Kitabı oku: «Handbuch des Strafrechts», sayfa 21
C. Internationalisierung, vornehmlich Europäisierung des Strafrechts
I. Rückwirkungsverbot
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Der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ ist in Art. 7 EMRK (Rn. 87) sowie in Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh (Rn. 88 ff.) garantiert.
1. Art. 7 EMRK
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Art. 7 EMRK garantiert das Rückwirkungsverbot, soweit die Rückwirkung den Angeklagten benachteiligt.[219] In Fällen eines völkerrechtlichen Verbrechens lässt Art. 7 Abs. 2 EMRK eine rückwirkende Bestrafung für Taten zu, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar waren.[220] Das Rückwirkungsverbot war unter dem Gesichtspunkt einer zusätzlich rückwirkend verhängten Strafe[221] bei der nachträglich verhängten Sicherungsverwahrung und bei der Aufhebung der früheren Höchstfrist der Sicherungsverwahrung[222] einschlägig (Rn. 105 f.). Die deutsche Ahndung der Mauerschützenfälle[223], die den Rechtfertigungsgrund des § 27 Abs. 2 GrenzG der DDR infolge eines Widerspruchs zu übrigem Recht der DDR und zu höherrangigen internationalen Konventionen außer Acht ließ, hat der EGMR bei der Anwendung auf einfache Soldaten[224] nicht beanstandet[225] (Rn. 102 f.). Eine Verletzung des Rückwirkungsverbots kann bereits dann gegeben sein, wenn eine Strafnorm zur Zeit der „Tat“ zwar bestanden hatte, bestimmte – von ihrem Wortlaut erfassbare – Verhaltensweisen aber derart akzeptiert waren, dass von einer De-Facto-Entkriminalisierung auszugehen war.[226]
2. Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh
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Auch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh garantiert den Grundsatz „nullum crimen“ und damit auch das Rückwirkungsverbot. Bezüglich dieses Grundsatzes hat der EuGH bereits im „Bosch“-Urteil festgestellt, dass es sich hierbei um eine elementare Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips handele, die auch im Gemeinschaftsrecht Geltung beanspruche.[227] Aus diesem Grund wendete der Gerichtshof das europäische Kartellordnungswidrigkeitenrecht erst ab dem Zeitpunkt des Beitritts eines Mitgliedstaates auf wettbewerbswidrige Praktiken der Unternehmen an.[228] So stellte er im Verfahren „Tepea/Watts“ darauf ab, dass die zwischen einem englischen und einem niederländischen Unternehmen seit Mitte der fünfziger Jahre praktizierte Marktaufteilung erst seit dem 1. Juni 1973 – dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft – ordnungswidrig gewesen sei, denn erst ab diesem Zeitpunkt sei der Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt worden. Zuvor habe sich die Vereinbarung lediglich auf den Binnenhandel der Niederlande ausgewirkt. Für die außerstrafrechtlichen Normierungen hielt er dagegen eine Rückwirkung für möglich.[229] Der EuGH hat ferner in der Entscheidung Regina/Kirk Kent[230] im Hinblick auf eine britische Regelung, die den Zugang dänischer Schiffe zu britischen Hoheitsgewässern bei Strafsanktion verbot, die Bedeutung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots betont. Die Entscheidung betraf eine Fallkonstellation, in der es den Mitgliedstaaten für eine Übergangszeit erlaubt war, Maßnahmen zu treffen, die vom Nichtdiskriminierungsgebot abwichen. Nach Ablauf dieser Zeit war es dem Rat vorbehalten, eine Verlängerung der Übergangszeit zu beschließen. Dieser Beschluss einer Verordnung des Rates erfolgte erst am 25. Januar 1983, während die Übergangsfrist, in der Einschränkungen nicht erlaubt waren, am 31. Dezember 1982 abgelaufen war. Auch wenn der Rat seiner Verordnung rückwirkende Wirkung gegeben hatte, hat der EuGH die Strafsanktion gegen den dänischen Fischer Kirk, der sich am 6. Januar 1983 in britische Hoheitsgewässer begab, dennoch als Verstoß gegen Art. 7 EMRK gewertet und für unzulässig erklärt.
II. Lex mitior
1. Verortung des Milderungsgebots im Grundsatz „nullum crimen sine lege“ (Art. 7 EMRK) durch den EGMR
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In der Europäischen Menschenrechtskonvention findet sich keine explizite Regelung des Milderungsgebots. Art. 7 EMRK nennt lediglich das Gesetzlichkeitsprinzip und verbietet rückwirkende Strafschärfungen. Allerdings hat die Große Kammer des EGMR[231] in der Rechtssache Scoppala/Italien aus dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot das Milderungsgebot hergeleitet und als Leitsatz formuliert:
„Inzwischen besteht in Europa und darüber hinaus ein Konsens, dass die Anwendung eines späteren milderen Strafgesetzes ein Grundsatz der Strafrechtspflege ist. Dem trägt der Gerichtshof, der früher anders entschieden hatte, Rechnung und bekräftigt, dass Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) nicht nur garantiert, dass strengere Strafvorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen, sondern auch, dass mildere Strafgesetze rückwirkend anzuwenden sind.“
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Dabei stützte sich die Große Kammer maßgeblich auf die internationalen Entwicklungen in Bezug auf das Milderungsgebot, die seit der Entscheidung der EKMR in der Rechtssache „X/Deutschland“[232] stattgefunden haben. Das gelte insbesondere für das Inkrafttreten der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, die in Art. 9 die rückwirkende Anwendung eines nach der Tat ergangenen milderen Gesetzes garantiert. Zu erwähnen sei weiter „die Europäische Menschenrechtserklärung, die in Art. 49 I im Wortlaut von Art. 7 EMRK abweicht, und das kann nur bewusst geschehen sein (s. mutatis mutandis EGMR, Slg. 2002-VI Nr. 100 = NJW-RR 2004, 289 = FPR 2004, 275 L – Christine Goodwin/Vereinigtes Königreich), und bestimmt: ,Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe angedroht, so ist diese zu verhängen.‘“ Schließlich habe der EuGH im Fall Berlusconi[233] ausgesprochen, dieser Grundsatz sei Teil der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten. Auch der französische Kassationshof habe diesen Grundsätzen im Urteil vom 19. September 2007 (06–85899) zugestimmt. Schließlich sei die Anwendung des milderen Gesetzes im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bestimmt und in der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien bekräftigt. Aus diesen Gründen sei anzunehmen, dass sich in den letzten 40 Jahren in Europa und allgemein international ein Konsens entwickelt habe, dass es ein Grundsatz des Strafrechts ist, das mildere Strafgesetz anzuwenden, auch wenn es nach der strafbaren Handlung in Kraft getreten ist.[234]
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Zur Fundierung des Milderungsgebots legt die Große Kammer[235] dar, dass Art. 7 EMRK zwar nicht ausdrücklich die Pflicht der Konventionsstaaten erwähne, dem Beschuldigten die Anwendung einer nach der strafbaren Handlung ergangenen Gesetzesänderung zugutekommen zu lassen. Es entspreche aber dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, von dem Art. 7 EMRK ein wesentlicher Teil sei, von einem Strafgericht zu erwarten, dass es für jede strafbare Handlung die Strafe verhängt, die der Gesetzgeber für angemessen hält. Zu einer schwereren Strafe nur deswegen zu verurteilen, weil das zur Zeit der Tat vorgesehen war, würde bedeuten, dass man zum Nachteil des Beschuldigten die Regeln über die zeitliche Folge von Strafgesetzen anwendet. Es würde außerdem bedeuten, eine dem Beschuldigten vorteilhafte Gesetzgebung vor der Verurteilung außer Betracht zu lassen und fortzufahren, Strafen zu verhängen, die der Staat und die Gemeinschaft, die er repräsentiert, jetzt für übermäßig hält. Die Verpflichtung, unter mehreren Strafvorschriften die dem Beschuldigten günstigste anzuwenden, sei eine Klarstellung der Regeln über die zeitliche Folge von Strafgesetzen, die einem anderen wesentlichen Element des Art. 7 EMRK entspricht, nämlich der Vorhersehbarkeit von Strafen. Aus diesen Gründen sei es notwendig, von der durch die EKMR im Fall X/Deutschland (1978, DR, Bd. 13 S. 70 ff.) begründeten Rechtsprechung abzuweichen und zu bekräftigen, dass Art. 7 EMRK nicht nur den Grundsatz garantiert, dass strengere Strafvorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen, sondern stillschweigend auch den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung milderen Strafrechts. Dieser Grundsatz ergebe sich aus der Regel, dass die Gerichte das Strafrecht anwenden müssen, dessen Vorschriften für den Beschuldigten am günstigsten sind, wenn es Unterschiede zwischen dem Strafrecht gibt, das zur Tatzeit galt, und späterem, das vor dem rechtskräftigen Urteil in Kraft getreten ist. Es soll also das Meistbegünstigungsprinzip gelten.
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Nach Ansicht der Richter Pintol de Albuquerque und Vicinic verstößt die Verhängung eines schärferen Tatzeitrechts nach Erlass eines milderen Gesetzes nicht gegen nullum crimen sine lege und die Vorhersehbarkeit strafrechtlichen Strafens, sondern gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Die Rechtsprechung dürfe das schärfere Tatzeitrecht nicht mehr anwenden, weil die Legislative ihre Bewertung über das Verhältnis zwischen strafbarem Verhalten und Schwere der anwendbaren Strafe geändert habe. Die Anwendung des schärferen Gesetzes trotz entgegenstehenden Legislativaktes führe zu einer widersprüchlichen und deshalb willkürlichen Bewertung desselben Unrechts.[236]
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Auf der Grundlage der Entscheidung Scoppola, dass „Art. 7 Abs. 1 nicht nur das Verbot der rückwirkenden Anwendung schärferen Strafrechts beinhalte, sondern implizit auch das Gebot der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes“[237], bekräftigte der EGMR in mehreren nachfolgenden Entscheidungen die Geltung des lex mitior-Grundsatzes. Hiervon gebe es keine allgemeingültige Ausnahme, da Art. 7 Abs. 2 EMRK „lediglich als kontextuelle Klarstellung der Verpflichtungskomponente“ des in Abs. 1 niedergelegten allgemeinen Rückwirkungsverbots anzusehen sei.[238] Der EGMR konkretisierte die Anforderungen an die Bestimmung des milderen Strafgesetzes dahingehend, dass ein Vergleich der Höchst- mit der Mindeststrafe in abstracto oder der sich an die Höchst- oder Mindeststrafe annähernden nationalen Strafzumessungspraxis nicht genüge[239], sondern Art. 7 Abs. 2 EMRK, wie bereits in der Entscheidung Maktouf and Damjanovi festgestellt, eine konkrete Prüfung der anwendbaren Strafgesetze im Einzelfall erfordere, um die zu erwartenden Strafen für jeden Angeklagten zu ermitteln und die günstigste Strafe anzuwenden.[240]
2. Art. 49 Abs. 1 S. 3 GR-Charta
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Das Milderungsgebot wird für das Unionsrecht nach dem Vorbild des Art. 15 Abs. 1 Satz 3 IPbpR, der als Garantie im Sinne des Meistbegünstigungsprinzips gesehen wird[241], in Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh garantiert[242] und hat damit, anders als das nationale Milderungsgebot nach § 2 StGB, Verfassungsrang. Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh lautet: „Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen.“ Der Wortlaut des Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von § 2 Abs. 3 StGB, wird aber jedenfalls im Grundsatz gleich ausgelegt.[243]
a) Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta
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Voraussetzung für das Eingreifen des Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh ist die Eröffnung des Anwendungsbereichs der GRCh. Nach Art. 51 Abs. 1 GRCh gelten die unionalen Grundrechte „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Dadurch soll ein lückenloser Grundrechtsschutz gewährleistet werden, der insbesondere auch den im Ausbau begriffenen „Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts“ umfasst (vgl. Art. 67 Abs. 1 AEUV).[244] „Durchführung“ des Unionsrechts bedeutet Umsetzen oder Vollziehen, insbesondere im Bereich der Grundfreiheiten[245], aber auch im Bereich des Sekundärrechts (Verordnungen, Richtlinien).[246] Insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht mit seinen vielen Inbezugnahmen europarechtlicher Vorschriften kann der Ausschluss der Einschränkung des Meistbegünstigungsprinzips daher Bedeutung erlangen.[247] Jedoch lässt Art. 52 Abs. 1 GRCh bei der Achtung des „Wesensgehalts“ der Grundrechte und „unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ Einschränkungen zu, wenn sie „erforderlich“ sind sowie weiteren Voraussetzungen entsprechen.[248] Art. 52 Abs. 1 GRCh wird vom EuGH „einschränkungsfreundlich“ ausgelegt.[249]
b) Erstreckung des Milderungsgebots auf Richtlinien, Verordnungen und Rahmenbeschlüsse
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Die Geltung des Milderungsgebots hat zur Folge, dass unionsrechtliche Regelungen, die aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts zu einer Milderung der Rechtslage im Strafrecht führen, als gesetzliche Milderungen zu berücksichtigen sind. Dies gilt nicht nur für Verordnungen, die als blankettausfüllende Normen in Bezug genommen werden, sondern gleichermaßen für Richtlinien und Rahmenbeschlüsse, die begünstigend auf das Strafrecht wirken.[250] Nur auf diese Weise kann dem Milderungsgebot des Unionsrechts zu umfassender Geltung verholfen werden. Würde man Einschränkungen des Milderungsgebots in Abhängigkeit vom Unrechtsbezug des Unionsrechts vornehmen, so könnte und müsste der Richter mittels Bestimmung des geschützten Rechtsguts über den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Milderungsgebots entscheiden.
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In der Entscheidung Antoine Kortas[251] hat der EuGH die Geltung des Grundsatzes des milderen Gesetzes und die unmittelbare Wirkung von Richtlinien auch ohne deren Umsetzung in nationales Recht bestätigt. Der Grundsatz der lex mitior gebiete es, von dem Gesetz auszugehen, welches die Tat am mildesten beurteilt.[252] Daraus ergebe sich, dass ein nachträglicher Wegfall des Verbots – mag dieser auch durch ein Ablaufen der Umsetzungsfrist zwischen Tatbegehung und Entscheidung bedingt sein – zur Straflosigkeit führen müsse.[253] Entsprechend wurde im Fall „Awoyemi“ für unerheblich erklärt, dass die Umsetzungsfrist für die Richtlinie noch nicht abgelaufen war.[254] Durch die Umsetzungsfrist bei Richtlinien soll den nationalen Gesetzgebern lediglich eine unter Praktikabilitätsgesichtspunkten unabdingbare Frist eingeräumt werden; in materieller Hinsicht ist hingegen die Anwendung des richtlinienwidrigen Gesetzes mit In-Kraft-Treten der Richtlinie nicht mehr erwünscht. Der europäische Gesetzgeber hat bereits eine andere rechtliche Grundanschauung getroffen, und diese muss auch durchgesetzt werden. Wenn aber eine nationale Gesetzesänderung nicht auf der besonderen Zeitgebundenheit des Gesetzes, sondern auf einem Wandel der Rechtsanschauung beruht, ist eine Einschränkung des Milderungsgebots nicht vertretbar. Vielmehr ist dem Gebot verhältnismäßiger Gerechtigkeit Rechnung zu tragen. Dieses Ergebnis stimmt im Übrigen mit der h.M. zum nationalen Recht überein, nach der die Sonderregelung für Zeitgesetze (§ 2 Abs. 4 StGB) im Falle einer geänderten Rechtsanschauung nicht anwendbar ist,[255] sondern das Milderungsgebot eingreift.
c) Erstreckung des Milderungsgebots auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts?
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Wenn sich das Unionsrecht begrenzend auf eine nationale Strafnorm auswirkt, ohne dass das nationale Gesetz geändert worden ist, stellt sich gleichermaßen die Frage nach dem zeitlichen Anwendungsbereich des Strafrechts, also nach dem Zeitpunkt, ab dem sich eine aus dem Unionsrecht ergebende Milderung aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts strafbegrenzend auswirkt. Da das Strafgesetz nicht geändert wird, sondern lediglich Anwendungsvorrang für das Unionsrecht besteht, können die nationalen Regelungen über die Anwendung des milderen Rechts, die eine Gesetzesänderung voraussetzen, nach dem Gesetzeswortlaut keine unmittelbare Anwendung finden. Wenn es sich beim Milderungsgebot jedoch um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts handelt, müssen auch Veränderungen der Rechtslage, die sich infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ergeben, zugunsten des Täters berücksichtigt werden. Denn die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die allgemeinen Rechtsgrundsätze bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen und die darin getroffenen Vorgaben einzuhalten. Entsprechend hat der EuGH im Fall „Awoyemi“, in dem eine nationale Strafnorm gegen eine Richtlinie verstoßen hat, deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war, zum strafrechtlichen Milderungsgebot Stellung genommen und ein Eingreifen bejaht, um eine möglichst rasche und effektive Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in nationales Recht durchzusetzen.[256]
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In der Berlusconi-Entscheidung musste sich der EuGH mit der Frage auseinander setzen, ob das strafrechtliche Milderungsgebot auch dann eingreift, wenn ein Mitgliedstaat eine strafrechtliche Norm, zu deren Statuierung er aufgrund einer Richtlinie verpflichtet ist,[257] aufgehoben hat und nach der neuen nationalen Regelung Straflosigkeit eingetreten ist. Generalanwältin Kokott[258] kam in ihren Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts die frühere strafrechtliche Regelung weiterhin anwendbar sei. Ein nachträglich erlassenes gemeinschaftsrechtswidriges Strafgesetz stelle gar kein anwendbares milderes Strafgesetz dar.[259] Der EuGH[260] kommt zu dem entgegengesetzten Ergebnis: Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes gehöre zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und sei damit Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, die der nationale Richter bei der Anwendung des nationalen Rechts zu beachten habe. Eine Richtlinie dürfe aber nicht dazu führen, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Angeklagten festzulegen oder zu verschärfen.[261] In der Literatur[262] wird beiden Lösungen, der der Generalanwältin und des EuGH, entgegengehalten, dass jede von ihnen einen Ausgleich zwischen dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts, dem Prinzip der „lex mitior“ und dem Verbot der strafbegründenden bzw. –schärfenden (unmittelbaren) Wirkung einer Richtlinie nur unter völliger Preisgabe eines der Prinzipien erreichen könne. Der EuGH hebele die wohl grundlegendste Maxime der Gemeinschaftsrechtsordnung aus, um zu verhindern, dass ein Beschuldigter nach dem zum Tatzeitpunkt geltenden (!) Strafgesetz verurteilt wird. Nüchtern betrachtet müsse dies erstaunen, weil der „lex mitior“-Grundsatz, der das nachträgliche Strafgesetz überhaupt erst berücksichtigungsfähig werden lasse, in den meisten nationalen Rechtsordnungen nicht einmal verfassungsrechtlich garantiert werde.[263] Der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie vorgelagert ist jedoch die Frage, ob sich der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts bei einer nationalen Norm auch auf die in dieser Norm liegende derogierende Wirkung erstreckt. Dies hätte zur Folge, dass eine nationale Norm für rein inländische Sachverhalte außer Kraft gesetzt wäre, während dieselbe Regelung für grenzüberschreitende und die Europäische Union betreffende Sachverhalte fortbestünde, also in Geltung wäre. Damit käme der Europäischen Union gleichsam die Kompetenz zur Anordnung der Fortgeltung von Strafnormen für unionsrechtlich relevante Fälle zu. Eine solche Kompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts wird von der ganz h.M. jedoch, sieht man von Art. 325 AEUV bezüglich Strafnormen zum Schutz der finanziellen Interessen ab, zutreffend verneint. Sowohl in der Rechtsprechung des EuGH[264] und des BGH[265] als auch in der einschlägigen Literatur[266] besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Mitgliedstaaten keine originäre Kompetenz zur Schaffung eines supranationalen Strafrechts übertragen haben.[267] Hinzu kommt, dass eine Erstreckung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch auf die derogierende Wirkung im Ergebnis über einen bloßen Anwendungsvorrang hinausginge und zum Geltungsvorrang des Unionsrechts führen würde. Eine so weitreichende Wirkung des Unionsrechts hat der EuGH jedoch stets abgelehnt.[268] Das Vorrangprinzip ist von vornherein nicht darauf gerichtet, eine im nationalen Recht bestehende oder entstandene Lücke durch hinzugedachtes nationales Recht zu füllen.[269]