Kitabı oku: «Morgen ist alles besser», sayfa 3
»Sie haben mir für Ihr gestriges Ausbleiben keine Entschuldigung gebracht, Huber«, bemerkt die Mikula, Klassenvorstand der Achten.
»Mein Vater ist krank«, meldet die Toni, ihre Stimme kräht triumphierend, die Mikula soll zerspringen, sie kriegt doch keine Entschuldigung, der Friedl ist krank und konnte keine schreiben.
»Ach, und da haben Sie Ihren Vater gepflegt?«, meint die Mikula und versucht, in ihre Stimme einen süßlichen Unterton von »das arme Kind« zu legen. Die Klasse horcht gespannt zu. Privatangelegenheiten sind interessanter als die unwahrscheinlich läppischen Abenteuer des Herrn Aeneas, der jede Unfallversicherungsgesellschaft durch seine konstanten Unfälle Bankrott gemacht hätte.
»Nein, ich habe ihn nicht gepflegt, ich bin zu ungeschickt dazu«, antwortet die Huber in der letzten Bank und fügt hinzu: »Ich bin nur zu Hause geblieben.« Und zum Ärger der Mikula beginnt sie laut kratzend Bleistifte zu spitzen.
Nächsten Dienstag kommt die Toni mittags nach Hause und läuft, wie immer in den letzten Tagen, gleich in Friedls Zimmer. Sonderbar: Die Tür steht weit offen. Toni schließt behutsam die Tür hinter sich, macht noch ein paar Schritte, und dann setzt sekundenlang ihr Herzschlag aus.
Das Bett ist leer.
Zurückgeschlagen die Decke, als ob Friedl eben aufgestanden wäre.
Sie geht zum Bett hin. Leer. Die Bettdecke zurückgeschlagen, die Polster zerknittert.
Da stürzt sie in die Küche. »Fekete, Fekete!«
Am Herd steht das Fräulein Anna. »Der Herr Fekete ist mitgefahren«, berichtet das Fräulein Anna und rührt weiter in einem Kochtopf.
»Das – das Bett ist leer –«, stößt Toni hervor. Sie hält noch immer die Schultasche in der Hand, schief sitzt die Pullmankappe auf den glatten Haaren. Die Anna steht am Herd und sieht nicht auf. Sie zuckt nur mit den Achseln: »Der Doktor hat vormittags gesagt, dass der Herr Rittmeister ins Spital muss. Dort hat er bessere Pflege. Dann hat der Doktor um ein Krankenauto telefoniert, und vor einer halben Stunde sind sie weggefahren.«
»Weggefahren …«, wiederholt die Toni, ohne zu verstehen. »Wo – wo ist denn jetzt der Friedl?«
»Na, im Spital. Der Herr Fekete wird bald zurück sein und dem Fräulein dann genau sagen, wo der Herr Rittmeister liegt und wann Besuchsstunde ist«, sagt die Anna und kostet mit dem Kochlöffel, ob genug Salz im Kochsalat ist. Sie kann die Toni nicht leiden, die Toni hält zum Fekete. Sie hört, dass die Toni aus der Küche geht, es sind sonderbar langsame, schleppende Schritte, und ruft ihr nach: »Das Essen ist gleich fertig!«
Die Toni kommt in ihr Zimmer, lässt die Schultasche auf den Boden fallen, zieht die Kappe vom Kopf und wirft den Mantel irgendwohin. Dann geht sie wieder in Friedls Zimmer, macht ganz leise die Tür auf, vorsichtig, damit die Tür nicht knarrt, und schließt sie behutsam hinter sich. Leise nähert sie sich dem Bett. Zieht einen Stuhl heran und setzt sich. Breite, zurückgeschlagene Decke, ganz zerknitterter Kopfpolster. Sie beugt sich vor und streichelt die Decke.
Es ist so still im Zimmer. So grauenhaft still ist es jetzt. Friedls fiebrige Atemzüge fehlen, sie fehlen entsetzlich. Das Bett ist leer, sie haben Friedl fortgetragen, hastig haben sie die Decke zurückgeschlagen, und dann haben fremde Leute ihn angefasst und weg – weggetragen haben sie ihn.
Da fällt die Toni auf die Knie, sie presst das Gesicht auf den Polster, auf den zerdrückten Friedl-Polster. Und dann muss sie in den Polster beißen, um nicht laut aufzuschreien. Sie hat auf einmal das Gefühl, dass sie ihr den Friedl nicht mehr zurückbringen werden. Nein – nein – sie werden ihn nicht wieder herbringen, Spital muss etwas Schreckliches sein, ins Spital kommt man nur, wenn man sehr krank ist, sie haben ihr den Friedl weggenommen, das Bett ist leer, lieber Gott – das Bett bleibt leer –
»Vater«, stöhnt sie in den Polster.
»Vater!«
4
»ZU BEFEHL, HERR Rittmeister – die seidene Steppdecke«, sagt der Fekete.
Toni und Fekete sind mit einem unförmigen Paket im Krankenhaus angerückt, das Paket ist unterwegs ein paar Mal aufgegangen, sie haben es so ungeschickt zugebunden, und das Papier, in das sie die große Decke eingeschlagen hatten, war viel zu klein.
Nun liegt der Friedl schon ein paar Tage im Krankenhaus, Interne Abteilung, Zimmer 17b. Ein schmales, kleines Zimmer, in dem nur zwei Betten stehen. Toni kann sich gar nicht vorstellen, wie es Friedl in einem der großen Krankensäle aushalten könnte, in dem dreißig Menschen stöhnen und schlechte Luft machen. Nein, das würde Friedl nicht ertragen. Zum Glück haben sie ihn gleich in dieses kleine Zimmer gebracht. Es ist ein Zimmer für »schwere Fälle« und »Protektionskinder«, das hat Toni schon heraus. Der Egger Josef im zweiten Bett ist ein Protektionskind, er hat es ihr selbst erzählt, er ist bei der Radiogesellschaft angestellt, und ein Direktor der Radiogesellschaft hat den Professor angerufen, den Leiter der Klinik. »Alle ›Gottsöbersten‹ sind miteinander befreundet«, sagt der Egger Josef. Nun liegt er mit seiner Gelenkentzündung im kleinen Zimmer 17b und ist Friedls Zimmerkollege.
»Ich habe mit dem Professor gesprochen, und er hat eingesehen, dass wir Ihren Vater nicht in den großen Krankensaal legen können, es würde ihn zu sehr aufregen«, hat Doktor Honig gesagt, der täglich zu Friedl auf Besuch kommt, obwohl er ihn hier nicht behandeln kann. Jetzt arbeiten ein sehr berühmter Professor, zwei Dozenten und fünf Hilfsärzte an Friedl herum. Natürlich ist Friedl auch ein Protektionskind, denkt Toni. Sonst dürfte er nicht in dem kleinen, stillen Zimmer liegen.
Sie sieht die graue, haarige Bettdecke an, die nur in ein weißes Leintuch eingeschlagen ist. Diese Decke kann sie nicht ertragen, es tut ihr geradezu körperlich weh, dass Friedls Hände auf dieser grauen Decke liegen. Deshalb hat sie beschlossen: Die rote Seidensteppdecke von zu Hause muss her. Und jetzt breitet der Fekete liebevoll die schöne Decke über Friedls Bett. Bewundernd sieht der Egger Josef herüber. Sein Name steht, auf einer kleinen Tafel, die über dem Kopfende seines Bettes angebracht ist. Jedes Bett hat so eine Namenstafel. Daher weiß Toni, dass dieser Egger Josef eben Egger Josef heißt.
»Eine prachtvolle Seidendecke«, konstatiert der Egger Josef.
Friedl konstatiert gar nichts. Er hat während der letzten Tage sehr hoch gefiebert. Es hat ihn »nur so geworfen«, erzählt der Egger Josef der Toni. Aber heute ist alles anders. Das Fieber ist gesunken. Friedl liegt ganz still da, er hat den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und – wahrscheinlich schläft er, denkt Toni. Sein Gesicht ist mager geworden. Weiß und mager. Die ersten Tage hat sich Toni über die Stoppeln in seinem Gesicht gekränkt. Ihr Friedl sollte immer schön und niemals unrasiert sein, nun werden die Stoppeln zu einem kleinen Bart, einem flaumigen, hellbraunen Bart, und Friedls Gesicht ist fremd.
Von zwei bis vier Uhr nachmittags ist Besuchsstunde im großen Spital. Toni kommt jeden Tag, sie sitzt auf der Kante von Friedls Bett, obwohl die Schwester jedes Mal energisch einen Sessel neben das Bett stellt.
Unbeweglich liegt Friedl, die Toni sitzt auf der Bettkante, sie streichelt Friedls Hand. Jetzt schleicht der Fekete sehr enttäuscht aus dem Zimmer: Der Herr Rittmeister schläft, er hat die seidene Decke nicht einmal bemerkt, und den Fekete auch nicht, nur als das Packpapier so laut raschelte, ging ein unwilliges Zucken über Friedls Gesicht. Toni bleibt allein mit den beiden Männern. Der Egger Josef bekommt selten Besuch, er sei schon seit drei Wochen hier und deshalb für seine Leute keine Sensation mehr, berichtet er.
Zuerst hat sich Toni im Krankenhaus sehr gefürchtet. Die Schwestern haben strenge Gesichter, man muss sie besonders lieb grüßen, denn Friedl ist von ihrem Wohlwollen abhängig. Und der Geruch auf den Gängen macht Toni ganz krank, dieser komische Geruch, wahrscheinlich ist der Äther oder Jodoform. Die Patienten in ihren gestreiften Mänteln – jeder bekommt im Krankenhaus so einen Mantel – schüchtern sie ein, die Patienten gehen auf den Gängen auf und ab, den gestreiften Mantel lose geschlossen, die Gesichter sind blass und unrasiert. Man kommt sich wie ein Eindringling vor, wenn man über die langen Gänge geht. Die Schwestern erwidern kaum den Gruß, zur Besuchsstunde kommen viele Leute, sie können nicht jeden grüßen. Die Ärzte sehen durch einen hindurch. Sie ist nicht mehr die Toni Huber, sondern einfach »eine Angehörige«, die Angehörige von einem Patienten auf 17b. Das Krankenhaus ist eine abgeschlossene Welt, die auf die übrige Welt verzichtet. Die Höfe im Krankenhaus sind die Plätze einer kleinen Stadt. Es gibt hier eine Apotheke, einen Friseurladen und ein Leichenbestattungsunternehmen. Der Friseur hat ein leuchtendes Schild und die Leichenbestattung eine hübsch hergerichtete Auslage mit Wachskerzen und Sargschmuck. Alles ist hier so sonderbar. Die Toni hat oft das Gefühl, als ob sie ihr den Friedl einfach geraubt hätten, jetzt gehört er nicht mehr zu ihr, jetzt gehört er zu diesen da, zu den Männern im gestreiften Mantel, zur Schwester Mathilde, die ihm die Kissen zurechtschüttelt, zum Egger Josef, der immer läutet, wenn der Friedl Durst hat und stöhnt und sich herumwirft. Der Friedl braucht sie nicht mehr.
»Heut geht es besser, ich bin so froh, heut geht es viel besser«, sagt die Toni und versucht mit dem Egger Josef ein Gespräch. Friedl schläft und hat vergessen, dass sie zu Besuch gekommen ist.
»Nicht wahr, wenn man kein Fieber mehr hat, ist man schon so gut wie gesund, Herr Egger?«
Der Egger Josef nickt. Er hat ein gutmütiges, breites Gesicht, ein rosa Gesicht, es ist voll rosaroter Stacheln, obwohl sich der Egger Josef jeden dritten Tag rasieren lässt, rotblonde Haare, und die Toni kann sich gar nicht vorstellen, wie der Egger Josef in »angezogenem Zustand« aussieht. Am besten kann ich ihn mir noch mit offenem Hemd und Lederhosen vorstellen, überlegt sie, aber in der Radiogesellschaft wird er doch nicht in Lederhosen herumlaufen. Es ist schwer, Männer im Nachthemd in eine Gesellschaftsklasse einzuordnen, wenn alle dieselben Hemden tragen müssen.
»Ich hab auch immer gehört, dass man gesund ist, wenn man kein Fieber mehr hat«, bestätigt der Egger Josef. Und unvermittelt: »Sagen Sie, Fräulein Huber, hat sich der Herr Papa den Herzfehler im Krieg geholt?«
»Aber, Herr Egger, er hat doch keinen Herzfehler, nur Lungenentzündung. Das Herz ist doch sehr stark, der Herr Assistent hat mir gestern erst gesagt, wenn einer ein starkes Herz hat, hält er durch. Auf das Herz kommt es an, hat der Herr Assistent gesagt. Und der Friedl hat nie etwas mit dem Herzen zu tun gehabt, ich weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen?«
»Dann hab ich falsch gehört«, murmelt der Herr Egger, »mir ist vorgekommen, als ob die Ärzte etwas von einem Herzfehler gesagt hätten.«
Aber die Toni hört ihm nicht zu. Sie hält die Hand vom Friedl ganz fest und spricht weiter: »Heut hat er nur noch erhöhte Temperatur, morgen wird er fieberfrei sein, dann lassen sie ihn nach Hause, bestimmt lassen sie ihn nach Hause, Gott sei Dank, ich hab solche Angst gehabt, dass er noch lang im Krankenhaus bleiben wird.«
Übrigens war das eigentlich gar nicht die Angst von der Toni. In ihr ist ein unbestimmtes, dumpfes Angstgefühl, sie kann es sich nicht recht erklären, eine würgende, scheußliche Angst, die sie nicht loslässt, in der Schule ist sie da und in der Besuchsstunde und nachts. Ja, nachts besonders. Da kann sie nicht einschlafen vor Angst. Aber jetzt verschwindet dieses Gefühl. Friedl schläft ruhig, gleichmäßig sind die Atemzüge, still liegt er, er schläft, er wird gesund, morgen ist er fieberfrei und –
»Und übermorgen nehm ich ihn mir wieder nach Hause«, sagt die Toni zum Egger Josef, und bereut gleich, dass sie es gesagt hat. Es ist vielleicht taktlos, wer weiß, wann der Egger Josef nach Hause kann, es geht ihm zwar schon besser, aber man sagt ihm noch nicht, wann er aufstehen darf.
Die Glocke im großen Saal nebenan läutet, die Besuchsstunde ist zu Ende. Gleich werden die Höfe schwarz von Menschen sein, von »Angehörigen«, die geduldig zum Ausgang trotten. Ihr Stimmengewirr dringt herauf ins Zimmer, jetzt unterhalten sie sich über ihre Kranken, sie tauschen Vermutungen aus, mein Gott, Gewisses weiß man doch nie, die Ärzte geben ungern Auskunft, die Leute sprechen und suchen den Ausgang und sind eine große Familie: die Angehörigen.
»Die Besuchszeit ist um«, ruft die Schwester, sie hat die Tür aufgerissen, und ihre Mahnung gilt Toni. Folgsam steht Toni auf, man darf hier niemanden böse machen, sie sind sonst nicht gut zum Friedl.
»Gute Besserung«, sagt sie zum Egger Josef, und in ihrer Stimme ist leiser Jubel, weil Friedl bald fieberfrei sein wird. Dann beugt sie sich über den Vater und küsst seine Stirn. Friedls Stirn ist kühl und feucht. Übermorgen wird sie mit ihm nach Hause fahren können.
»Friedl, du hast dich rasieren lassen!«, schreit Toni begeistert. Das ist am nächsten Tag, und heute ist sie mit frohem Herzen zur Besuchsstunde gekommen. Die Toni ist zum ersten Mal seit Tagen gut aufgelegt, heut ist Friedl bestimmt ganz fieberfrei, er wird bald gesund sein, er hatte gestern schon beinahe kein Fieber mehr, jetzt kommt er bald heraus aus der fremden Welt, er kommt nach Hause, Toni ist gut aufgelegt, sie reißt die Tür auf und schreit: »Nein, diese Überraschung – Friedl ist frisch rasiert!«
Der fremde, kleine Bart ist fort, jetzt sieht man erst, wie weiß und schmal Friedls Gesicht geworden, aber es ist wieder Friedls Gesicht, nicht das eines fremden, kranken Herrn mit lichtem Bart.
»Ich hab heut früh einen Spiegel verlangt – und dann natürlich darauf bestanden, dass ich rasiert werde«, sagt Friedl. Er spricht sehr langsam und so leise, dass man genau aufpassen muss, um ihn zu verstehen. Er ist noch sehr schwach, denkt Toni.
»Jetzt bist du schon fast gesund und musst wieder auf dich schauen, Friedl«, nickt sie eifrig.
Der Egger Josef im Bett gegenüber wälzt sich stöhnend herum, jede Bewegung schmerzt ihn furchtbar, aber er will alles genau sehen und hören. Welche Schmerzen man aus Neugierde erträgt, denkt Toni.
»Ich hab mich für dich rasieren lassen, Anton«, sagt Friedl.
»Für mich?« Toni lacht. »Du meinst, ich soll dem Fräulein Clarisse sagen, dass sie dich hier besuchen darf. Bis jetzt hab ich nämlich allen Leuten, die bei uns angerufen haben, verboten, herzukommen. Ich glaub, du warst sehr krank, Friedl.«
»Nein, ich hab mich nur für dich rasieren lassen. Obwohl ich sehr müd war. Ich bin überhaupt so schrecklich müd …«
Und nach einer kleinen Pause: »Anton, wenn du von hier fortgehst, sollst du mich richtig in Erinnerung behalten. So, wie ich immer war, nicht ungepflegt mit einem Stachelkinn …«
Friedl lächelt. Sein Lächeln ist anders geworden. Fern, als ob er nicht ganz bei der Sache wäre.
»Nicht wahr, heut hast du kein Fieber mehr?«, redet Toni weiter. »Der Fekete schickt Empfehlungen. Denk dir, jetzt kocht er für sich jeden Tag Knoblauchsuppe. Er sagt, dass Knoblauch für Männer mit vierzig Jahren sehr gesund ist, man verkalkt nicht so schnell. Glaubst du, dass wir beide auch Knoblauchsuppe essen sollen, damit –«
»Der Herr Rittmeister ist noch etwas schwach, man soll nicht so viel sprechen«, lässt sich der Egger Josef vernehmen. Toni unterbricht ganz erschrocken.
»Lassen Sie nur«, sagt Friedl mit seiner leisen, fernen Stimme, »ich wollte dir so viel sagen, Anton, jetzt hab ich es vergessen, es wird mir wieder einfallen – nur wegen der Erinnerung hab ich mich rasieren lassen, für dich, Anton –«
»Du sollst sicherlich nicht viel sprechen, Friedl«, ermahnt Toni, »es ist vielleicht besser, wenn ich schon fortgehe.«
»Bleib nur, Anton, bleib hier sitzen – ich bin sehr müd, ich werde wieder einschlafen, aber du bleibst hier sitzen, ja, Anton?«
Bleibt die Toni also sitzen und sieht dem Friedl zu, wie er schläft. Man hört ihn kaum atmen, es ist beinahe unheimlich, wie still er daliegt.
»Fräulein Huber«, flüstert der Egger Josef, »ich möchte Ihnen etwas sagen.«
Toni steht leise auf und setzt sich gewohnheitsmäßig auf die Bettkante. Er sollte nicht so laut flüstern, denkt sie, sonst weckt er noch den Friedl auf. »Ja, was gibt’s denn, Herr Egger?«
»Ich komm weg von hier, Fräulein Huber«, flüstert der Egger Josef.
Verständnislos blickt ihn Toni an. »Weg? Wieso weg?«
»Wenn die Besuchsstunde aus ist, werde ich in ein anderes Zimmer gebracht. Die Schwester Mathilde hat mir’s gesagt«, zischelt er und macht ein Verschwörergesicht. Denn die Schwester Mathilde hat ihm sicherlich ein Amtsgeheimnis verraten.
»Ja, aber warum denn? Ich hab mich immer für Friedl gefreut, weil er einen so netten Zimmerkameraden hat, und jetzt –«
Während Toni spricht, denkt sie aufgeregt nach. Sie bringen den Egger fort, wahrscheinlich hat sich sein Zustand stark verschlechtert, sicherlich bringen sie ihn fort, damit der Friedl nicht sieht, dass der Egger, mein Gott, der arme Herr Egger, man merkt ihm eigentlich gar nichts an, sein rosarotes, rundes Gesicht sieht doch nicht nach Sterben aus. Trotzdem: Neulich erst hat sie den Doktor Honig gefragt, was mit den Sterbenden geschieht. Es muss doch für andere Kranke entsetzlich sein, wenn ein Mensch im Nachbarbett mit dem Tod ringt. Und der Doktor Honig hat ihr erklärt, dass man sich hier sehr bemüht, Sterbende abzusondern. Sie werden in ein anderes Zimmer gebracht, zum Beispiel in ein Zweibettzimmer. Und wenn man weiß, es dauert nicht mehr lang, dann lässt man sie in dem Zimmer allein. Und jetzt, der arme Egger Josef mit der Gelenkentzündung, ob er ahnt, warum sie ihn wegbringen?
»Wissen Sie schon, wohin man Sie bringt?« Sie bemüht sich sehr, kein allzu teilnahmsvolles Gesicht zu zeigen.
»Ich glaube, in ein Zimmer, in dem noch zwei andere liegen. Eine Rippenfellentzündung soll dort sein und eine rätselhafte Lähmungserscheinung. Aber ich weiß nichts Genaues«, flüstert der Egger Josef weiter. Natürlich weiß er nichts Genaues, Gott sei Dank, denkt die Toni, sie werden ihn im neuen Zimmer allein lassen.
»Und wer kommt hierher, zum Friedl?«, will sie wissen.
»Ja das … das weiß ich nicht, ich hab vergessen, die Schwester Mathilde zu fragen«, stottert der Egger Josef. Aber jetzt flüstert er sehr eilig weiter: »Ich wollte mich nämlich von Ihnen verabschieden, Fräulein Huber, deshalb hab ich Ihnen alles gesagt.«
Die Toni ist sehr gerührt und sehr verlegen.
»Der Friedl wird sicherlich nicht mehr lang hier sein, aber ich komme Sie trotzdem bald einmal besuchen«, verspricht sie.
Jetzt wird der Egger Josef sehr gerührt und sehr verlegen, die Toni weiß gar nicht warum.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass – falls Sie nämlich einmal was brauchen, ich meine, jetzt gehen Sie ja noch in die Schule, aber nach der Schule, wenn Sie nicht wissen, was Sie anfangen sollen – es ist heut so schwer mit den Stellungen, Sie werden auch einen Posten suchen, nicht wahr? Also, da wollte ich Ihnen sagen, dass Sie mich immer in der Radiogesellschaft erreichen, in der technischen Abteilung, ich meine, wenn Sie keine Stellung finden und Sorgen haben –«
Mein Gott, warum soll ich Sorgen haben, denkt die Toni. Der Friedl wird mir schon eine Stellung verschaffen.
»Wissen Sie, ich bin dort nur ein kleiner Beamter, aber man erfährt doch allerlei in so einem Betrieb, man horcht herum, unsereiner erfährt schon, wenn sie oben im Präsidium jemanden suchen, eine Hilfskraft oder so was – Fräulein Huber, ich möchte gern wissen, wie es Ihnen gehen wird, nach der Schule, und deshalb, vergessen Sie den Pepi Egger nicht und lassen Sie sich einmal bei mir in der Radiogesellschaft anschauen, Sie brauchen nur dem Portier sagen, Sie wollen zu mir, er lässt Sie schon hinein.«
So. Dem Egger Josef ist jetzt viel leichter. Er hat sich schon den ganzen Vormittag den Kopf zerbrochen, wie er es ihr sagen soll. Und jetzt ist es doch irgendwie gegangen.
»Alles Gute, Herr Egger«, sagt die Toni und steht auf. Sie möchte ihm gern die Hand drücken, man kann doch einem Mann, den man zum letzten Mal sieht, nicht einfach »Leben Sie wohl« sagen, man müsste ihm männlich fest und treuherzig die Hand drücken. Aber das geht nicht, der Egger Josef würde sich über einen festen Händedruck nicht freuen, der Arme hat doch solche Gelenkschmerzen.
Zum Glück steckt die Schwester schon den Kopf zur Tür herein: »Besuchsstunde zu Ende!«
»Grüß Gott, lieber Herr Egger«, murmelt Toni und wendet sich schnell wieder zum Bett vom Friedl. Friedl schläft noch immer, er hat sich gar nicht gerührt, man muss sich tief über ihn neigen, um seine Atemzüge zu sehen. Etwas beschämt, weil sie so gesund ist, geht Toni leise aus dem Zimmer.
Draußen auf dem Gang geht gerade ein junger Hilfsarzt vorüber. Vor dem hat Toni weniger Angst als vor den älteren Ärzten, er ist sicherlich noch kein sehr hohes Tier, denn er grüßt sie immer höflich, wenn er ihr im Hof oder hier im Gang begegnet. Deshalb traut sie sich; sie läuft ihm nach und ruft: »Herr Doktor, bitte – Herr Doktor!« hinter ihm her.
Er bleibt stehen.
»Bitte schön, Herr Doktor, ich bin die Tochter von dem einen Herrn von Nummer 17b, vom Rittmeister Huber, und ich wollte fragen, wann ich meinen Vater nach Hause nehmen darf.«
Der junge Doktor macht Stirnfalten und sieht nachdenklich bedeutsam zu Boden: »Tja«, macht er, und dann wieder »Tja, ich meinte, tja –«
»Er hat nämlich kein Fieber mehr, Herr Doktor, und da denke ich, dass er bald von hier fortkann«, versucht ihn Toni zu beschwören.
»Bald?« Der junge Arzt blickt zum Fenster hinaus. Ganz plötzlich wendet er den Blick, er sieht Toni gerade ins Gesicht: »Ja, Fräulein, er kann bald fort von hier, ich glaube sogar, sehr bald.« Er wendet sich brüsk ab, dreht sich, ohne zu grüßen, um und geht mit schnellen Schritten den Gang zurück.
Denn der junge Doktor ist noch ein sehr junger Doktor, er ist erst kurze Zeit im Krankenhaus und kann Tonis angstvoll bettelnden Kinderblick nicht ertragen.
Langsam geht Toni über den Hof des Krankenhauses. Heut ist ein grauer Jännertag, schon die ganze Woche waren graue Tage, aber gerade jetzt, während Toni über den Hof geht, scheint eine Naht in der grauen Wolkendecke zu platzen, ein Stückchen Blau kommt zum Vorschein, zartes, sauberes Hellblau.
Und der Herr Egger muss sterben, fällt ihr ein. Sie hat noch niemals einen Menschen sterben gesehen, auch verhältnismäßig wenig über Sterben nachgedacht, die Toni ist keine große Nachdenkerin. Jetzt bringen sie ihn schon in das andere Zimmer, überlegt sie, der Arme, der Transport wird ihm wehtun. Aber es ist sehr vernünftig, es würde den Friedl bestimmt schrecklich aufregen – und nein, sterben muss einer schon allein, man darf nicht fremde Leute zwingen, zuzuschauen.
Toni geht über die Alser Straße, sie sieht an Auslagen und Leuten vorbei. Ganz mechanisch rennt sie nach Hause, sie bemerkt gar nicht, dass sie Vorübergehende anrempelt und beinahe einen Kinderwagen umstößt. Ihre Gedanken sind im Zimmer 17b.
Sonderbar, denkt sie, warum transportieren sie eigentlich den armen Egger? Friedl ist doch schon fieberfrei, ihm würde es gewiss nicht schaden, wenn man ihn von einem Zimmer ins andere trägt. Und der Egger könnte dann allein auf 17b bleiben, sie sollten ihn in Ruhe lassen. Nein, das verstehe ich wirklich nicht, überlegt sie weiter, warum lassen sie den armen Egger nicht auf 17b und –
Da überfällt es die Toni. Ein Gedanke krallt sich fest, sie kann den Gedanken nicht denken, nein, um Himmels willen, das ist nicht möglich, nein, nein, lieber Gott, nimm den Gedanken weg, ein Mann vom Zimmer 17b wird sterben, welcher Mann – zwei Männer liegen dort –. Es nützt nichts, lange Schritte zu machen, es nützt nichts, zu laufen, man kann dem Gedanken nicht davonlaufen, zwei Männer auf 17b, den Egger bringen sie fort, er hat so ein rundes, rosa Gesicht, er sieht nicht aus, als ob er bald –. Lieber Gott im Himmel, der Doktor hat doch gesagt »sehr bald«, ja, sehr bald kommt der Friedl fort, hat er gesagt, der Friedl kommt nach Hause, der Friedl kommt zu mir, es kann doch nicht anders sein, es ist der Egger, um Himmels willen, der Egger wird sterben, lieber Gott, lass es den Herrn Egger sein und nicht – und nicht –.
Toni jagt die Straße entlang. Vor einer Straßenkreuzung reißt sie ein Passant im letzten Augenblick zurück: Sie wäre sonst in ein Auto hineingerannt. »Um ein Haar wären S’ überfahren worden, Fräulein«, sagt der fremde Mann. Ja, die Toni wäre um ein Haar überfahren worden. Aber sie hätte es nicht einmal bemerkt.
Weiter hetzt sie, das dumpfe Angstgefühl der letzten Tage ist so groß geworden, dass es ihr Herz zerbricht, es kommen keine Gedanken mehr, sie sind ausgelöscht, Toni spürt nur ihr Herz, es ist ein körperlicher Schmerz in der Herzgegend, ein so namenloser Schmerz, den man nicht beschreiben kann. Und an der Kehle sitzt die Angst, Toni hat das Gefühl, sie müsste schreien, schreien vor Schmerz und Angst, so laut schreien, bis sie gar kein Bewusstsein mehr hat. Kein Gedanke mehr, nur Erkennen. Das Erkennen hat sie überfallen, man möchte schreien – und man schreit nicht auf offener Straße. Man rennt nach Hause, und im dunklen Stiegenhaus ist man endlich allein. Keine fremden Leute, die vorübergehen und einem ins Gesicht starren. Die Toni hält sich am Stiegengeländer fest, sie möchte sich am liebsten niederfallen lassen, niederfallen und sich zusammenkrümmen vor Qual, nur nichts mehr denken, nur nichts mehr spüren, nichts wissen – nichts wissen.
Aber sie klammert sich ans Geländer und ihr großer Schrei wird zu einem kleinen erschöpften Wimmern. So schleppt sie sich über die Stiegen in die Wohnung.
Und dann wird es noch ein Nachmittag wie alle anderen Nachmittage. Toni setzt sich in ihr Zimmer, an den viereckigen Tisch, der mit weißem Wachstuch bespannt ist. Als Kind malte sie mit Buntstiften Häuschen und Bäume auf die weiße Fläche, in der Volksschule leerte sie das Tintenfass auf dem Wachstuch aus, und jetzt tropft die Füllfeder darauf oder Toni malt dickbäuchige Männchen. Das macht nichts, jeden Samstag wäscht der Fekete alles fort. An diesem geliebten alten Kinderzimmertisch sitzt nun die Toni und beginnt, Mathematikaufgaben zu machen.
Abends stellt Fekete einen Teller Eierspeise mit viel Schnittlauch auf Tonis Tisch. Toni stochert in der Eierspeise herum, kaut an einem Butterbrot und hat ein Buch neben sich liegen, aus dem sie das Leben des Vergil studiert. Das Leben des Vergil gehört auch zum Unterrichtsstoff.
… im Jahre 53 v. Chr. kam Vergil nach Rom. Von Lehrern, deren Unterricht er daselbst genoss, werden der Redner Epidius und der epikureische Philosoph Siron genannt, von denen der Letztere ihn nicht nur in das Studium der Philosophie, sondern auch in das der Physik einführte …
Großer Biss vom Butterbrot. Das Buch wird zugeklappt. Toni rekapituliert: »Dreiundfünfzig vor Christi kommt er nach Rom, dort lernt er beim Epi-, na, beim Epi-«, Blick ins Buch, wieder Biss vom Butterbrot: »Epidius heißt der Mann, Epidius, E-pi-dius. Bei dem und beim Siron lernt er, bei Siron steht noch etwas dabei –« Wieder Blick ins Buch: »Epikureischer Philosoph.«
Mein Gott, hoffentlich wird sie nicht gerade daraus geprüft, denn apropos epikureischer Philosoph wird die Mikula gleich nach den Epikureern fragen und dann – Tonis Blick wird starr. Ihre Gedanken sind nicht bei der Eierspeise und auch nicht beim epikureischen Siron. Sie gibt sich einen Ruck.
… nach Beendigung seiner Studien kehrt Vergil nach Andes zurück – wieso nach Andes? Ja richtig, dort ist er ja zu Hause, also nach Andes geht er, und dort –. Jetzt liegt der Herr Egger längst im anderen Zimmer. Wer ist beim Friedl? Der Friedl darf nicht ganz allein bleiben. Vielleicht liegt ein anderer Kranker im Bett vom Herrn Egger, sicherlich sogar, der Herr Egger wird isoliert, nicht der Friedl, der arme Herr Egger –
In Andes führt Vergil ein zwischen Naturgenuss und ernste Geistesarbeit geteiltes Leben. Naturgenuss und ernste Geistesarbeit, die Mikula wird staunen, wie gut ich das kann, in Andes – Friedl ist allein. Nein, nein, Friedl, du bleibst nicht allein, ich bin dein Kamerad, ich gehöre zu dir, ich bleib auch bei dir, ich bleib immer bei dir, Friedl, wohin du auch gehst – Vergils Leben erlitt im Jahre 41 eine Störung, weil damals die Verteilung der Äcker an die Veteranen der Triumvirn erfolgte. Scheinbar haben sie dem Vergil Land weggenommen, der Vergil wird sich geärgert haben, einundvierzig vor Christi – einundvierzig –, wie spät ist es eigentlich?
Toni sieht auf die Armbanduhr: halb neun.
Sie beugt sich wieder über die Lehrbücher. Fekete kommt ins Zimmer und holt das Nachtmahlgeschirr. Toni sieht von den Büchern nicht auf. »Du kannst schlafen gehen, Fekete«, bemerkt sie, »ich gehe um neun noch weg. Ins Kino. Ich hab die Schlüssel, geh schlafen, du brauchst nicht zu warten, bis ich nach Hause komme.«
Der Fekete begreift nur langsam. »Gnädiges Fräulein geht noch weg? Jetzt gleich geht gnädiges Fräulein?«
»Ich gehe erst um neun, es ist noch Zeit«, antwortet die Toni, und der Fekete verschwindet.
Fünf Minuten vor neun klappt Toni das Buch zu. Sie holt den alten, fleckigen Mantel und nimmt die blaue Pullmankappe. Im Vorzimmer macht sie plötzlich kehrt und läuft ins Zimmer zurück. Reißt den Kasten auf und bringt einen etwas zerbeulten Hut zum Vorschein. Einen scheußlichen roten Hut. Aber immerhin: Es ist ein Hut mit einer Krempe, er sieht erwachsener aus als die Pullmankappe. Den Hut setzt sie auf, rückt ihn tief ins Gesicht, um wie eine Dame auszusehen, und denkt: Jetzt wird es Zeit sein.
Dann verlässt sie die Wohnung und geht dem Schottentor zu. Beim Schottenring-Kino bleibt sie einen Augenblick lang stehen und betrachtet die ausgestellten Kinobilder.
So. Jetzt ist es Zeit.
Sie geht schneller, ein kleines Stückchen läuft sie sogar, sie hat auf einmal wahnsinnige Angst, dass sie zu spät kommt. Aber knapp vor dem Krankenhaus in der Alser Straße verlangsamt sie ihre Schritte, geht würdig und gemessen und atmet ein paar Mal tief. Das Herz klopft ihr im Hals. Sie ist ganz außer Atem, sie muss ruhig werden und würdig, sie muss ein sicheres Auftreten bekommen. In den nächsten Minuten muss sie unbedingt ein sicheres Auftreten haben. Sonst schickt man sie fort, obwohl doch keine Zeit mehr ist.