Kitabı oku: «DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte», sayfa 2
Katharina eröffnete nach einigen Tagen wieder, sie hatte umgesattelt auf Tofuklopse. Erleichtert nahmen die Stadtwürste ihren Stammtisch wieder in Beschlag. Das Leben ging seinen Gang, wie es der Bürgermeister vorausgesagt hatte.
Eines Nachmittags umringte eine Schar bunter Würste Katharinas Grill. Eine Gelbe Wurst, zwei Paar Kumpel im Naturdarm, eine Schwarzgeräucherte mit senfgegelten Haaren, drei Rote Würste und zwei Dunkelfarbene im Kräutermantel genehmigten sich ein kühles Pils. In der Rathausgalerie gegenüber lärmte ein Dutzend junger Blutwürste, hörbar vorgewärmt, und schlenderte in Richtung Katharina.
»Hier stinkt’s, euer Verfallsdatum ist wohl abgelaufen!«
»Was wollt ihr Hanswürste!«, erwiderten die Schwäbischen Nackten.
Die Blutwürste schlugen los: »Aus euch machen wir Aufschnitt!«
Spaziergänger mischten sich ein: »Es darf ruhig ein bisschen mehr sein!«
»Wurstfinger weg!«, schrien die Roten.
»Rotwurst verrecke!«, hallte es über den Rathausplatz.
Die Stadtwürste am Nebentisch machten, dass sie wegkamen. Die Bunten wehrten sich erbittert, die Gelbwurst konnte flüchten und die Landjäger alarmieren. Als diese eintrafen, lag eine Rote Wurst mit geplatzter Haut auf dem Kopfsteinpflaster und musste notärztlich versorgt werden.
Die Gelbe Zeugin sagte aus, und so konnten die Landjäger die Schlägerwurst noch am selben Abend im »Wurstkessel«, dem Stammlokal der Blutwürste, verhaften und nach der Entnahme einer Blutprobe im nutzlos gewordenen Kühlhaus festsetzen.
Eine Rangelei unter jungen Leuten sei aus dem Ruder gelaufen, stand im Pressebericht der Landjäger, die Rote Wurst sei bereits auf dem Wege der Besserung. Der oberste Jäger versicherte der Bevölkerung, Maiburg sei und bleibe sicher, trotz vorübergehend geschlossener Tore habe sich die Stadt ihren weltoffenen Charakter bewahrt. Einen rassistischen Hinter- oder Vordergrund der Tat schloss er aus.
Der Chefredakteur des Lokalblattes schickte eine Volontärin auf den Marktplatz, Volkes Stimme zu lauschen – »vox populi«.
»Jetzt macht mal kein Geschiss wegen der paar Fettspritzer!«, ereiferte sich die erste Volksstimme, die ihren Namen nicht nennen wollte.
»Geschieht diesen Roten ganz recht, gell, Herr Nachbar«, meinte die zweite Stimme. »Jawohl«, sagte der, »diese Nullbockwürste liegen den ganzen Tag auf der faulen Haut, alles auf unsere Kosten!«
Eine vierte Stimme rief: »Auf den Grill mit diesen arbeitsscheuen Saumägen!«
Von der Blutwurst könne man sich eine Scheibe abschneiden, meinte eine weitere Volksstimme, die einfache Wurst auf der Straße erlebe den Anblick dieser herumlungernden farbigen Gestalten mit ihren Mayofrisuren als Angriff auf das gesunde Volksempfinden.
»Nehmen uns die Arbeitsplätze weg«, sagte eine gerade hinzugekommene Wurst.
Die erste Namenlose bekam das letzte Wort: »Wer sich bei uns anständig aufführt, dem passiert nix! Schreiben Sie das, junge Frau!« – Beifall.
Die Volontärin kehrte in heller Aufregung in die Redaktion zurück. Der Redakteur vom Dienst sagte: »Vox Rindvieh«, und schickte die Dame unverzüglich ins Rathaus – die Stadtverwaltung hatte eine Notverordnung erlassen. Im Wortlaut: »Angesichts dramatisch zunehmender Unfallraten ist der Gebrauch von spitzen Gegenständen wie Messern, Gabeln, Nadeln, Nägeln, Taschenmessern, Eierpiksern und Bleistiften genehmigungspflichtig.«
»Endlich wird durchgegriffen«, sagte Volkes Stimme.
Maiburg aß nunmehr mit Fingern und Löffeln – Anlass für das Feuilleton, über die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens nachzudenken. Als händischer Esser befinde sich der Maiburger nunmehr historisch gesehen in allerbester Gesellschaft, schrieb die Zeitung, schon Ramses III. griff mit den Fingern in die Steingefäße, auch der alte Nero langte mit der Hand in die Töpfe. Noch Ludwig XIV. lehnte die Gabel ab und aß mit den Fingern – seinen eigenen. Ganze Kontinente benützten heutzutage die Finger der rechten Hand, schrieb das Feuilleton, man hüte sich vor postkolonialer Überheblichkeit. Der Artikel schloss mit einem wohl nicht ganz ernst gemeinten Ratschlag, im ehelichen Alltag spitze Bemerkungen zu unterlassen.
Eine Woche nach dem Überfall auf die bunten Würste entdeckten spielende Kinder die gelbe Tatzeugin der Schlägerei am Achufer. Die Autopsie ergab mehrere nadelfeine tödliche Einstiche, die landjägerlichen Ermittlungen verliefen im Sande der Ach. Die in Untersuchungskühlhaft sitzende Blutwurst hatte für den mutmaßlichen Tatzeitpunkt zwangsläufig ein piekfeines Alibi, wurde unter Meldeauflagen freigelassen und im »Wurstkessel« mit tosendem Beifall empfangen. Mit den Rufen »Freibier für alle« und »Maiburg den Maiburgern« gründete der Freiheitsheld noch an der Theke lehnend eine neue Partei, die Blut-und-Bodenwurst-Bewegung – die BBB – und ernannte sich einstimmig zum obersten Blutwurstführer. Die Ratsblutwurst übernahm das schwere Amt für Presse, Propaganda, Schutz und Trutz. Eh man sich versah, marschierten Vorwärts-vorwärts-Jugend-kennt-keine-Gefahren schmetternde Kolonnen des BBB-Zucht- und Ordnungsdienstes durch Maiburgs Gassen. Ehemalige Schlachthöfler, Wurstfabrikler, Arbeiter aus der Zulieferindustrie und dem Wursthandel – halb Maiburg –, strömten zu der straff organisierten ehrenamtlichen Truppe. Unter dem zackigen Kommando von Blutgruppenführern patrouillierte der Ordnungsdienst durch die Straßen und sorgte für Angst und Schrecken unter den bunten Würsten.
»Und für Ordnung!«, sagten die Leute. »Ordnung muss sein!«
Der Bürgermeister betrachtete die Vorgänge um die selbst ernannten und selbstherrlichen Ordnungshüter mit wachsender Sorge und berief eine Dringlichkeitssitzung des Rates ein. Es war nicht unbemerkt geblieben, dass auch mehr und mehr Landjäger und Schützenwürste zu der Schutztruppe übergelaufen waren. Die Leberwurst wiegelte ab.
»Tiefer hängen«, sagte sie, »in wenigen Wochen ist der Spuk vorbei.«
Sie wusste ja nicht, die gute Leberwurst, wie recht sie hatte. Der Sprecher der Sülzwürste wollte im Namen seiner Fraktion nicht gänzlich in Abrede stellen, dass nicht vielleicht doch ein gewisser Handlungsbedarf bestehe, plädierte aber zunächst – in Übereinstimmung mit den Hirnwürsten – für eine sachliche, sich am Inhaltlichen orientierende Auseinandersetzung mit den neuen Gedanken, denen man sich ja nicht von vorneherein aus ideologischen Gründen verschließen dürfe. Man setze sich dafür ein, sagte die Sülzwurst, die berechtigten Sorgen und Nöte der kleinen Wurst auf der Straße ernst zu nehmen und sich lösungsorientiert mit der Thematik zu befassen.
»Meine Rede!«, sagte der Saure Zipfel.
Als die Blutwurst forderte, die bunten Würste zu ihrer eigenen Sicherheit in präventive Schutzkühlhaft zu nehmen, kam es zu einer kurzen Rangelei mit den Rotwürsten.
Der Vorschlag der Zungenwürste, einen interfraktionellen Arbeitskreis einzusetzen, wurde ohne Gegenstimme angenommen.
Zur Gedenkfeier und Einäscherung der Gelbwurst fanden sich Angehörige, Maiburger Honoratioren, bunte Freunde und drei Stadtwürste von Katharinas Stammtisch ein. Eine Hirnwurst als Vertreterin des Rates verurteilte die Tat auf das Schärfste und versicherte den Trauernden das Mitgefühl der Obrigkeit – alles Wurstmögliche werde getan, den Fall aufzuklären. Der Pfarrer, Urgestein der Maiburger Friedensbewegung, erinnerte an den Aufstieg der faschierten Würste: »Wehret den Anfängen!«
»Anfänge, Anfänge«, flüsterte eine der Stadtwürste, »wir sind mittendrin.«
Zum Schluss seiner Predigt fand der Pfarrer doch noch versöhnliche Worte: »Lassen Sie uns weiterhin an das Gute in der Wurst glauben. Amen.«
Nach der Trauerfeier trafen sich die drei Stammtischler auf ein dunkles Bier.
»Gegen die Blut-und-Boden-Pest gibt’s keine Mittel«, sagte der Erste.
»Die befällt urplötzlich das Hirn, aus heiterem Himmel«, meinte der Zweite.
»Das sind kranke Gedanken, ansteckende«, sagte Nummer drei.
»Die Gedanken sind frei!«, bestätigte der Erste. »Da helfen keine Mauern!«
»Eben«, meinte wiederum der Dritte, »auch kranke Gedanken sind frei!«
Eine Rotte blutjunger Zucht- und Ordnungswürste marschierte schneidig über den Platz, die Stiefel dröhnten auf dem Pflaster und ihre Bierfahnen flatterten voran.
»Heil, Blutwurst, heil!«
»Ekelhaft, dieses Gebrüll«, tuschelten die drei hinter ihren Tofuklopsbrötchen.
»Als kleine Wurst kannst du nichts machen«, sagte der dritte Stammtischler und leerte seinen Becher.
Ein Presssack, eine Rote und eine Gelbe Wurst beschlossen, dem Schrecken zu entfliehen, zwängten sich durch eine Schießscharte der Stadtmauer und wurden im trockenen Stadtgraben von einem Rudel Hunde zerrissen und verschlungen.
Die interfraktionelle Arbeitsgruppe hatte unterdessen mehrfach getagt und empfahl, umgehend Neuwahlen zum Stadtrat abzuhalten. Es sei doch offensichtlich, sagten die Experten, und belegt durch Umfragen, dass die Zusammensetzung des Rates nicht mehr den Volkswillen repräsentiere. Es hob sich ein Sturm der Entrüstung. Auf fünf Jahre sei man gewählt, demokratisch, keinesfalls dürfe man dem Druck der Straße nachgeben. Der Saure Zipfel sprach einer Politik der harten Hand das Wort und schlug vor, zur Verstärkung der verbliebenen Landjäger auswärtige Hotdogs anzufordern.
»Ausgerüstet mit Harzer Knüppeln!«, empfahl der Schwartenmagen.
Die Leberwurst hatte die Königsidee: »Blutegel! Blutegel aussetzen, und das Problem ist gelöst.«
Die Ratsblutwurst schwieg, was den Ratskollegen wohl im Nachhinein verdächtig vorgekommen wäre, hätte es denn ein Nachhinein gegeben.
Ob man vergessen habe, dass Hilfe von draußen nicht zu erwarten sei, sagte ein resignierter Bürgermeister.
Die Räte blickten ratlos zur Decke, da flog die Tür auf, der Blutwurstführer stürmte, mit einer Hutnadel fuchtelnd, in den Saal und schrie: »Schluss mit dem demokratischen Wurstsalat, der Rat ist abgesetzt, alle Mann in den Keller.« Ratsblutwurst und Blutwurstführer verriegelten gemeinsam die Kellertür, beorderten eine Zucht- und Ordnungswache vor das Rathaus und eilten in den »Wurstkessel«. Dort harrte eine brodelnde Wurstsuppe ihres Führers, der geplante Putsch war seit Tagen offenes Geheimnis. Der »Kessel« platzte schier aus den Schweißnähten, Freibier floss in Strömen, und gegen den Hunger gab’s Braunkohl und Rouladen.
Endlich ertönte der Ruf – »Heil, Blutwurst, heil« –, der Blutwurstführer schritt unter den Klängen des Filetiermarsches durch ein Spalier von Blutgruppenführern, erklomm das Rednerpult und ergriff das Wort.
»Blutwürste!«, rief er in den ergriffenen Saal. »Nach schweren Kämpfen ist das Rathaus in unserer Hand. Blut- und Bodenwürste! Jetzt wird aufgeräumt, ich dulde kein fremdes Gekröse in meiner Heimatstadt!«
»Heil, Blutwurst, heil!«, brauste der Schlachtruf durch den siedenden »Kessel«, »Rotwurst verrecke!«
Während sich der Führer mit Braunkohl stärkte, peitschte die Propagandawurst die Menge auf: »Kameraden, ab heute stehen wir wie eine Wurst hinter unserem geliebten Führer!«
Krachend stürzten Bierbänke um, die Kameraden riss es empor, voll glühender Begeisterung stürmten sie die Bühne, hinter dem Kohl speisenden Führer wurde es eng. Der Blutwurstführer legte den Löffel ab und erhob sich, augenblicklich herrschte atemlose Spannung.
»Heil euch!«, schrie er in den »Kessel«. Aber statt des erhofften Heils ertönte ein Donnerschlag, unter dem Druck des blähenden Braunkohls zerbarst der Führer in tausend Fetzen. Die Detonationswelle und die herumfliegenden Führerwurstzipfel brachten die Blutgruppenführer in den vordersten Reihen zum Platzen, das Platzkonzert setzte sich fort bis in die hinteren Ränge. Nach dem letzten Rums-Bums ebbte der Lärm ab und nun schwappten die Wurstmassen blubbernd aus den Kaldaunen wie Lava aus dem Inneren der Erde. Geistige Flatulenzen, unverdaute Gedanken und halb vergorene Ideen, Faulgase und Alkoholdämpfe schwängerten die Luft. In einem der Aschenbecher musste wohl noch ein Funke Begeisterung geglommen haben, das gesättigte Gasgemisch entzündete sich und der »Wurstkessel« flog in die Luft. Der glühende Kesseldeckel landete im Dachstuhl des Rathauses und setzte das Gebälk in Brand, die Flammen griffen auf die Nachbargebäude über und fraßen sich durch die engen Gassen. Der Feuersturm ließ die Mauern einstürzen, fette schwarze Wolken und beißender Gestank verkohlter Wurst hingen über dem Tal der Ach.
Kaum waren die Brände erloschen, drangen streunende Hunde durch die Mauerbreschen in die Stadt und stöberten nach Überresten.
Verflucht | Nele Sickel
»Hier«, flüstere ich und klammere mich an Georgs Hand. »Hier hat er sie erschlagen.«
Georg zieht mich näher zu sich und legt einen Arm um mich. »Dein Vater?«, fragt er.
Ich nicke und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter. Seine Umarmung ist etwas zu eng, zu fest, um angenehm zu sein, aber in diesem Moment bemerke ich es kaum. Innerlich reise ich in die Vergangenheit.
Ich kann sie noch immer schreien hören. Erst meine Mutter, dann meinen Vater, dann wieder meine Mutter – dieses Mal schrill und schmerzerfüllt. Ich höre den dumpfen Schlag, mit dem ihr Körper auf den Boden des elterlichen Schlafzimmers prallt. Die Stille, die darauf folgt. Am meisten erinnere ich mich an die Stille.
Damals stand ich nicht im Schlafzimmer. Ich war unten in der Küche, lauschte und traute mich nicht hinauf. Die Stille ängstigte mich mehr als all der Lärm zuvor. Wie erstarrt saß ich da, in einer Hand das Schälmesser, in der anderen eine Rübe. Eigentlich wollte ich beides fallen lassen, aber es gelang mir nicht. Ich wollte aus dem Haus laufen, aber auch das konnte ich nicht. Steif und verloren hockte ich in der Küche und wusste einfach nicht, wohin.
Solange nicht, bis mein Vater nach mir rief. Ich werde nie vergessen, wie verzweifelt seine Stimme in diesem Augenblick klang. Nicht zornig, einfach nur verzweifelt. Das ließ mich den Mut finden, zu ihm zu gehen.
Mit fahrigen Bewegungen stand ich auf und ließ die halb geschälte Rübe auf den Tisch sinken. Ich wollte das Messer danebenlegen, aber eine kaum greifbare Eingebung ließ mich die Hand zurückziehen. Anstatt das Messer wegzulegen, verbarg ich es unter meiner Schürze, ehe ich hinaufging.
Oben fand ich ihn. Gebeugt und zitternd kniete er über dem zertrümmerten Körper meiner Mutter. Rote Striemen leuchteten auf seinen Armen, da, wo ihre Fingernägel ihn erwischt hatten. Er hielt sein Gesicht in beiden Händen vergraben und schluchzte leise.
»Es war der Fluch«, nuschelte er immer wieder durch seine tränenverschmierten Handflächen hindurch. »Der Fluch! Es tut mir leid. Ich liebe sie doch. Es war der Fluch!«
Ich stand einfach nur da und sah ihn an. Nicht ängstlich – wie er da kniete und weinte, hätte ich niemals Angst vor ihm haben können. Auch nicht wütend. Geschockt vielleicht. Taub. Unwirklich. Die ganze Szene kam mir unsagbar unwirklich vor. Ich wusste, dass er meine Mutter nicht geliebt hatte. Nicht richtig jedenfalls. Dennoch glaubte ich ihm. Sie hatten schon so lange zusammengelebt, dass das Leben des einen ohne den anderen längst nicht mehr vorstellbar war. Er konnte sie nicht einfach so getötet haben. Da musste mehr sein als das. Das musste es einfach.
Irgendwann knieten wir beide neben ihr. Wir hielten einander und wir weinten. Selten habe ich mich meinem Vater so nahe gefühlt wie in diesem Augenblick vor all den Monaten.
»Wir sollten gehen«, meint Georg und seine Stimme so dicht an meinem Ohr erinnert mich daran, wie nah ich ihm nun bin. Physisch zumindest.
Ich sehe zu ihm auf und nicke langsam. Er fragt nicht nach und ich bin froh darum. Ich will ihm nicht erzählen, wie sie gestorben ist. Wie wir um sie geweint haben. Und noch viel weniger will ich ihm erzählen, wie ich meinem Vater geholfen habe, zu verstecken, was er getan hat. Wie die Polizei es doch entdeckt und meinen Vater ins Zuchthaus gebracht hat. Wie schließlich auch er gestorben ist.
Georg zieht mich mit sich die Treppe hinab. Er hält meine Hand fest in seiner und mich beschleicht das Gefühl, dass er mich auch dann nicht losließe, wenn ich ihn darum bitten würde. Doch ich bitte ihn gar nicht. Ich lasse mich ziehen, die Treppe hinab und hinaus auf den Hof. Die milde Abendluft tut mir gut. Sie macht meine Gedanken etwas klarer und schiebt die Erinnerungen ein wenig zurück.
»Du siehst blass aus«, murmelt Georg und berührt meine Wange. »Lass uns etwas spazieren gehen! Es wird ohnehin noch dauern, bis alles eingeladen ist.«
Ich schaue zu, wie zwei von Georgs Knechten die geschnitzte Anrichte aus meinem Elternhaus tragen. Es fühlt sich eigenartig an, zu sehen, wie das Haus, in dem ich mein gesamtes bisheriges Leben verbracht habe, auseinandergerissen wird. Eigentlich müsste ich froh sein. Immerhin bedeutet es, dass mich all diese Dinge in die Ehe und damit in mein neues Leben begleiten werden. Dinge, die es mir überhaupt erst ermöglicht haben, von hier zu entkommen. Als Waise, ganz auf mich allein gestellt, kann ich mich zweifellos glücklich schätzen, dass mein Verlobter statt einer Mitgift einfach die Güter vom Hof akzeptiert hat, die er für sein eigenes Haus gebrauchen kann. Unser Haus. Ich weiß das und ich will ihm dankbar sein. Aber es ist nicht Vorfreude, sondern Wehmut, mit der ich unserem Aufbruch entgegensehe.
Entschlossen, die trübsinnige Stimmung abzuschütteln, wende ich mich vom Haus meiner Eltern ab. »Ja, lass uns gehen«, erwidere ich auf Georgs Worte und gemeinsam treten wir vom Hof hinaus auf die Straße.
Auch hier ist es still. Genauso wie im Haus und überall im Dorf. Die Häuser stehen verlassen in den Schatten der nahen Bäume. Sanfter Wind zieht an den Ästen, aber es reicht kaum, um auch nur das Laub zum Rascheln zu bringen. Die Ruhe ist schon fast gespenstisch.
Georg legt wieder einen Arm um mich; nimmt mich in seinen festen Griff, von dem ich mir einzureden versuche, dass er Sicherheit gibt, und führt mich die Straße hinab. Ergeben lehne ich mich an ihn.
Als wir am Haus der Witwe Schleifer vorbeigehen, beschleunige ich meine Schritte. Ich kann die leeren Fenster sehen, hinter denen einst ihr Schlafzimmer verborgen lag und ich will mich nicht erinnern, was dort geschehen ist. Doch egal, wie schnell ich laufe, die Gedanken, die ich abschütteln will, holen mich nur umso schneller ein. Halten mich genauso fest in ihrem Griff, wie mein Verlobter meine Schultern hält.
Dort hinter den Fenstern, wo nun alles in Staub und Schatten liegt, habe ich sie gesehen.
Ich war hinausgegangen, um weiter unten im Dorf Brot zu kaufen. Der Tag war warm und sonnig und ich hatte es nicht eilig. Also lief ich im Schlenderschritt die Straße hinab, wirbelte etwas Staub mit den Schuhen auf und betrachtete, wie die einzelnen Körner im Sonnenschein funkelten. Dann und wann wanderte mein Blick von einer Seite zur anderen auf der Suche nach einem Grund, noch einen Moment länger zu verweilen.
Dabei entdeckte ich sie: die Witwe Schleifer und meinen Vater. Sie regten sich hinter dem Fenster – halb im Schatten verborgen, aber nur halb. In enger Umarmung versunken teilten sie das Bett miteinander. Und keiner von beiden bemerkte mich, während ich draußen stand und vor Schreck und Wut den Brotkorb fallen ließ.
Ich wusste, wenn ich sie entdeckt hatte, konnte es auch jeder andere. Und es fiel mir nicht schwer, mir auszumalen, was dann geschehen würde: die Geschichte in aller Munde, ein billiger Lacher mit teuren Folgen. Meine Familie gedemütigt, unser Hof gemieden. Keine Aufforderung zum Tanz beim nächsten Fest. Keine Verehrer. Ich hätte als alte Jungfer enden können.
Wie konnten sie mir das nur antun? Wie konnte er es? Es drängte mich, sofort zu ihnen hineinzulaufen und ihnen die Frage in ihre roten, verschwitzten Gesichter zu schreien. Meinen Vater hinauszuzerren und all das zu beenden. Doch ich wusste auch, das hätte ihn zornig gemacht und dazu fehlte mir der Mut.
Lange stand ich da und stellte mir vor, wie es wäre, wäre ich doch nur etwas mutiger. Aber ich sagte nichts und ich bewegte mich nicht. Schließlich ging ich einfach fort.
Erst einige Tage später schlich ich mich zum Haus der Witwe Schleifer zurück. Ich hatte beobachtet, wie sie hinunter ins Dorf gegangen war und ich wusste, dass niemand sonst auf dem Hof war.
Leise schob ich die Eingangstür auf und schlüpfte in den engen Flur. Drinnen war es still und ordentlich. Viel zu ordentlich für eine alleinstehende, hart arbeitende Frau. Ich fragte mich, woher in aller Welt sie die Zeit für all die Arbeit nahm, aber ich hielt mich nicht damit auf. Stattdessen schlich ich in eben jenes Schlafzimmer, in dem sie meinen Vater verführt und sich ihm hingegeben hatte. Ich lief zu dem Bett, das ich so sehr verabscheute, und versteckte eine kleine Strohpuppe im Bezug des Kissens. Nadeln und die Kräuter schob ich unter das Stroh, in dem die Witwe nachts ihren Körper wälzte.
Sobald alles an seinem Platz war, stahl ich mich hinaus. Ohne einen weiteren Blick zu verschwenden, verließ ich diesen Unglücksort und kehrte in die Sicherheit meines Elternhauses zurück. Damals war es das noch – sicher.
Wir folgen der leichten Biegung der Straße – weg von dem Unglückshaus, dessen Anblick mich so quält – und Georg entdeckt die beiden dünnen Äste, die dort zu einem unscheinbaren Kreuz zusammengebunden worden sind. Sofort bleibt er stehen und zeigt darauf.
»Ist das hier der Ort, wo die Frau gefunden wurde?«, fragt er mich. »Du weißt schon, die, an der euer Metzger sich vergangen hat?«
Seine Augen funkeln beunruhigend, während er spricht, und ich schüttle den Kopf – um zu verneinen und um dieses Bild seiner funkelnden Augen gleich wieder loszuwerden.
»Nein, hier haben die Dorfjungen eines der Mädchen so fest mit Steinen beworfen, dass…« Ich breche ab. »Können wir einfach weitergehen? Bitte!«
Kurz sieht es so aus, als wäre Georg unzufrieden mit mir, doch dann wird sein Blick gleich wieder sanfter und langsam nickt er: »Natürlich, Liebes.«
Er geht weiter und ich bleibe an seiner Seite. Noch immer hält er mich in seinem Arm, und während der Abend dunkler und kühler wird, versuche ich, die Wärme zu genießen, die von seinem Körper ausgeht.
»Es ist schwer, sich vorzustellen, dass hier einmal Kinder gespielt haben«, sagt Georg nach einer Weile. »Es ist alles so still.«
Ich schließe für einen Moment die Augen und lasse mich blind führen. »Die Letzten sind schon vor einem Jahr weggezogen.«
»Wegen dieses Fluchs?«
Ich öffne die Augen und nicke.
»Glaubst du daran?«
Mein erster Impuls ist es, nein zu sagen. Aber dann würde er fragen, wie ich nach allem, was geschehen ist, nicht daran glauben kann, und eine Antwort darauf möchte ich ihm nicht geben. Stattdessen sage ich: »Ich weiß es nicht.« Und erkenne, dass es ohnehin die Wahrheit ist. Ich weiß es einfach nicht.
Wir erreichen den kleinen gepflasterten Marktplatz. Ein leckes Fass steht in einer Ecke. Geöffnet und halb verwittert. Sonst ist es genauso still und leer wie überall im Dorf. Es wirkte enger hier, als noch jeder seinen Stand aufgestellt und seine neuesten Erträge verkauft hat. Gemüse, Obst, Brot … Als die Leute sich getroffen und einfach geredet haben. Jetzt ist der Platz so offen und kahl, dass er mir verloren vorkommt. Aber letztlich passt er damit gut zum Dorf und gut zu mir.
Es war voll und belebt auf dem Marktplatz, als ich meine Freundin Luisa und ihren Mann dort suchte. Ich lief quer über das Pflaster und gab mir Mühe, verwirrt und aufgewühlt auszusehen. Das fiel mir nicht schwer, denn es war erst wenige Tage her, dass ich meinen Vater und die Schleifer beieinander gesehen hatte.
Luisa kam mir zuvor. Sie entdeckte mich, bevor ich sie entdecken konnte und als sie bei mir war, nahm sie mich sanft beim Arm und zog mich aus dem Gedränge.
»Was ist denn mit dir los?«, wollte sie wissen.
Ich schüttelte den Kopf und erwiderte aufgebracht: »Ich kann es dir nicht sagen. Nicht, wenn du mir nicht glaubst!«
Das brachte Luisa dazu, halb besorgt, halb verärgert die Stirn zu runzeln. »Sei nicht albern!«, entgegnete sie. »Wieso sollte ich dir nicht glauben?«
Darauf hatte ich keine Antwort, also schüttelte ich einfach noch einmal den Kopf und wandte mich ab. Natürlich hielt Luisa mich zurück.
»Nun sag schon, was los ist«, drängte sie.
Wieder schüttelte ich mich und nahm mir noch einen Augenblick, ehe ich endlich antwortete. »Sie ist eine Hexe!«, platzte ich schließlich hervor. »Ich habe sie zaubern sehen!«
»Wen?«
»Die Schleifer! Im Garten hinter ihrem Haus.«
Luisa betrachtete mich einen Moment verdutzt, dann brach sie in schallendes Gelächter aus.
Sofort fuhr ich herum und machte abermals Anstalten, wegzulaufen. Wieder musste Luisa mich festhalten. Sanft, aber bestimmt schloss sie mich in ihre Arme. Da lief ich nicht weiter weg, aber ich ließ mich noch etwas bitten, ehe ich mich wieder zu ihr umdrehte. Als ich es endlich tat, bohrten sich die Augen meiner Freundin besorgt in meine.
»Meinst du das ernst?«, fragte sie unter angehaltenem Atem.
Ich nickte.
»Das ist doch albern. Bist du sicher, dass sie nicht einfach nur…«
»Nein«, fiel ich ihr ins Wort. »Nein! Sie hat nichts einfach nur. Sie hatte eine Puppe aus Stroh, die sie mit Nadeln traktiert hat und sie hat gesummt oder gemurmelt und war vollkommen versunken.«
Luisa betrachtete mich mit offenem Mund. Ihr Mann kam hinzu und schließlich nahmen die beiden mich mit in ihr Haus. Wir sprachen noch lange. Am Ende glaubten sie mir. Und die Gerüchte begannen, sich zu verbreiten.
»Willst du einen Moment Pause machen?«, fragt Georg. »Du wirst blasser und blasser.«
Ich sehe zu ihm auf und konzentriere mich darauf, einige Mal tief ein- und auszuatmen. Dann schüttle ich den Kopf. »Nein, es geht schon. Ich denke, es ist besser, wenn wir weitergehen. Die Bewegung ist gut für meinen Kreislauf.«
»Wie du meinst.«
Er streicht mir über den Rücken und führt mich weiter.
»Was dir wirklich guttun wird«, sinniert er nach einer Weile, »ist endlich von hier zu verschwinden. Was für ein unfassbar bedrückender Ort. Du hättest hier nie leben sollen, schon gar nicht allein.«
Ich lehne mich im Laufen an seine Schulter. »Früher war es hier ganz anders.«
»Mag sein, aber es geht schon bergab mit diesem Nest, seit dieser Junge im Brunnen ertrunken ist.«
Darauf kann ich nur nicken.
Der Junge hieß Simon. Er war ein paar Jahre jünger als ich und der Spross einer der größeren und älteren Bauernfamilien hier im Dorf. Seine älteren Brüder waren immer frecher und lauter gewesen als er. Daneben war Simon nie aufgefallen. Ihn kannte ich kaum und so ging es, denke ich, den meisten. Dennoch änderte sein Tod alles.
Niemand war bei ihm, als er starb. Deshalb konnte niemand genau sagen, wie es geschehen war. Seine Mutter fand ihn erst am Abend im Brunnen. Da war er längst ertrunken. Sie schrie und rief um Hilfe, bis schließlich einige Männer aus dem Dorf kamen und ihn hinauf zogen.
Noch am selben Abend versammelten wir uns alle in der Kirche zur Andacht. Ich erinnere mich, wie Simons Familie und seine wenigen Freunde dicht gedrängt zusammensaßen und um ihn weinten. Auch ich weinte ein wenig, aber weniger um Simon, als um des Schreckes willen. Die Vorstellung, wie es wäre, würde einem meiner Lieben so etwas geschehen, machte mir Angst und ich suchte Trost im Arm meiner Mutter, während ich der Predigt lauschte.
Dass einige Männer bei der Andacht fehlten, bemerkte ich erst, als mitten im stillen Gebet die Tür aufsprang.
»Sie war es«, brüllte August Link, während er schnaufend auf die Kanzel zustürmte. »Die Schleifer hat ihn umgebracht! Hexe!«
In seiner Hand hielt er die Puppe und die Nadeln, die ich nur allzu gut kannte, und wedelte damit über seinem Kopf herum. Hinter ihm fielen andere aus seiner Gruppe in sein Rufen ein.
Mit pumpender Brust und geballter Faust kam August vor der Gemeinde zu stehen. Unser Pfarrer war trotz seines hohen Amtes immer ein stiller, beinahe schüchterner Mann gewesen. Er machte keinen Versuch, in das Geschehen einzugreifen oder uns zur Besinnung zu rufen. Er stand einfach schweigend auf der Kanzel, ließ August reden und betrachtete das alles mit distanziertem Interesse.
Mein Blick wanderte zur Schleifer. Sie saß ganz still auf der Kirchbank, umgeben von bohrenden Augen, die sie kaum zu bemerken schien. Ihre eigenen Augen waren geweitet, der Mund halb geöffnet, die Finger verkrampft. Zunächst wirkte es so, als verstünde sie gar nicht, worum es ging. Erst ganz allmählich realisierte sie, worüber gesprochen wurde. Als sie es dann verstand, wurde sie sehr blass.
Heute denke ich manchmal, wie seltsam es ist, dass niemandem die Art ihrer Reaktion auffiel. Sie zuckte nicht zusammen, sie versuchte nicht sofort, sich zu verteidigen, sie saß einfach da und verstand nicht, was um sie herum geschah. So verhält sich niemand, wenn er auf frischer Tat ertappt worden war. Doch keiner außer mir schien das zu bemerken.
»Das hier war in ihrem Haus versteckt«, donnerte August in diesem Moment und zog alle Augen auf sich. Wieder schwenkte er Puppe und Nadeln hin und her. »Sie ist eine Hexe! Sie hat gezaubert, um Böses über uns zu bringen, und nun ist Simon gestorben!«
Die Mutter des toten Jungen schluchzte laut. Ihr Mann drückte sie einen Moment an sich, dann stand er auf und bahnte sich einen Weg durch die bereits raunende Menge. Seine Wangen waren tränennass, aber jetzt bebte er vor Wut.
»Wieso?«, brüllte er der Schleifer entgegen, während er lief. »Wieso unser Junge? Wie konntest du?«