Kitabı oku: «Handbuch des Strafrechts», sayfa 6

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III. Grenzziehungen

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Die erarbeitete Begrifflichkeit erlaubt es, einige Grenzziehungen durchzuführen. Vor allem der Unterschied zwischen Normen und Werten lässt sich nun deutlicher ausarbeiten. Werte beruhen auf Wertungen, und in Wertungen drücken sich die in einer Gesellschaft geltenden sozialen Normen aus. Damit wird deutlich, dass nicht nur zwischen den Begriffen „Wert“ und „Wertung“, sondern auch zwischen „Wert“ und „Norm“ Gemeinsamkeiten, aber eben auch Unterschiede bestehen. Es wäre deshalb verfehlt, die Begriffe gleichzusetzen. Eine Norm bezieht sich auf ein erwünschtes menschliches Verhalten; sie tritt auf als Gebot, Verbot oder Erlaubnis. Dagegen bezeichnet der Ausdruck „Wert“ Vorstellungen von Wünschenswertem,[131] die nicht einmal zwingend mit menschlichem Verhalten zu tun haben müssen, man denke nur an Werte wie Schönheit oder Gesundheit.

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Recht beruht auf Werten und damit letztlich auf Wertungen. Die Metapher vom „Beruhen“ kann instrumentell[132] gedeutet werden: Gerade gesetztes Recht lässt sich am ehesten als Mittel deuten, bestimmte Werte zu realisieren. So dient etwa das Strafrecht dem Rechtsgüterschutz, eine Norm wie § 212 StGB dem Schutz des Rechtsgutes „Leben“ usw. Die Rechtsgüter selbst sind als rechtlich geschützte Werte[133] anzusehen. Dies macht deutlich, wie sehr Recht auf menschlichen Setzungen beruht. Die Rede von einem „objektiven Recht“ in einem erkenntnistheoretischen Sinn ist also genauso irreführend wie die Rede von angeblich „objektiven Werten“.[134]

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Ein gerade für die Rechtswissenschaft bedeutsames Problem ist die Frage nach dem Wertewandel.[135] Dass sich individuelle wie gesellschaftliche Wertungen und Werte ändern, ist eine Alltagserfahrung. Manche Änderungen sind bloß vordergründig, andere haben fundamentalen Charakter. So war das Interesse an Privatheit im Mittelalter und der frühen Neuzeit offenbar weit weniger ausgeprägt als heute; und es spricht einiges dafür, dass im Zeitalter der sozialen Netzwerke und der ubiquitären Vernetzung das Interesse an Privatheit wieder abgenommen hat.[136] Außerdem ist offensichtlich, dass das Interesse an Privatheit kulturell geprägt ist, man vergleiche nur die entsprechenden Einstellungen in Deutschland und Europa, den USA und China.[137]

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Der Gesetzgeber wird sich beim Erlass von Gesetzen in aller Regel[138] an den zu diesem Zeitpunkt in der Gesellschaft akzeptierten und insofern geltenden Werten orientieren. Mit einem Wertewandel verlieren die Gesetze allmählich ihre Verankerung im Wertbewusstsein der Bevölkerung. Gesetze sind also meist Ausdruck älterer Werte. Darin liegt eine Hauptursache dafür, dass Juristen, die „Hüter und Interpreten der Gesetze“, oft als konservativ angesehen werden.[139] Eine Zeit lang lässt sich dieser Prozess der Distanzierung des Wertebewusstseins vom geltenden Gesetzesrecht durch eine flexible Auslegung der Gesetzesnormen auffangen, doch irgendwann können die Spannungen zwischen einer Rechtsnorm und dem gesellschaftlichen Wertbewusstsein so groß sein, dass die Norm geändert werden muss. Beispiele hierfür sind die Änderungen im Recht des Schwangerschaftsabbruchs (§§ 218 ff. StGB) seit Anfang der 70er Jahre oder die Aufhebung des strafbewehrten Verbots der männlichen Homosexualität (§ 175 StGB) im Jahr 1994.

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Nicht immer wirken sich neue gesellschaftliche Wertungen im Sinne einer Entkriminalisierung aus. So zeigt sich etwa im Bereich der Sexualdelikte an Kindern seit Jahren ein Trend zur Verschärfung des Strafrechts.[140] Eine gesteigerte Punitivität, d.h. der Ruf nach mehr Strafrecht und verschärften Strafsanktionen,[141] lässt sich aber auch in vielen anderen Bereichen der Kriminalpolitik feststellen.[142]

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Eine weitere wichtige Erscheinungsform von Wertewandel im Zusammenhang mit Strafe ist die wechselnde Haltung gegenüber Täter und Opfer. Seit einigen Jahrzehnten gewinnt die Opferperspektive stetig an Gewicht. Ein „Mitverschulden“ des Opfers wird anders als im Zivilrecht nur in Ausnahmefällen berücksichtigt (vgl § 202a StGB).

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › E. Die Menschenwürde als Leitwert jeder humanen Rechtsordnung

E. Die Menschenwürde als Leitwert
jeder humanen Rechtsordnung

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Der Leitwert der deutschen Verfassungsordnung ist die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 1 EU-Charta). Es handelt sich nicht bloß um ein rechtliches, sondern auch um ein ethisches Konzept, wobei der Begriff in der Ethik in zahlreichen, oft ganz unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird.[143] Die Orientierung des Rechts an der Menschenwürde ist die Kernforderung des juristischen Humanismus.[144]

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Ausgangspunkt für die juristische Bestimmung der Menschenwürde i.S.v. Art. 1 GG sollte die Tatsache sein, dass die Menschenwürdegarantie unserer Verfassung eine Reaktion auf die schlimmsten Verbrechen des „Dritten Reiches“ darstellt, also die Entrechtung ganzer Bevölkerungsteile, den Massenmord an Juden und anderen Minderheiten, Folter und medizinische Versuche an Menschen.[145] Die seit dem 18. Jahrhundert eingeführten Menschenrechte hatten sich als nicht ausreichend erwiesen, derartige Untaten zu verhindern. In der deutschen Verfassung ist die Menschenwürde deshalb noch stärker ausgestaltet als die Grundrechte, also die im Grundgesetz positiv geregelten Menschenrechte: die Menschenwürde ist, anders als die übrigen Grundrechte, nicht legal einschränkbar, d.h. jeder Eingriff in den Schutzbereich der Menschenwürde ist eo ipso verfassungswidrig.[146]

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Um die inhaltliche Bestimmung von „Menschenwürde“ i.S.v. Art. 1 GG wird seit langem gerungen.[147] Lange Zeit fand die „Objektformel“ Günter Dürigs viel Zuspruch, wonach die Menschenwürde dann beeinträchtigt sein soll, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.[148] In den letzten Jahren mehren sich jedoch die Stimmen, die die Leistungsfähigkeit dieser Formel gerade zur Lösung problematischer Fälle in Zweifel ziehen.[149] Auch der Versuch, Menschenwürdeverletzungen über den Gesichtspunkt einer „Instrumentalisierung“ zu definieren, überzeugt jenseits eines ohnehin unstrittigen Kernbereichs von Menschenwürdeverstößen kaum.[150]

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Versucht man, den Begriff „Menschenwürde“ genauer zu fassen, so wird deutlich, dass sie sich als ein Ensemble grundlegender subjektiver Rechte deuten lässt, deren Zweck es ist, die Autonomie bzw. Autonomiefähigkeit des Individuums zu schützen. Dazu gehören das Recht auf ein materielles Existenzminimum, das Recht auf autonome Selbstentfaltung (also minimale Freiheitsrechte), ferner ein Recht auf Freiheit von extremen Schmerzen (gegen Folter), ein Recht auf Wahrung der Privatsphäre, ein Recht auf geistig-seelische Integrität, ein Recht auf grundsätzliche Rechtsgleichheit und ein Recht auf minimale Achtung.[151] Der Anwendungsbereich dieser Rechte ist durchaus eng zu verstehen, um die Anwendung der Menschenwürde in der Praxis nicht ad absurdum zu führen.[152]

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Nach überwiegender Ansicht kann die Menschenwürde als Basis der anderen Grundrechte verstanden werden: sie umfasst den „Kerngehalt“ der anderen Grundrechte. Darüber hinaus begründet die Menschenwürde die Verfassungsordnung insgesamt, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Neben dieser Begründungsfunktion wird die Menschenwürde auch als Leitwert bei der Auslegung von Gesetzen, einschließlich der Strafgesetze, verwendet und dient als Orientierungsmaßstab der Gesetzgebung. Man kann insofern von der Orientierungsfunktion der Menschenwürde sprechen. Eine dritte Funktion der Menschenwürde liegt in ihrer Rolle als kritischer Maßstab, an welchem Rechtsordnung und Rechtspolitik gemessen werden können (kritische Funktion der Menschenwürde). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes die Humanorientierung der Rechtsordnung sichert und damit ein wesentliches Element der Rechtsphilosophie der Aufklärung aufgreift, indem sie die Ausrichtung des Rechts auf den konkreten Menschen und seine basalen Bedürfnisse und Nöte als Leitwert der bundesdeutschen Rechtsordnung, einschließlich der Strafrechtsordnung, festschreibt.[153]

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › F. Die Reflexionsebene: Rechtswissenschaft und Ethik

F. Die Reflexionsebene: Rechtswissenschaft und Ethik

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Der Unterscheidung zwischen Recht und Moral entspricht der Unterschied zwischen Rechtswissenschaft als der wissenschaftlichen Untersuchung des Rechts und der Ethik als der Wissenschaft von der Moral.

I. Die (Straf-)Rechtswissenschaft und das Problem der Wertfreiheit

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Die Rechtswissenschaft ist nur schwer auf einen aussagekräftigen einheitlichen Begriff zu bringen, weil sie sehr unterschiedliche Teildisziplinen in sich fasst. Deutsche Rechtswissenschaftler und Juristen anderer Länder, die von der deutschen Rechtswissenschaft geprägt wurden,[154] verstehen traditioneller Weise die Rechtsdogmatik, also die begriffliche, in systematischer Absicht betriebene Analyse der Rechtsnormen, als Kern der Rechtswissenschaft. Ein Kennzeichen der Rechtsdogmatik ist das Bestreben, einzelne Rechtsgebiete, aber auch einzelne Rechtsprobleme in systematischer Form darzustellen und zu analysieren. Der Stand der in der deutschen Strafrechtswissenschaft heute erreichten dogmatischen Durchdringung des materiellen Strafrechts ist außerordentlich hoch, so hoch, dass gelegentlich sogar an der Sinnhaftigkeit einer noch weiter ausdifferenzierten Dogmatik gezweifelt werden darf. Es lässt sich jedoch kaum in Frage stellen, dass die internationale Anerkennung der deutschen Strafrechtswissenschaft in erster Linie auf ihren dogmatischen Leistungen, vor allem im Allgemeinen Teil des Strafrechts, beruht.[155]

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Kaum weniger entwickelt ist die wissenschaftliche Durchdringung im Strafprozessrecht,[156] dessen internationale Rezeption dennoch bislang weit hinter der des materiellen Strafrechts im Allgemeinen Teil zurückbleibt. Dies dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass der Gesetzgeber bislang nicht die Kraft zu einer umfassenden Reform des über weite Strecken einem Flickenteppich ähnelnden Strafprozessrechts aufgebracht hat. Hinzu tritt die Überforderung des überkommenen Strafverfahrensrechtes durch die Hypertrophie des materiellen Strafrechts.[157]

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Zur Dogmatik des Straf- und Strafverfahrensrechts als rechtswissenschaftliche Kerndisziplinen tritt die Kriminologie als empirische Disziplin hinzu; erst zusammen bilden sie die „gesamte Strafrechtswissenschaft“ (s.o. Rn. 3). Inhalt der Kriminologie ist die Erforschung von Straftaten, ihrer Ursachen und möglicher Präventionsstrategien. Kriminologie wird heute überwiegend als Kriminalsoziologie verstanden; insofern handelt es sich um ein Teilgebiet der allgemeinen Soziologie.[158] Zur Kriminologie gehören außerdem die Kriminalpsychologie und die Kriminalbiologie. Nicht mehr zur eigentlichen Strafrechtswissenschaft gehören Grundlagenfächer wie die (Straf-)Rechtsgeschichte,[159] die (Straf-)Rechtsphilosophie[160] und die (Straf-)Rechtstheorie.[161]

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Die Frage nach einer möglichen „Wertfreiheit“ der Wissenschaft gehört zu den großen Themen der Wissenschaftslehre, vor allem in den Sozialwissenschaften.[162] In der Rechtstheorie bzw. Rechtsphilosophie ist das Thema – trotz seiner überragenden Bedeutung gerade für die Rechtswissenschaft – bislang kaum aufgegriffen worden, obwohl gerade die in der Jurisprudenz allgemein akzeptierte Unterscheidung zwischen einer Betrachtung „de lege lata“ und „de lege ferenda“ den Zugang zur Problematik erleichtert. Es spricht sogar einiges dafür, dass Max Weber, der Urheber des Wertfreiheitspostulates, die entscheidenden Anregungen aus seinem Kontakt zur Jurisprudenz erhalten hat.[163]

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Das Wertfreiheitsproblem wurde immer wieder mit Fragen in Verbindung gebracht, die weit über das ursprüngliche Anliegen von Weber hinausgingen.[164] Weber formuliert im Kern ein methodologisches Postulat, nämlich die Forderung, Aussagen über die Tatsachen der eigenen Disziplin einerseits, persönliche Werturteile und Meinungsäußerungen andererseits strikt voneinander zu trennen. Es handelt sich, wie schon Max Weber betonte, letztlich um eine „höchst triviale Forderung: dass der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (…) und seine praktisch wertende, d.h. diese Tatsachen (…) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, in diesem Sinne: „wertende“ Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle, weil es sich da nun einmal um heterogene Probleme handelt.“[165]

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Um das Problem der Wertfreiheit rational behandeln zu können, bietet es sich an, mit Hans Albert[166] vier unterschiedliche Teilaspekte des Werturteilsproblems zu unterscheiden, nämlich 1) die Frage nach der Bedeutung von „Werturteil“ (logisch/begrifflicher Aspekt), 2) die Frage nach der „Wertbasis“ der Wissenschaft, 3) die Frage, ob ein System, in welchem Werte und Wertungen vorkommen, unter den Begriff „Wissenschaft“ fällt, und schließlich 4) die Frage, ob oder inwieweit der (Rechts-)Wissenschaftler selbst wertend tätig sein sollte (Frage der Zulässigkeit der Kathederwertung).

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Zur Beantwortung der ersten Frage kann an das bereits oben zu Wertungen und Werten Ausgeführte (Rn. 53 f.) angeknüpft werden: Werturteile sind Wertungen in der Form von Urteilen (nach heutiger Terminologie: Aussagen), also in der Oberflächengrammatik einer Tatsachenaussage. Sie sind nicht empirisch prüfbar; weder die Prädikate „wahr“ und „falsch“ noch die übliche Aussagenlogik sind auf sie anwendbar.

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In Bezug auf die zweite Frage nach der Wertbasis der Wissenschaft – Albert spricht auch von der „existentiellen Basis“ – fällt die Antwort ebenfalls nicht schwer. Unter „Wertbasis“ einer Wissenschaft versteht Albert u.a. Zielsetzungen, Wahrheitsideale, Kriterien der Intersubjektivität (Überprüfbarkeit, Nachvollziehbarkeit, Bewährung, Kriterien der Akzeptanz), Regeln eines kritischen Diskurses und Erkenntnisprozesses, Auswahl der relevanten Probleme. Die Bereitschaft, bestimmten Standards dieser Art zu folgen, beruht auf einer wertenden Entscheidung. Es liegt auf der Hand, dass schon der Entschluss, sich mit Rechtswissenschaft zu beschäftigen, eine Wertung impliziert. Des Weiteren sind die Definitionen rechtlicher Grundbegriffe, wie Handlung, Kausalität usw., von menschlichen Wertungen abhängig.[167] Wertungen, die die Wertbasis betreffen, müssen aber nicht in den Aussagenzusammenhang einer Wissenschaft eingehen.

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Die Antwort auf die dritte Frage nach dem Vorkommen von Werten bzw. Wertungen im Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft lässt sich wie folgt formulieren: jeder Jurist, auch der an Universitäten tätige, wird sich regelmäßig mit Wertungen und Werten beschäftigen müssen. Nicht selten ist die Berücksichtigung von Wertungen und Werten sogar gesetzlich vorgeschrieben, etwa in § 242 BGB oder § 228 StGB. Auch die gesetzliche Fassung des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) fordert den Rechtsanwender (und auch den Rechtswissenschaftler, soweit er rechtsanwendend tätig wird) zur Berücksichtigung außerjuristischer Wertungen und Werte auf.

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Dass sich Werte und Wertungen im Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft befinden, bedeutet jedoch noch nicht, dass die Rechtswissenschaft selbst wertend tätig sein muss. Dieses vierte Teilproblem der Werturteilsproblematik wirft besondere Schwierigkeiten auf. Soweit es die Rechtswissenschaft mit Normanalyse, der Herausarbeitung von Bedeutungsvarianten und mit Folgenabschätzung zu tun hat, kann sie wertfrei betrieben werden. Dagegen ist die Rechtsanwendung selbst, also die Entscheidung zwischen Deutungsvarianten sowie die Anwendung dieser Varianten auf einen konkreten Sachverhalt, von Eigenwertungen abhängig. Eine weit verstandene Rechtswissenschaft, die die Rechtsanwendung integriert, ist deshalb nicht ohne Weiteres mit dem Wertfreiheitpostulat in Einklang zu bringen.[168]

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Ein Ausweg besteht darin, zumindest begrifflich zwischen Rechtsdogmatik im engeren Sinne und der Rechtsanwendung zu unterscheiden. Rechtsdogmatik kann wertfrei betrieben werden, während die Jurisprudenz, verstanden als Rechtsdogmatik in Kombination mit Rechtsanwendung, nicht wertfrei erfolgen kann. Diese Differenzierung[169] besitzt eher theoretische denn praktische Bedeutung. Ein Rechtswissenschaftler, der wie allgemein üblich Rechtsdogmatik mit Rechtsanwendung verbinden möchte, sollte aber jedenfalls wertbewusst[170] vorgehen, sich der relevanten Unterschiede also bewusst bleiben.

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Etwas anderes gilt bei Themen und in Situationen, in denen die Unterscheidung zwischen den Tatsachen der einschlägigen Disziplin und eigenen politischen oder moralischen Wertungen von besonderer Bedeutung ist, etwa in einem wissenschaftlichen Gutachten zu einer politisch strittigen Rechtsfrage oder bei einem Vortrag vor juristisch nicht besonders geschulten Zuhörern (Problem der Kathederwertung). Um dem Postulat der Wertfreiheit Genüge zu tun, sollten Wissenschaftler in derartigen Situationen deutlich machen, ob sie rein dogmatisch argumentieren oder ob sie auch Eigenwertungen moralischer oder politischer Art einfließen lassen. Es ist ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit, sein Publikum über den Charakter der eigenen Äußerungen nicht zu täuschen.[171]

II. Ethik

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Unter Ethik soll hier mit dem wohl überwiegenden Sprachgebrauch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Moral verstanden werden[172] (nach einem anderen, weniger spezifischen Sprachgebrauch sind „Ethik“ und „Moral“ Synonyme). Die älteste bekannte Ethik ist die „Nikomachische Ethik“ des Aristoteles (384–322 v.Z.), worin mittels einer Analyse von Konzepten wie „Handlung“, „Tugend“ und „Glückseligkeit“ eine Theorie des guten Lebens formuliert wird.[173]

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Ethik beschäftigt sich, ähnlich wie die Strafrechtsdogmatik, mit der begrifflichen Analyse moralischer Begriffe, mehr aber noch mit der Analyse moralischer Argumente (für oder gegen bestimmte Positionen). Hinzu tritt vor allem in traditionell ausgerichteten Ethiken der Versuch, bestimmte moralische Positionen zu begründen. In dieser Begriffsverwendung ist „Ethik“ gleichbedeutend mit „Moralphilosophie“. Gelegentlich wird auch von einer „Letztbegründung“ gesprochen: Es wird versucht, mit den Methoden der Wissenschaft zu zeigen, dass bestimmte moralische Positionen unzweifelhaft „richtig“ sind.

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Seit annähernd 2500 Jahren ist die Moralphilosophie auf der Suche nach einem festen Fundament der Moral.[174] Die wohl ältesten Vorschläge, Moral absolut zu begründen, rekurrierten auf den Willen eines Gottes oder einer Göttin, man denke nur an den vom Berg Sinai herabsteigenden Moses, der seinem Volk die in Stein gemeißelten Gebote seines Gottes bringt. Auf diesen theonomen Ansatz folgte der erste und gleichzeitig folgenreichste philosophische Versuch einer Letztbegründung von Moral, die platonische Ideenlehre.[175] Zu nennen sind ferner das christliche und später das neuzeitliche Naturrecht, das Vernunftrecht, der Utilitarismus, der Rekurs auf Logik und andere formale Verfahren (z.B. der kategorische Imperativ Kants), die Geschichtsphilosophie und die Sprachreflexion (Diskursphilosophie bzw. Diskursethik).[176] In der Gegenwart verbreitet sind auch Versuche, Begriffe als Moralquelle zu verwenden und etwa den strafrechtlichen Schutz von Embryonen davon abhängig machen zu wollen, ob es sich bei diesen um „Personen“ handelt oder nicht.[177]

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Von den geschilderten absoluten (d.h. von menschlichem Dafürhalten unabhängigen) Ansätzen zu unterscheiden sind relative oder relativistische Begründungsansätze, die moralische Positionen durch den Rekurs auf menschliche Bedürfnisse oder andere Interessen zu begründen versuchen. Auf diesem Weg ist eine dem menschlichen Dafürhalten entzogene „Letztbegründung“ nicht erreichbar, es sei denn, man würde versuchen, die Begründung auf bestimmte als unveränderlich angesehene Elemente der menschlichen Natur zu stützen. Man könnte insofern von einer Variante des Naturrechts sprechen. Nimmt man an, es existierten Interessen, die allen Menschen gemeinsam sind, so lassen sich auch unter Zugrundelegung eines relativistischen Ansatzes universalistische Moralnormen formulieren, also Normen, die für alle Menschen gelten sollen.[178] In der jüngeren Wissenschaftslehre und Ethik findet sich der Vorschlag, Moralnormen und selbst ganze Moralsysteme als „Entwürfe“ (Konstruktionen) zu betrachten, die sich daran zu bewähren haben, inwieweit sie in der Lage sind, menschlichen Interessen gerecht zu werden.[179] In derartigen Ansätzen stellt sich das klassische Begründungsproblem nicht mehr.

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Die Rechtsethik stellt ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspolitik einerseits, der Ethik andererseits dar. Sie thematisiert aus ethischer Perspektive juristische Grundfragen,[180] aber auch Anwendungsfragen und rechtspolitische Problemstellungen und ist damit hervorragend geeignet, fachspezifische Verknöcherungen und Sehstörungen zu identifizieren und u.U. auch zu korrigieren.[181] Besonders einflussreich wurden rechtsethische Untersuchungen im Zusammenhang mit der Bioethik bzw. Biopolitik (Embryonenschutz, Organtransplantation, Sterbehilfe usw.).[182]

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › G. (Straf-)Recht und Religion