Kitabı oku: «Morgen ist alles besser», sayfa 4
Das große Tor des Krankenhauses ist geschlossen. Eine schwarze riesige Wand. Sie rüttelt an der schweren Klinke und erschrickt über den Lärm, den ihr Rütteln verursacht. Zu. Um diese Stunde ist kein Einlass, kommen Sie zur Besuchsstunde wieder, Fräulein Huber. Die Toni knirscht mit den Zähnen, das macht sie immer, wenn sie aufgeregt nachdenkt.
Neben dem großen Tor ist eine schmale Tür. Diese Tür wird sich öffnen lassen, denkt Toni, das ist die Tür für die Ärzte, die Schwestern und die anderen Leute, die hier zu tun haben. Für die Leute, die man nicht hinauswirft.
Sie dürfen mich nicht hinauswerfen, betet Toni in ihrem Herzen. Ganz leicht drückt sie gegen die schmale Tür. Die Tür gibt nach. Toni sieht durch einen schmalen Spalt eine hell erleuchtete Portierloge.
Da reißt sie sich zusammen. Langsam, sehr sicher und selbstverständlich stößt sie die Tür weit auf.
Toni geht durch die Tür. Sie setzt ein Lächeln auf. Alles hängt von diesem Lächeln ab, es muss ein erwachsenes Lächeln werden.
Und zum ersten Mal in ihrem Leben gelingt Toni Huber das Lächeln einer Dame.
5
DER DICKE PORTIER sitzt verschlafen in seiner Loge, Toni ist schon an der Loge vorbei, plötzlich geht ein Schiebefenster auf, der Portier hat sie doch bemerkt: »Jetzt ist kein Einlass, hallo – Sie, Fräulein, was wollen Sie denn hier?«
Da dreht sich die Toni um, setzt dem Portier das Lächeln einer richtigen Dame entgegen, einer Dame, die über den Dingen steht, die vielleicht einen Schilling Trinkgeld gibt und die man nicht hinausschmeißen kann.
»Ich bin die Angehörige eines Patienten, man hat mich angerufen, ich soll sofort herkommen«, meint sie nachlässig, dabei wundert sie sich, dass der dicke Mann hinter dem Schiebefenster ihr Herz nicht klopfen hört. »Und da habe ich mir natürlich ein Auto genommen und bin gleich hergefahren.«
Das Schiebefenster bleibt noch eine Sekunde lang offen. Ein Schilling Trinkgeld? Toni hat noch nie im Leben Trinkgeld gegeben. Enttäuscht wird das Schiebefenster zugeschlagen.
Gut ist es gegangen, Toni ist durchgekommen. Auf einmal erscheint ihr der Krankenhaushof unendlich groß, er ist spärlich erleuchtet, schwarz ragen die einzelnen Gebäude in einen schwarzen Himmel, hie und da unterbricht ein sehr armseliger Lichtschimmer die Reihe der toten Fenster.
Ich werde den Eingang zur internen Abteilung nicht finden, fürchtet Toni. Klapp, klapp hallen ihre Schritte. Mein Gott, ist es hier still. Der Straßenlärm dringt gar nicht herein. Jetzt kann man mich nicht mehr wegjagen, jetzt bin ich drinnen, freiwillig gehe ich nicht fort, ich bleib beim Friedl. Die ganze Nacht bleib ich bei ihm. Sie stolpert ein paar Stufen hinauf. Zu einem Eingang, über dem eine kleine Lampe brennt: die interne Abteilung.
Totenstille im Gang. Kein Mensch zu sehen. Auf den Zehenspitzen geht Toni an den vielen Türen vorbei. Alle sind nur angelehnt. Wahrscheinlich macht eine Schwester regelmäßigen Patrouillengang und blickt in alle Krankenräume. Vorbei an der Tür zum großen Saal. Im großen Saal brennt schwaches Licht. Einer seufzt, und sein Seufzer dringt auf den leeren Gang zur Toni.
Zimmer 17b. Sonderbar: Hier ist die Tür geschlossen. Unhörbar drückt Toni die Klinke nieder. Sie hört Stimmen. Friedl ist also nicht allein. Eine Männerstimme spricht, und eine Frau antwortet. Jetzt hat sie die Tür eine Handbreit aufgemacht: An Friedls Bett sitzt der junge Doktor vom Nachmittag, er hält Friedls Hand, und neben ihm steht eine dicke Schwester, Toni hat sie noch nie gesehen. Die dicke Schwester hält ein kleines Glasinstrument in der Hand.
Die Tür knarrt. Der junge Doktor und die Schwester wenden den Kopf: In der Tür steht Toni.
Sie hat weit aufgerissene Augen wie ein Kind, das ein böser Traum aus dem Schlaf gerissen hat. Ihr Mund verzerrt sich zu einem krampfhaften Lächeln, sie will eine Entschuldigung vorbringen, man muss jetzt irgendetwas sagen, sie blickt verzweifelt auf Friedl, aber der scheint noch immer zu schlafen, er hat den Kopf zur Wand gedreht. Der junge Doktor macht ein unwilliges Gesicht, er wird sie hinauswerfen.
»Bitte, verzeihen Sie –«, beginnt sie verzweifelt. Sie stockt: Ihr Blick ist auf das zweite Bett gefallen. Eine graue Decke liegt über dem zweiten Bett. Sie haben keinen neuen Kranken hereingebracht. Sie haben Friedl isoliert. Das höfliche Lächeln auf Tonis Lippen friert ein, ihr Gesicht wird ganz starr.
»Verzeihen Sie«, stößt sie noch hervor, ihre Stimme ist tonlos. Sie senkt den Kopf und tritt langsam ins Zimmer.
»Wie sind Sie denn hereingekommen?«, fragt der Doktor mit streng dienstlicher Miene.
»Ich hab dem Portier gesagt, dass ich hergerufen wurde«, gesteht Toni, und ihr Gesicht wird kummervoll, weil sie eine Lüge bekennt. »Ich dachte, dass Sie vielleicht in schlimmen Fällen die Angehörigen verständigen. Ich meine, wenn es – wenn es ernst wird …«
»Und wer sind Sie denn?«, mischt sich die dicke Schwester ins Gespräch. Sie tritt ganz nahe an Toni heran und mustert sie von oben bis unten.
»Seine Tochter«, antwortet Toni und sieht an der Schwester vorbei zum schlafenden Friedl. »Schicken Sie mich nicht weg«, fügt sie hinzu, »bitte, werfen Sie mich nicht hinaus, ich werde ganz still sein und nicht stören, ich muss nur bei ihm sein, wir sind nämlich immer zusammen …«
Fragend sieht der junge Doktor die dicke Schwester an. »Man muss den Herrn Dozenten fragen«, erklärt die dicke Schwester und geht aus dem Zimmer. Toni zieht den Mantel aus und hängt ihn an den Fensterhaken. Den scheußlichen roten Hut stopft sie in eine Manteltasche. Dann geht sie zu Friedls Bett und setzt sich vorsichtig auf die Kante.
Unwillkürlich schiebt sie die Daumen unter die anderen Finger. Daumen halten, Daumen halten. Man soll das immer in entscheidenden Situationen machen. Jetzt fragt die dicke Schwester, wahrscheinlich die Nachtschwester, deshalb hat sie diese Pflegerin noch nie gesehen, jetzt fragt also die Dicke den Herrn Dozenten.
Der junge Doktor umfasst noch immer Friedls Handgelenk.
Die dicke Schwester kommt zurück, gleich nach ihr betritt ein hochgewachsener Herr im weißen Ärztemantel das Zimmer. Der Herr hat einen eisgrauen Schnurrbart und ein strenges graues Gesicht, er trägt eine Brille, die Gläser funkeln so, dass Toni seine Augen nicht sehen kann. Herrgott, schaut der Herr Dozent streng aus.
»Wie ist der Puls?«, fragt er und sieht über Toni hinweg. Der junge Doktor lässt Friedls Handgelenk los, steht auf und tritt zum Herrn Dozenten: »Hundertvierzig«, flüstert er, »die Herzschwäche schreitet fort. Seit Nachmittag zunehmender Kräfteverfall.« Toni hört jedes Wort. »Gegen sieben hat ihm die Schwester schwarzen Kaffee einzuflößen versucht. Er war zu. schwach, um zu schlucken. Ich wollte gerade eine Injektion machen, als –«, jetzt blickt der junge Doktor auf Toni und der Herr Dozent folgt seinem Blick.
Toni macht sich klein, sie duckt sich ganz zusammen, ihr Gesicht scheint nur aus angstvoll fragenden Augen zu bestehen.
»Ihr Vater hat einen schweren Herzfehler, es ist erstaunlich, dass er bis jetzt durchgehalten hat«, sagt der Herr Dozent.
Ja, es ist erstaunlich. Toni nickt sehr höflich. Sie hat nie gewusst, dass Friedl einen Herzfehler hat.
»Wohl eine Folge des Krieges?«, meint der Herr Dozent.
»Nein, ich glaub eher, eine Folge von nach dem Krieg, da hatte Friedl unausgesetzt Sorgen. Im Krieg war er sogar ganz gern, damals haben wir noch nicht solche Sorgen gehabt …«, erzählt sie. Die tonlose Stimme bemüht sich, ernste und geordnete Worte hervorzubringen. Toni antwortet wie ein braves Schulmädchen.
»Aha, aha, das kommt vor«, bemerkt der Herr Dozent und wendet sich wieder zum jungen Doktor. »Hören Sie zu, Herr Kollege, Sie werden dem Patienten …«
Was der Herr Kollege mit dem Patienten machen wird, kann Toni nicht verstehen. Geflüstert und lateinisch, das ist zu schwer.
Der Herr Dozent will schon wieder zur Tür hinaus, da hält ihn die Schwester zurück. »Was machen wir mit der hier?«, fragt sie.
Toni sitzt da und hat die Hände im Schoß gefaltet.
»Sie wissen, dass der Zustand Ihres Vaters sehr ernst ist?«, fragt der Herr Dozent.
Toni blickt starr vor sich hin.
»Wer hat es Ihnen mitgeteilt?«
»Ich hab es gespürt, Herr Doktor, o pardon, Herr, Herr Dozent.«
»Wissen die anderen Angehörigen des Patienten davon? Ich meine, haben wir außer Ihnen vielleicht noch einen anderen überraschenden Besuch zu erwarten?«
»Bitte schön, Herr Dozent, der Patient hat keine anderen Angehörigen. Wir beide sind unsere einzigen Angehörigen«, antwortet Toni und versucht, klar und präzise zu sprechen.
Jetzt lächelt der Herr Dozent. Sehr flüchtig nur.
»Sie werden sich ruhig und gefasst benehmen«, sagt er zu ihr. Toni nickt. »Ganz ruhig und gefasst, Herr Dozent.«
Der junge Doktor begleitet den Herrn Dozenten hinaus. Auch die Schwester verlässt das Zimmer. Toni stützt sich mit beiden Händen auf das Bett und neigt sich vor, um Friedls Gesicht zu sehen. Friedl hat sein Gesicht zur Wand gedreht, wahrscheinlich will er mit den Ärzten nichts zu tun haben, denkt Toni. Sein Atem ist unhörbar, er hat den Mund ein wenig geöffnet und lächelt im Schlaf. Toni streicht ihm die Haare glatt, dann nimmt sie seine Hand. Die Hand ist kühl und feucht.
Ich werde mich natürlich sehr ruhig benehmen, denkt Toni. Schon dir zulieb, Friedl. Schließlich hast du mir immer gesagt: Haltung, Anton, Haltung ist so wichtig. Wir zwei besitzen gar nichts mehr, Friedl, keine Silberschüsseln, keine Krawattennadel vom Großvater. Wir haben nur noch Haltung.
– ruhig und gefasst? Ich glaub nicht, dass es wirklich sehr ernst ist, das ist gar nicht möglich, Friedl ist müd und schläft, er ist sehr schwach, aber – Tonis Augen werden weit vor Entsetzen – wenn, wenn das geschieht, woran die Ärzte denken, dann, nein, das kann sie nicht ausdenken, das ist das Ende aller Dinge. Aber sie glaubt nicht daran. Wenn es geschähe, dann würde es einen Knacks geben, sicherlich, einen lauten Knacks, und sie hätte kein Herz mehr, ihr Herz könnte gar nichts mehr fühlen, aus, sie würde wahrscheinlich umfallen und nie mehr denken können.
Jetzt bewegt sich der Kranke. Er wendet ein ganz klein wenig den Kopf, nun fällt der rötliche Schimmer der Lampe auf sein Gesicht. Die Lampe steht auf dem kleinen Tischchen neben dem Bett, ein Tuch verhüllt sie, weiches, sanftes Licht ist im Raum, sehr beruhigendes Licht.
Die Augenlider in Friedls stillem Gesicht beginnen zu zittern.
»Friedl«, stößt Toni hervor, »Friedl, hörst du mich?«
Friedl versucht, die Lider zu heben. »Anton –«, formen die Lippen, »Anton, ich wollte dir – noch einiges – sagen –«
»Ja, Friedl, du wirst es mir morgen sagen, heut bist du müd und sollst schlafen.«
»Ich war immer ein Gentleman«, sagt Friedl auf einmal, ganz deutlich spricht er, Toni versteht jedes Wort. Er ist ganz wach, denkt sie, er phantasiert nicht, er will mir etwas sagen.
»Immer ein Gentleman, du – Anton – bleib ein Gentleman, auch eine Frau soll ein Gentleman sein –«
Die Worte zerbrechen auf seinen Lippen, jetzt bewegt er nur noch die Lippen.
»Die Mikula«, formt Friedl deutlich. Und noch einmal: »Die Mikula, wir gehen zu ihr –«
Die Lider sind fest geschlossen, er lächelt.
»Er hat mit mir gesprochen«, erzählt Toni aufgeregt dem jungen Doktor, der mit der Schwester ins Zimmer tritt. Die Schwester hält wieder das gläserne Ding in der Hand. Es ist eine Injektionsspritze. Der junge Doktor greift wieder nach Friedls Hand, sie ist wie ein lebloses Ding, er zieht an der Hand, bis der Arm ausgestreckt ist, dann streift er den Ärmel des Hemds zurück und sticht in Friedls Arm.
Toni sieht zu, sie spürt des Doktors Stich im Herzen. Friedl zuckt zusammen und stöhnt auf. Der Doktor betupft mit Watte das Stückchen Haut, in das er gestochen hat.
»Was spritzen Sie ein?«, will Toni wissen.
»Kampfer«, antwortet der Doktor und steht auf.
»Vielleicht bringen wir ihn durch«, meint die Schwester, es ist ein ausgesprochener Versuch, freundlich zu sein. Dann lassen sie Toni wieder allein mit dem Kranken.
Toni wird sehr schläfrig, von Zeit zu Zeit reißt sie den Kopf hoch, weil sie beinahe eingeschlafen wäre. Dann blickt sie in Friedls Gesicht. Ich werde immer Haltung haben und ein Gentleman sein, nimmt sich Toni vor. Sie spürt, wie ihr Kopf wieder vornüber sinkt, Vergil ist in Andes geboren, praebeo, praebere heißt gewähren, praebeo me fortem – ich erweise mich tapfer, Kampfer spritzen sie ein, komisch, Kampfer ist doch gegen Motten, wahrscheinlich soll Kampfer das Herz stärken, sie sollen nur recht oft Kampfer einspritzen –
Jetzt schlafen wir, Friedl, ich halte deine Hand, da schlafen wir gut, ich möchte mich am liebsten zu dir aufs Bett legen, ich möchte auch ein Stückerl Kopfpolster haben, mein Rücken tut schon weh, aber es schickt sich nicht, ganz bestimmt nicht –
Plötzlich fährt sie auf. Friedls Hand hat sich bewegt. Und jetzt werden seine Atemzüge so anders, ganz laut, der Friedl keucht, jeder Atemzug ist ein Stöhnen, weit offen der Mund, das Gesicht ist weiß wie der Polster, und auf der Stirn sind kleine Schweißperlen.
»Herr Doktor – Schwester!«
Toni ist auf den Gang gestürzt. Aufschreit sie in ihrer Angst. Aus einer schmalen Tür, schief gegenüber, tritt der junge Doktor, die dicke Schwester watschelt eilig den Gang entlang: »Psst, so schreien Sie doch nicht so, Sie wecken ja die andern auf!«
Nein, das gibt es nicht, das geht doch nicht, da schlafen Leute und Friedl soll –. Den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend hat Toni in ihrem Herzen gewusst, was geschehen wird. Und jetzt, da es geschieht, da wird sie schreien, da wird sie dagegen kämpfen.
»Kommen Sie, kommen Sie doch!«, schreit Toni.
Der junge Doktor macht wieder eine Einspritzung. Toni hat die Hände vor den Mund gepresst, sie will ganz still sein. Sich anständig und ruhig verhalten. Der junge Doktor sticht in Friedls Arm. Friedl zuckt nicht mehr zusammen.
»Er spürt den Stich nicht mehr«, konstatiert der Doktor.
»Man wird nichts mehr machen können«, sagt die Schwester. Ihr rundes, rot glänzendes Gesicht bleibt ungerührt.
»Machen Sie etwas, Herr Doktor, bitte machen Sie etwas …«, wimmert Toni in ihrer Angst.
Der junge Doktor geht, um den Herrn Dozenten zu holen. Der Herr Dozent beugt sich flüchtig über Friedl, er knöpft das Hemd auf und legt die Hand auf Friedls nackte Brust. Schwer hebt und senkt sich Friedls Brust, er atmet nicht mehr hastig, zwischen jedem Atemzug ist eine Pause. Eine grauenvoll lange Pause. Friedl sammelt Kraft, man hört winziges, unsichtbares Atemzittern, und dann keucht er wieder einen großen Atemzug hervor, sein Mund ist verzerrt, jeder Atemzug ist Qual. Er kämpft, denkt Toni. Er kämpft gegen etwas Unsichtbares. Die Pausen zwischen den großen Atemzügen werden immer länger.
Der Herr Dozent geht wieder hinaus und die Schwester flüstert dem jungen Doktor zu: »Der Fall geht ex.« Toni soll es nicht hören, aber Toni hört es.
Sie bleibt mit der Schwester allein bei Friedl. Die Schwester sitzt auf dem Stuhl neben dem Bett, sie hat die dicken, roten Arme über dem mächtigen Busen gekreuzt und blickt den Kranken an, abwartend, beobachtend. Von Zeit zu Zeit gähnt sie laut und hält sich nicht die Hand vor den Mund.
Toni ist auf die Knie gesunken. Sie kniet dicht vor dem Bett, sie hat die Hände gefaltet, nein, fest ineinander verkrampft, der Kopf liegt auf der Bettdecke, ihre Wange liebkost Friedls Hand.
Keuchender Atemzug. Lange Pause. Keuchender Atemzug.
Das ist Friedls großer Kampf. Nichts zu machen, sagt der Doktor. Lieber Gott, mach etwas, mach ein Wunder, ein Wunder – betet Toni. Stöhnen. Und Pause. Mein Gott, Vater im Himmel – so lange ist diese Pause, lieber Gott –
Tonis Herzschlag hat ausgesetzt, es ist grauenvoll, von einem Atemzug auf den anderen zu warten, Herrgott –
Da: der nächste Atemzug.
Die Schwester gähnt.
»Geben Sie ihm wieder Kampfer, die Pausen werden so lang …«, stöhnt Toni.
»Man darf höchstens jede Stunde eine Injektion geben. In dreiviertel Stunden kann man es vielleicht noch einmal versuchen.«
Noch einmal versuchen. Lieber Gott, mach ein Wunder, sie geben nur jede Stunde eine Injektion, lieber Gott, wenn es dich gibt …
Plötzlich wird Toni aufgehoben, die dicke Schwester hält sie in den Armen und setzt sie in den Stuhl. Dann watschelt die Frau aus dem Zimmer, bringt ein Wasserglas und schiebt Toni einen Löffel mit einer Flüssigkeit in den Mund.
»Schlucken«, befiehlt die dicke Frau. Toni schluckt gehorsam und trinkt Wasser nach.
»Was habe ich denn eingenommen?« fragt Toni.
»Brom, es macht ruhig«, meint die Schwester und wirft einen Blick auf Friedls Gesicht. »Sie werden jetzt Ihre Ruhe brauchen«, sagt sie und es klingt gut.
»Ich werde so müd, Schwester«, klagt Toni nach einer Weile und spürt Bleigewichte an ihren Beinen, »ich werde noch einschlafen.«
Sie lehnt sich auf dem Sessel zurück, streckt die Beine aus und seufzt. Sonderbar dumpf spürt sie ihr Herz schlagen, sie ist sehr erschöpft, man müsste schlafen dürfen, schlafen und nicht mehr aufwachen. Sie schließt die Augen, müd, Friedl, wir sind beide sehr müde, die Nacht wird vorbeigehen und morgen wird alles entschieden sein.
Sie zuckt auf: Friedl atmet nicht mehr!
Sie gleitet vom Sessel und fällt wieder auf die Knie und legt ihre Hand auf Friedls entblößte Brust.
»Lassen Sie nur, er atmet noch«, sagt die Schwester. Die Schwester hat sich auf das leere Bett gesetzt, weil Toni auf ihrem Stuhl eingeschlafen war.
Er atmet noch. Toni spürt sein Herz nicht mehr schlagen, aber sie hört ganz leise Atemzüge, jeder Zug ist ein kleiner, leiser Seufzer.
Die Tür öffnet sich, der junge Doktor ist eingetreten.
»Noch eine Injektion?«, fragt die Schwester und erhebt sich schwerfällig.
»Es hat nicht mehr viel Sinn««, sagt der junge Doktor, und seine Stimme klingt ehrlich betrübt.
»Noch eine Injektion, ich will es, ich will es!«, schreit Toni. Der junge Doktor fährt ganz entsetzt zurück: Da kniet die Toni am Bett, sie hat sich steil aufgerichtet, ihr Kinn zittert, ihre Zähne schlagen aneinander, sie kann sich nicht dagegen wehren, die Zähne schlagen aneinander, sie ist ganz wach, grauenhaft wach, und ihre Stimme schreit: »Sofort spritzen Sie wieder Kampfer, wir bringen ihn durch, Friedl, halt durch!«
»Ich habe ihr schon Brom gegeben«, sagt die Schwester und zuckt ärgerlich mit den Achseln.
»Sie waren bis jetzt so brav, kleines Fräulein, Sie werden doch nicht zuletzt den Kopf verlieren …«
Toni verstummt. Jetzt ist also – zuletzt.
Der junge Doktor spritzt noch einmal Kampfer in Friedls sterbenden Körper, aber es ist natürlich schon völlig sinnlos.
»Friedl«, flüstert Toni, sie bringt ihr Gesicht ganz nahe an seines.
»Er hört Sie nicht«, sagt der junge Doktor, »er ist schon längst in Agonie.«
Toni hat das Wort noch nie gehört. »Ist Agonie etwas Schlimmes?«, fragt sie.
Das glänzende Gesicht der Schwester wird noch breiter, sie muss lächeln. Aber der junge Doktor bleibt ernst. »Nein, nichts Schlimmes. Er hört uns nur nicht mehr, und sein Geist ist schon drüben.«
Drüben, drüben, denkt die Toni, und sie starrt auf Friedls Gesicht, ob es sich verändert hat.
Friedls Gesicht ist hart geworden, eckig das Kinn. Und die Nase – er hat eine viel schmälere Nase bekommen, denkt Toni, so eine vornehm scharfe Nase. Er ist sehr schön, viel schöner als sonst, findet sie. Und sein Gesicht hat einen hochmütigen Zug, wahrscheinlich, weil sein Geist schon drüben ist, er will uns nicht mehr hören, er will – mich nicht mehr hören –
Der Herr Dozent kommt herein und entschließt sich zu bleiben, weil er einen Blick auf Friedls schönes Gesicht geworfen hat. Die drei Fremden in ihren weißen Kitteln warten am Fußende des Bettes.
Toni kauert auf dem Boden.
Sie sollte weinen, denkt der junge Doktor, sie sollte doch weinen. Tonis Gesicht erstarrt, ihre Zähne schlagen nicht mehr aneinander, sie hat die Lippen zusammengepresst, der Mund ist eine schmale Linie. Um den Mund liegt ein hochmütiger Zug, es ist derselbe hochmütige Zug wie auf dem Antlitz des Sterbenden. Wir sind jetzt allein miteinander, der Vater und ich, sagt ihr Gesicht, ihr Fremden wisst gar nichts von uns. Ihre Augen sind trocken. Und sie sollte doch weinen, denkt der junge Doktor.
Da schlägt der Sterbende die Augen auf. Weit offen sind die Augen, groß und hell. Ein Aufstrahlen, Leuchten.
Toni ist aufgesprungen. Stramm richtet sie sich auf, kerzengrad steht sie, die Arme an den Körper gepresst, zurückgeworfen den Kopf. Als wollte sie Abschied nehmen, habt acht, aufrecht.
Und der junge Doktor sieht erschrocken in ihren Augen dasselbe Leuchten wie in denen des Sterbenden.
Es ist ein langer Blick, hell wie Sonnenschein, dieser letzte Blick des Rittmeisters Huber auf Erden.
Musik dämmert auf, sie wird nah und laut. Friedl hört die Musik, und Toni hört sie mit ihm. Friedl geht zur Ruhe, er darf hinüber, und drüben muss es schön sein und gut, denn seine Augen sehen Sonne und sein Mund formt ein Lächeln.
Noch einmal atmet Rittmeister Huber. Mit ihrem ganzen Körper wartet Toni auf seinen nächsten Atemzug. Da hebt Friedl die Hand. Langsam hebt er die Hand, er weist nach vorn, er weist ins Leere. Die Hand sinkt zurück und ein Ruck geht durch den ganzen Körper.
Es gibt keinen nächsten Atemzug des Rittmeisters Huber.
»Es ist zu Ende«, sagt der Herr Dozent.
»Ja, ich weiß«, antwortet Toni, ihre Stimme klingt klar, sie steht habt acht vor dem Toten. »Ich weiß, Vater«, flüstert sie. Da verlassen die drei Fremden das Zimmer.
Langsam löst sich Tonis aufrechte Haltung. Sie streicht mit ihrer Hand scheu über des Vaters Gesicht; es ist nicht wahr, dass Tote kalt sind, Friedls Gesicht ist warm und auf seiner Stirn sind noch immer kleine Schweißperlen. So glücklich hat er noch nie gelächelt, denkt Toni. Sie legt ihre Hände auf Friedls Augenlider und drückt ihm die Augen zu.
Klein wird Friedls Gesicht, so verlassen und klein liegt es in den Kissen. Alle Furchen verschwinden aus diesem Antlitz, ganz jung ist es wieder, ausgelöscht ist aller Kummer, ausgelöscht, nun ist es gut, nun ist es sehr gut.
Plötzlich ist die dicke Schwester wieder da. »Jetzt sind Sie brav und kommen mit mir«, sagt sie. Und Toni denkt: Immerfort verlangen die Leute hier, ich soll brav sein. Ich tu doch nichts, ich möchte nur gern noch ein bisschen hier sitzen, jetzt ist Friedl so schön und glücklich, man wird selbst ganz still und glücklich, wenn man bei ihm sitzt und sein Lächeln spürt.
Aber sie steht folgsam auf und geht mit der Schwester.
»So, da bringe ich unser Kind, es ist sehr brav und folgsam«, sagt die Schwester und schiebt Toni ins gegenüberliegende Zimmer. Was will die dicke Person, ich bin doch kein Kind, denkt Toni, aber sie lächelt höflich den beiden Herren zu, die hier sitzen. Der junge Doktor trinkt eine Schale schwarzen Kaffee, der ganze Raum riecht nach Kaffee, und der Herr Dozent sitzt am Tisch und schreibt auf einem großen, weißen Bogen. Im Zimmer steht ein Ruhebett, die Schwester führt Toni zum Ruhebett und Toni setzt sich gehorsam nieder.
Bei ihrem Eintritt hat der Herr Dozent aufgesehen, nun kommt er auf Toni zu, setzt sich neben sie, streichelt ihre Wange. Toni fährt erschrocken zurück, mein Gott, wie kommt denn der Herr Dozent auf die Idee, ihre Wange zu streicheln. »Mein innigstes Beileid, Fräulein«, sagt er, und Toni ist nun vollkommen verwirrt, Friedl gibt so viel auf tadellose Manieren, wie benimmt man sich nur in so einem Fall, was sagt man darauf? Sie will dem Friedl keine Schande machen. »Ich danke Ihnen vielmals, es ist sehr aufmerksam von Ihnen«, murmelt sie. Und da ist auch schon der junge Doktor. »Es tut mir so leid«, flüstert er.
»Ja, mir auch …«, sagt sie und erschrickt, weil das Gesicht des jungen Doktors ganz verblüfft wird. Das war sicherlich schlecht ausgedrückt, denkt sie, aber ich kann doch nicht mit den fremden Leuten über das, was geschehen ist, sprechen. Man kann überhaupt nicht darüber sprechen. Nie werde ich darüber sprechen können. Sie haben auch die Musik nicht gehört und sie wissen nicht, dass Friedl noch niemals so glücklich gelächelt hat. Ihr schmaler Körper sinkt zusammen, nun ist die Toni ganz klein, ihr ist auf einmal furchtbar kalt, sie friert so, dass ihre Hände zu zittern beginnen. Und sie spürt, dass auch ihre Knie zittern, aber die zittern ja unterm Rock, hoffentlich bemerken es die drei fremden Leute nicht.
»Man sollte ihr einen Kognak geben«, sagt der Herr Dozent, der noch immer neben Toni sitzt. »Ihnen ist kalt, Fräulein, Sie sind auch sehr übernächtig.«
»Ich habe noch nie Kognak getrunken«, gesteht Toni. Der junge Doktor holt aus dem weißen Schrank eine Flasche.
»Herr Dozent, auch einen Schluck?«, fragt er höflich.
»Gern, Herr Kollege«, sagt der Herr Dozent. Der junge Doktor gießt in drei Wassergläser Kognak.
»Danke vielmals«, sagt Toni höflich. Sie hält das Glas in der Hand und betrachtet misstrauisch die braungelbe Flüssigkeit. »Ich werde einen Schwips bekommen«, sagt sie sehr freundlich.
Der junge Doktor blickt sie entsetzt an. Mein Gott, gegenüber liegt das Zimmer mit dem toten Mann. Und da sitzt das Mädchen und meint artig: Sie wird einen Schwips bekommen.
»Na dann prost«, lächelt die Toni und kommt sich sehr wohlerzogen vor. Friedl wäre mit ihr zufrieden, sie muss Friedl alles genau erzählen, sie wird ihm sagen, dass –. Da bricht der Gedanke ab. Sie macht die Augen zu. »Prosit!« Es gerät zu laut, ihre Stimme kippt um. Schnell schüttet sie den Kognak hinunter. Pfui Teufel, das brennt und ist bitter wie Medizin.
»Und jetzt werden Sie schön brav nach Hause gehen«, sagt der Herr Dozent. »Vielleicht wird Doktor Schmidt so freundlich sein und Sie zu einem Taxi begleiten, damit Sie gut nach Hause kommen. Wir könnten unterdessen von hier nach Hause telefonieren und –«
»Danke vielmals, aber es ist wirklich nicht notwendig«, sagt Toni artig und fühlt befriedigt, wie ein warmes Gefühl durch ihren Körper rinnt. Der Kognak, natürlich, die Leute wissen schon, warum sie gern Kognak trinken. »Friedl und ich sind nämlich allein«, plaudert sie weiter, »Friedl und ich wohnen –«, wieder bricht ihr Gedanke ab. Friedl und sie wohnen –
Mit einem Ruck steht sie auf. Ihr Gesicht ist ganz weiß. Mit einer bösen, trotzigen Bewegung dreht sie sich um, reißt die Tür auf und läuft aus dem Zimmer. Der junge Doktor stürzt ihr nach. »Wohin gehen Sie? Um Gottes willen, liebes Fräulein«, ruft er entsetzt. Denn der junge Doktor denkt, dass sich Toni aus dem nächsten Fenster stürzen wird. Toni wendet ihm ihr Gesicht zu, ein leeres, hoffnungsloses Gesicht.
»Ich gehe nur ins Zimmer meines Vaters, um seine seidene Decke und die schönen Lackpantoffel zu holen«, sagt sie. »Beides haben wir hergebracht, es gehört uns.«
Sie verschwindet im Zimmer 17b. Dort hantiert die dicke Schwester. Sie hat die Lampe ausgedreht und den Fenstervorhang in die Höhe gezogen. Das Fenster ist weit offen, grauer Morgen bricht in den Raum, es ist Tag geworden. Eiskalte Luft strömt herein, Toni erschrickt, man kann doch das Fenster nicht aufreißen, man muss doch Rücksicht nehmen, Rücksicht auf Friedl …
Das Gesicht des Toten schimmert blaugrau in der Dämmerung, die Nase ist spitz und fremd. Ein Tuch liegt um sein Kinn und die Wangen, es sieht wie ein Zahnwehumschlag aus. Die seidene Decke hat man auf den Stuhl geworfen. Der Körper des Toten ist mit einem Laken bedeckt, nur das eingebundene Gesicht ist zu sehen. Sonderbar flach erscheint Toni der Körper, er zeichnet sich kaum unter dem Leintuch ab.
»Warum haben Sie ihm denn das Tuch umgebunden?«, fragt Toni die Schwester.
»Man macht das immer, damit das Kinn nicht herunterfällt«, sagt die dicke Frau.
Toni will diese hässlichen Worte vergessen, das ist nicht mehr Friedl, ihrem Friedl kann doch nicht das Kinn herunter – nein, das hätte die dicke Frau nicht sagen sollen.
»Die Pantoffel und die Decke, Schwester«, sagt Toni schnell und greift nach der Decke.
»Die Decke bleibt da, sie wird desinfiziert, das ist Vorschrift«, antwortet die Frau, »wir schicken sie Ihnen schon.« Und nach kurzem Überlegen: »Die Hausschuhe können Sie gleich mitnehmen.«
»Danke schön«, sagt Toni, bückt sich, unter dem Bett stehen die schönen, schwarzen Lackpantoffel, die Friedl immer trägt, wenn er vom Schlafzimmer ins Badezimmer geht, der Fekete hat sie ihm natürlich ins Krankenhaus mitgegeben. Toni nimmt die Pantoffel, mit beiden Händen hält sie die Schuhe an die Brust gepresst. Dann tritt sie zum Bett, faltet über den Pantoffeln die Hände und betet flüsternd das Vaterunser.
Ich möchte ihm noch einen Kuss geben, wünscht sie sich und bekämpft ihre Angst. Fremdes, wachsglänzendes Gesicht mit einem Tuch um das Kinn. Der Mund lächelt noch immer. Schnell beugt sie sich über den lächelnden Mund und küsst ihn. Wie kalt – sie spürt die Kälte des starren Mundes in ihrem ganzen Körper.
Die Schwester bringt ihr den Mantel auf den Gang, Toni schlüpft hinein, holt den roten Hut aus der Tasche und stülpt ihn auf. Sie geht noch einmal ins gegenüberliegende Zimmer zum Herrn Dozenten.
»Die Dokumente werden Ihnen zugestellt«, sagt der Herr Dozent, und Toni ist viel zu erschöpft, um nachzudenken, welche Dokumente. »Der Totenschein«, erklärt die dicke Schwester. Toni gibt ihr und dem Herrn Dozenten die Hand und murmelt höfliche Dankesworte. Dann trabt sie neben dem jungen Doktor den Gang entlang. Sie sieht nicht zurück. An ihre Brust presst sie die schönen, schwarzen Pantoffel.
Auf der Alser Straße klingelt schon die Straßenbahn. Toni hat einen Wunsch.
»Muss ich im Auto nach Hause fahren, Herr Doktor?«, Sie hat nämlich nur einen Schilling fünfzig in der Tasche, das wird kaum reichen, sie hat sich noch niemals ein Auto genommen. »Muss ich? Ich möchte lieber mit der Straßenbahn fahren.«
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