtbar und großartig, wie bei einem jähzornigen Gott, denkt die Toni. Das Grinsen des einfältigen Fekete erstarrt vor Schreck, behutsam schließt er die Küchentür, zerknirscht und vollkommen vernichtet. Bei Tisch wagt die Toni kein Wort zu sprechen, Friedls Hände zittern, er hat sich wirklich aufgeregt. Und er regt sich doch sonst niemals wirklich auf, er hat sich längst an die Schlamperei gewöhnt.
»Abends bin ich zu Hause«, sagt Friedl zwischen Suppe und Fleisch. Toni ist sehr erstaunt: Montag und Donnerstag sind nämlich Friedls »freie Abende«, da ist er immer »besetzt«. Das hängt mit den freien Abenden zusammen. Früher gehörten diese Abende einer Frau Charlotte, jetzt gehören sie einem Fräulein Clarisse.
»Heut ist doch Donnerstag«, erinnert Toni diskret.
»Jawohl«, brüllt Friedl, er brüllt grundlos, er scheint nur auf eine Gelegenheit zum Weiterwüten gewartet zu haben. »Ich weiß, heut ist Donnerstag. Ich kann ausgehen, wann es mir passt. Verstanden? Ist es dir vielleicht nicht recht? Heut ist Donnerstag und ich werde zum Nachtmahl zu Hause sein.«
»Wir werden einen gemütlichen Abend haben«, murmelt Toni und denkt, dass der Friedl heut sehr sonderbar ist.
Nach der Mehlspeise kommt ihr eine Idee.
»Du bleibst am Donnerstag zu Hause«, beginnt sie schüchtern, »Friedl, bist du vielleicht krank?«
»Nein, ich bin nicht krank, ich kann es mir nicht leisten, krank zu werden«, fährt der Friedl auf.
Abends ist der Friedl noch viel sonderbarer. Er wollte um acht Uhr nach Hause kommen. Um viertel sieben wird die Wohnungstür dröhnend zugeschlagen: Friedl ist schon da. Im Vorzimmer rieche es gerade wie in einem Unterseeboot, behauptet Toni. Sie war zwar noch nie in einem Unterseeboot, aber nur in einem Unterseeboot kann es derart nach Fisch und Meer riechen wie im Vorzimmer. Die Küchentür ist sperrangelweit offen: Fekete kocht Seefisch zum Nachtmahl.
»Im Vorzimmer stinkt es wie immer«, sagt Friedl. Ganz leise sagt er es, müde, apathisch. Fekete erscheint im Vorzimmer: Der Krach ist fällig. Friedl schlägt keinen Krach. Wie sonderbar, dass Friedl den Seefisch ruhig stinken lässt. Er geht wortlos in sein Schlafzimmer, lässt sich aufs Sofa fallen und beginnt seine Schuhe aufzuschnüren.
»Du bist ernstlich krank«, sagt die Toni, die zu ihm ins Zimmer kommt. Keine Antwort. Das Schuhband am linken Schuh ist zu fest verknotet, ungeduldig zerrt Friedl daran, angestrengt und nervös. Da kniet Toni nieder und zieht dem Vater die Schuhe aus. »Lass doch«, murmelt Friedl, aber gleichzeitig lehnt er sich erschöpft zurück und ist froh, dass jemand anderer sich mit seinen Schuhbändern herumbalgt.
»Leg dich gleich nieder«, sagt Toni und wird sehr energisch: »Du gehst ins Bett, der Fekete kocht heißen Tee, du nimmst Aspirin und Abführmittel, du bist nämlich krank!«
Aspirin und Abführmittel. Seit Toni denken kann, gibt man ihr gleichzeitig Aspirin und Abführmittel, wenn sie sich krank fühlt. Eines von beiden hilft immer, denn Toni hat entweder Schnupfen oder verdorbenen Magen. Aber Friedl? Friedl war noch nie krank, Toni kann sich nicht erinnern, dass er krank gewesen wäre.
Etwas später, als sie mit dem Tee in sein Zimmer kommt, liegt er schon im Bett, hat die Augen geschlossen und atmet hastig.
»Mach die Augen auf, der Tee«, mahnt Toni.
»Ja, ja, der Tee, ja, ja«, flüstert Friedl, schlägt die Augen auf und starrt zur Zimmerdecke.
»Schau, Friedl, der Tee wird kalt«, bettelt Toni. Aber der Friedl starrt weiter zur Zimmerdecke empor.
»Fekete, der Herr Rittmeister gefällt mir nicht«, sagt die Toni. Sie ist in die Küche gelaufen, um mit Fekete zu beraten. Nein, Friedl gefällt ihr nicht. Toni hatte einmal ein Fräulein, das rief immer: »Das Kind gefällt mir nicht«, wenn die kleine Toni alle Symptome eines verdorbenen Magens hatte.
»Herr Rittmeister, habe ich vorige Woche gesagt, Herr Rittmeister, Schuhe müssen neue Sohlen bekommen, Sohlen sind schon schlecht. Ich habe Herrn Rittmeister gleich Meldung gemacht, aber Herr Rittmeister hat gesagt: Fekete, das hat noch Zeit, Schuhsohlen kosten sieben Schilling, wir müssen sparen. Joj mama, habe ich mir gedacht, so sehr spart der Herr Rittmeister, no – und jetzt ist er krank, es regnet, nasse Füße, hätten wir die Krawattennadel eben gelassen, was braucht man Krawattennadel mit Perle und Brillant, wenn man nasse Füße hat und –«
»Was ist mit der Krawattennadel, Fekete?« Toni ist sehr aufmerksam geworden. Der Fekete wundert sich, dass der Herr Rittmeister dem gnädigen Fräulein nichts erzählt hat. Langsam kommt es heraus: Der Herr Rittmeister hat vor längerer Zeit den Fekete ins Dorotheum geschickt, damit er dort die goldene Krawattennadel mit der rosa Perle und dem großen Brillanten versetzt. »Jo, hab ich sie versetzt«, berichtet Fekete. Und neulich habe ihn der Herr Rittmeister hingeschickt, er musste Zinsen bezahlen, damit die Krawattennadel nicht verfällt.
Toni nagt an ihrer Unterlippe, sie hat das Gefühl, dass sie weinen möchte, weil der Friedl solche Sorgen hat, weil er die Krawattennadel vom Großpapa versetzt hat, weil er ihr nichts davon sagte und ihr sogar die rosa Satinbluse kaufte, die sie so gern haben wollte. Die rosa Satinbluse. Mein Friedl, mein Friedl, denkt sie und spürt, dass die Tränen kommen, obwohl jetzt kein Grund zum Weinen ist.
Etwas später steht sie am Telefon. Sie hat den Doktor Honig angerufen, den Hausarzt. Ein süßer Name, denkt sie jedes Mal, wenn sie mit dem Doktor Honig spricht.
»Hallo, Herr Doktor, hier ist Toni, Toni Huber, Herr Doktor – bitte, kommen Sie zu uns, der Friedl – ja, ich glaub schon, dass er krank ist, er gefällt mir gar nicht –«
Sie macht eine tiefe Stimme, sie handelt selbstständig und erwachsen, es ist ein sehr ernstes Gespräch, sie ruft den Hausarzt an, das tun sonst nur die Familienoberhäupter.
Der Doktor Honig ist nicht sehr jung und nicht sehr alt, sehr unscheinbar, klein, er hat ein glatt rasiertes Gesicht und einen gold-gerahmten Zwicker auf der Nase. Er spricht leise und gütig, und es ist ganz gleichgültig, was einem der Doktor Honig sagt: Es wirkt sehr beruhigend. Friedl nennt ihn »einen Freund der Familie«, er kommt aber nur, wenn jemand krank ist. Damals, als Tonis Mutter starb, da saß er die ganze Nacht an ihrem Bett, und seitdem ist er der Freund der Familie.
Toni legt neben das Waschbecken ein sauberes Handtuch, das gehört sich so, wenn der Doktor ins Haus kommt. Die Fräuleins haben immer eines vorbereitet, wenn Toni Grippe oder Magenweh hatte und Doktor Honig gerufen wurde. Der Doktor kommt gerade aus Friedls Zimmer, jetzt beugt er sich über den Waschtisch, Toni steht neben ihm und wartet angstvoll auf seine Worte.
»Fast neununddreißig Grad«, sagt der Doktor und trocknet sich die Hände ab. »Ich hoffe, dass das Fieber bis morgen früh zurückgeht.«
Toni nickt. Die Stimme des Doktors ist beruhigend. »Eine starke Verkühlung«, spricht der Doktor weiter, sanft und liebevoll ist die Stimme, »in der Lunge ein Geräusch, nein, nichts von Bedeutung, Fräulein Toni, Sie müssen nicht so erschreckt dreinschauen, ich hoffe, wir werden die Lungenentzündung verhüten …«
Toni hat überhaupt nicht an die Möglichkeit einer Lungenentzündung gedacht. Nun spricht sie der Doktor aus, aber bei ihm klingt alles sehr tröstlich.
»Fräulein Toni, möchten Sie nicht auf jeden Fall eine Tante verständigen, dass Ihr Vater krank ist?«
Da steht Toni neben dem Doktor, sie hat die kindlich schmalen Schultern etwas zusammengezogen, sie spürt jetzt alle Verantwortung. Sie hat ganz selbstständig dem Doktor telefoniert, und zum ersten Mal sagt ihr der Doktor »Fräulein Toni«. Sie ist stolz darauf, dass sie das saubere Handtuch nicht vergessen hat, sie muss sich jetzt zusammennehmen und gar nichts vergessen.
»Eine Tante?«, fragt sie erstaunt.
Doktor Honig hat das Gefühl, dass irgendein Erwachsener herbeimüsste. Das kleine Mädel ist doch nicht erwachsen, irgendjemand muss doch die Verantwortung übernehmen und wissen, dass der Herr Rittmeister Huber schwer krank ist.
»Eine Tante – oder einen Onkel«, beharrt Doktor Honig.
»Wir haben nur eine richtige Tante, die Florentine Tante, die wollen wir nicht«, sagt der Fekete. Er steht in der offenen Badezimmertür, der Doktor hat ihn gar nicht bemerkt.
»Nein, die wollen wir nicht«, bestätigt die Toni, »und der Onkel, der Mann von der Tante Florentine, den darf man jetzt vor Friedl nicht einmal erwähnen. Sonst regt er sich auf. Er kann den Onkel Theodor nicht leiden. Mit Recht, ganz mit Recht.«
»Fräulein Toni, gestatten Sie, dass ich dem Herrn Fekete erkläre, wie man einen kalten Wickel macht«, wechselt Doktor Honig das Gesprächsthema. Feketes dummes Gesicht spannt sich in höchster Aufmerksamkeit. Jeden Satz des Doktors wiederholt er, man muss sich alles gut merken. Also: zwei Tücher, eines mit lauwarmem Wasser getränkt, um die Brust des Herrn Rittmeisters legen, das trockene Tuch darüberwickeln, mit Sicherheitsnadeln befestigen, damit nichts rutscht …
»Ich komme morgen Vormittag wieder vorbei«, verabschiedet sich der Doktor. Toni hat ihn bis zur Eingangstür begleitet. Ihr Gesicht ist ganz klein vor lauter Kummer, ihre Augen sind weit aufgerissen, als könnte sie nicht fassen, dass der Friedl krank ist, sie bemüht sich krampfhaft, höflich und erwachsen zu lächeln.
»Wie wird das Zeugnis werden, Fräulein Toni?«, fragt der Doktor noch, um etwas Gleichgültig-Liebenswürdiges zu sagen.
»Das Zeugnis? Danke, sehr schlecht, Herr Doktor. Wie lang soll der Friedl den Wickel umbehalten?«
Der Fekete wechselt die Wickel und verstreut riesige Sicherheitsnadeln in der ganzen Wohnung. Einen Vormittag lang bleibt Toni zu Hause und versucht, sich nützlich zu machen. Aber Friedl liegt mit geschlossenen Augen da, von Zeit zu Zeit stöhnt er, manchmal spricht er zusammenhangloses Zeug, einmal schreit er: »Melde gehorsamst, Herr General«, und dann flüstert er wieder: »Kaiserliche Hoheit, bitte, Kaiserliche Hoheit, ich muss gehorsamst erinnern …« Und es passt gar nicht zur Kaiserlichen Hoheit, dass der fiebernde Versicherungsbeamte, Rittmeister a. D. Friedrich Huber, Seine Kaiserliche Hoheit mit Versicherungspolizzen in Zusammenhang bringt. Im Fieber flüstert er sehr ungereimtes Zeug, aber das Leben des Rittmeisters, der von Versicherungen anderer Leute sehr mittelmäßig lebt, ist eine ungereimte Angelegenheit geworden. Manchmal schlägt Friedl die Augen auf, sein Blick gleitet an Toni vorbei und hängt ausdruckslos in der Zimmerecke. Am nächsten Vormittag sitzt Toni wieder beim Unterricht, sie kann ihrem Friedl nicht helfen. Aber sie muss immerfort an die Dunstumschläge denken, die Fekete dem Friedl machen soll, und an das Geräusch in Friedls Lunge, von dem der Doktor Honig sehr beruhigend und geradezu aufmunternd gesprochen hat.