Kitabı oku: «DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte», sayfa 3
Die so Angerufene schüttelte nur den Kopf und hob abwehrend die Hände. Zweimal setzte sie an, um zu sprechen, aber offensichtlich fehlten ihr die Worte.
August fehlten sie nicht. »Was spielt es für eine Rolle, wieso? Und meinst du wirklich, sie würde es dir sagen? Sie lügt, sie hat uns alle belogen! Wie lange treibst du dieses Spiel schon, hm? Hexe! Glaubst du, wir sind blind?«
Als sie nun beide Männer auf sich zukommen sah, löste die Schleifer sich aus ihrer Starre. Sie sprang auf und wollte zurückweichen, aber auch die Umstehenden hatten sich bereits erhoben und hielten sie zurück. Hände über Hände griffen nach ihren Armen, ihren Schultern und ihren Kleidern. Sie zogen, schoben und zerrten sie nach vorn in den Gang. Dort versuchte sie, nach hinten zum Kirchentor zu fliehen, aber neue Hände griffen nach ihr und eine rasch anwachsende Menschentraube auf dem Gang versperrte ihr den Weg. Irgendjemand stieß sie auf die Knie.
»Seid ihr wahnsinnig?«, rief sie.
Da erreichte Simons Vater die Stelle, an der sie kniete, und schlug ihr ins Gesicht. Sie schrie. Mir wurde schlecht. Ich wollte mich abwenden, aber es gelang mir nicht …
»Hörst du mir eigentlich zu?« Die Art, in der Georg seine Stimme hebt, bringt mich jäh ins Hier und Jetzt zurück. Sein Arm löst sich von meinen Schultern und er lässt mich frei. Ich mache einen Schritt zurück.
Aus dieser kurzen Distanz sehe ich seine Augen zornig blitzen und wage es nicht, den Kopf zu schütteln. »Entschuldige«, flüstere ich.
»Wo bist du mit deinen Gedanken?«, fährt er donnernd fort. Von seiner Sorge um mich ist nichts mehr zu sehen. »Umso weiter wir gehen, umso mehr schweifst du ab. Ich tue das hier für dich! Wenn du es nicht willst, dann …« Er unterbricht sich und atmet dreimal tief ein und aus. Ich kann förmlich sehen, wie er sich zur Beherrschung zwingt. Meine Augen wandern zu seiner Hand. Sie ist zur Faust geballt und zittert, als stünde sie kurz vor der Bewegung. Ich bekomme Angst.
»Es tut mir leid«, setze ich erneut an und sehe wieder in seine Augen, aber er winkt ab.
»Schon gut, lass uns weitergehen!« Wie zuvor nimmt er mich bei den Schultern und zieht mich noch näher an sich heran.
Dann laufen wir weiter. Ich recke den Kopf und schaue ihn an. Sein Gesichtsausdruck ist streng. Die Augen starr geradeaus gerichtet. Die Stille zwischen uns ist anders als zuvor. Nicht vertraut oder tröstlich oder wenigstens gleichgültig. Sie ist zum Zerreißen gespannt und geradezu greifbar. Ich überlege, ob ich ihn fragen soll, was er zuletzt gesagt hat, aber ich finde den Mut dazu nicht.
Also schweigen wir. Georg führt mich die gerade Straße entlang, während die Sonne endgültig hinter den fernen Baumwipfeln verschwindet und alles um uns herum dunkel und grau zu werden beginnt. Schließlich entdeckt Georg ein weiteres Kreuz am Straßenrand.
»Was war es hier?«, fragt er. Seine Stimme ist leiser als zuvor. Sein Atem geht ruhiger.
Ich schließe die Augen, um die Welt vor mir auszuschließen. »Da hat einer seine Tochter erschlagen«, erkläre ich mit brüchiger Stimme. »Bitte. Bitte lass mich nicht weiterreden.«
Ich traue mich kaum, ihn anzusehen, aber diesmal ist Georg nicht wütend. Er legt auch den zweiten Arm um mich und küsst meine Stirn. Ich kann mich in seiner Umarmung nicht ganz entspannen, aber ich versuche es.
»Wir können zurückgehen, wenn du willst«, flüstert er. »Es kann hier ja kaum auszuhalten sein für dich, mit all den Erinnerungen.«
Ich zittere, aber ich schüttle den Kopf. »Nein, bitte. Ich will mich verabschieden.«
Er legt eine Hand unter mein Kinn und drückt es mit sanfter Gewalt nach oben, bis ich ihn ansehe.
»Gut«, sagt er, »aber wirklich nur noch bis zum Waldrand, einverstanden?« Es klingt nicht wirklich nach einer Frage.
Ich nicke trotzdem und einer Eingebung folgend strecke ich die Hand nach seiner Wange aus. »Danke, Liebster.«
Mein Streicheln bringt ihn zum Lächeln und ich spüre erleichtert, wie er sich entspannt. Die Stille kehrt wieder in ihren vertraut gleichgültig friedlichen Zustand zurück. Auf dem Rest des Weges aus dem Dorf hinaus kann ich mich wieder an Georg lehnen, ohne mich unbehaglich zu fühlen. Sogar seine Wärme kann ich ein wenig genießen.
Für einen Moment verliere ich mich nicht in Erinnerungen, sondern in Erwartungen. Ich stelle mir unser gemeinsames Leben vor. Ein belebter Hof, Kinder, genug zu essen und schöne Kleider für das Ansehen im Dorf. Einem Dorf, das lebendig ist. In dem es Kinder gibt und Feste. Vielleicht wird es sogar Spaziergänge geben, so wie heute. Gemeinsame Abende vorm Kamin. Wärme. Wer sagt, dass es nicht wunderschön werden wird?, denke ich.
Und während ich das denke, erreichen wir den Waldrand. Georg bleibt stehen.
»Bitte lass uns einfach einen Moment hierbleiben, ja?«, flüstere ich.
Er schweigt. Sein Atem bleibt ruhig und er legt abermals den zweiten Arm um mich. Das interpretiere ich als Zustimmung. Ich lehne mich an ihn und lasse mich von den letzten Erinnerungen einholen.
Dass sie mich hier kriegen würden, habe ich gewusst. Schon seit wir den Marktplatz verlassen haben, habe ich mich vor ihnen gefürchtet. Ich hätte sie nur zu gern vermieden, wäre zurückgegangen, dem Wald ferngeblieben. Aber ich weiß auch, dass ich mich diesen Erinnerungen stellen muss, wenn ich mich wirklich verabschieden will. Und das will ich mehr als alles andere. Es soll endlich ein Ende haben. Also schließe ich die Augen und lasse mich überrollen.
Es war grau im Wald, als sie sie herschleppten. Genauso grau wie jetzt. Aber die Sonne ging damals nicht unter, nein, sie ging auf. Ich hatte die Nacht in meinem Bett verbracht, doch nach dem, was ich von anderen hörte, hatten sie sie die ganze Nacht über verhört.
Als Luise und ich mit einigen anderen aus dem Dorf den Waldrand erreichten, kniete die Schleifer schon umringt von Menschen im kalten Laub. Ihre Frisur hatte sich gelöst, braune Flecken zogen sich an mehreren Stellen über ihr Kleid, rote Striemen über ihre bleiche Haut. Sonst schien ihr nichts zu fehlen.
»Geh endlich«, knurrte Simons Vater gerade, als wir in Hörreichweite kamen. »Verschwinde von hier!«
Andere stimmten mit ein.
»Seid ihr wahnsinnig?«, keifte die Schleifer zurück. Verzweiflung, Wut und Erschöpfung rangen um die Vorherrschaft in ihrer Stimme. »Wohin sollte ich gehen? Ich habe nichts und niemanden sonst. Damit verurteilt ihr mich zum Tode!«
Sie schluchzte zornig, aber das ließ die anderen nur umso lauter werden.
Ich betrachtete es voll Schrecken. Das hatte ich nicht gewollt. Ich hatte ihre Glaubwürdigkeit untergraben wollen. Ihren Ruf, sicher. Aber dass sie sie anrühren würden? Dass sie sie ausstoßen würden, nur weil ich diese dumme Hexengeschichte in die Welt gesetzt hatte? Wie hatte das geschehen können? Was konnte ich jetzt noch tun?
Nichts. Ich tat nichts.
Ich tat nichts, als die Schleifer uns anbettelte, noch einmal nachzudenken. Uns zu erinnern, wie sie all die Zeit als ein Teil von uns gelebt hatte. Uns zu fragen, wieso sie Simon hätte irgendetwas antun sollen, wo sein Tod ihr doch überhaupt nichts einbrachte. Ich tat nichts, als die anderen brüllten und drohten und ihr befahlen, zu verschwinden. Ich tat nichts, als sie dennoch blieb. Kniete, wo sie war. Und ich tat nichts, als der erste Stein flog.
Gerade als die Welt ihre Farben zurückgewann, mischte sich Rot unter das Braun der welken Blätter. Mehr und mehr sprenkelte es den Waldboden, solange bis die Schleifer schließlich dazwischen zusammenbrach. Ich konnte sehen, wie sie aufgab. Wie ihre Lider zu schwer für sie wurden.
»Ich verfluche euch nicht«, flüsterte sie, während sie ging. Nachdem der letzte Stein sein Ziel gefunden hatte, war es still geworden im Wald. Und der Wind trug ihre dünne, sterbende Stimme zu uns hinüber. »Ich muss euch nicht verfluchen. Ihr werdet euer eigener Fluch sein. Das Böse, das ihr in mir seht, tragt ihr selbst in euch. Es wird jeden von euch vernichten. Jeden, der hier lebt.«
Falls sie noch mehr sagen wollte, ging es im wieder aufschäumenden Stimmenmeer unter. Sie starb beschimpft und unbeweint. Wir verbuddelten sie im Waldboden. Keine Messe, keine Gebete. Niemand sprach über sie oder den Morgen, an dem sie gestorben war. Und für eine Weile glaubte ich, irgendwann vergessen zu können.
Doch was blieb, war der Fluch. Als der Erste im Streit seinen Nachbarn erstach, war es der Fluch, der ihm das Messer in die Hand gegeben hatte. Als der Zweite sich an einer ledigen Frau verging, war es der Fluch, der ihm seine Beherrschung genommen hatte. Freunde und Familien wandten sich gegeneinander. Alles zerbrach. Und wer nicht vom Fluch heimgesucht wurde, zog fort, solange er es noch konnte.
Ich bin die Letzte. Wenn ich wegziehe, wird es hier niemanden mehr geben. Niemanden, der die Felder bestellt und auch niemanden, der sich erinnert. Das Dorf ist gestorben. Genauso wie die Witwe Schleifer. Es hat nur ein wenig länger dafür gebraucht.
Ihr werdet euer eigener Fluch sein, geht es mir immer wieder durch den Kopf.
Georg gräbt seine Fingerkuppen in meine Schulterblätter und dreht mich zu sich um.
»Lass uns endlich gehen«, fordert er. »Du hast dich genug verabschiedet und es ist gleich dunkel. Außerdem tut dir zu viel frische Luft gar nicht gut, denke ich.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, legt er wieder seinen Arm um mich und zieht mich mit sich zurück. Ich bin noch halb benommen von der Intensität der Erinnerungen, aber ich ertappe mich bei der Vorstellung, ihn von mir zu stoßen. Aus irgendeinem Grund fällt mir der Tag wieder ein, an dem meine Mutter starb. Wie ich das Messer einsteckte, ehe ich zu meinem Vater ging …
Es endet hier, denke ich mit aller Entschlossenheit, die ich aufbringen kann. Die Schleifer war keine Hexe und es gab nie einen Fluch. Nur Menschen, die für all das Übel, das in ihnen schlummerte, endlich eine Ausrede hatten. Und selbst wenn es doch einen Fluch gegeben haben sollte, dann stirbt er jetzt und hier mit dem Dorf. Ich gehe fort und dann wird sich nichts hiervon je wiederholen und nichts davon mehr wichtig sein. Nichts.
Ich will es glauben. Und ich will vergessen. Doch während Georg seinen Arm fester um meine Schulter zieht und seine Schritte beschleunigt, ertappe ich mich bei dem einen Gedanken, um den immer wieder alles kreist:
Ich bin nicht sicher.
Das Loch im Zaun | Oliver Bruskolini
Es ist ein Loch im Zaun. Der Rost hat den Maschendraht zerfressen und entblößt eine Öffnung. Sie ist wie ein Tor. Ein Tor, durch das ich die Enge dieser begrenzten, von Zäunen geprägten Welt verlassen kann. Ich würde ihr gerne entfliehen. Aber irgendetwas hält mich zurück. Vielleicht die Angst vor dem Unbekannten.
Ich gehe einen Schritt auf das Loch zu. An manchen Stellen steht der Draht über. Es besteht Verletzungsgefahr. Aber was ist verletzender? Eine potenzielle Blutvergiftung oder das Verpassen einer vielleicht einmaligen Chance?
Ich schrecke kurz zusammen. Die Straßenlaternen schalten sich ein. Der rostbraune Draht schimmert surreal im Licht. Hinter mir liegt die Vorstadt, so wie sie immer da lag. Akribisch geplante Straßenzüge, an deren Rändern fast identische Häuschen stehen. Hier ist der Rasen gestutzt. Hier ist der Zaun frisch lackiert. Hier liegt ein Hauch von Spießigkeit über den Dächern. Ich hasse den bürgerlichen Geruch.
Also fasse ich mir ein Herz. Ich zwänge mich durch die Öffnung, von der ich mir Freiheit erhoffe. Einer der überstehenden Drähte kratzt meinen nackten Unterarm auf. Sofort tritt Blut aus. Es ist nicht viel, aber genug, um das Gefühl der kühlen Abendluft auf meiner Haut in eine unangenehme Wärme zu verwandeln.
Sofort denke ich an die Gefahr einer Sepsis. Außerdem frage ich mich, wie viele Menschen sich schon vorher hier geschnitten haben. Oder Tiere. Der Rost, die Bakterien. Lauter Fremdkörper drängen in meine Blutbahn, so wie ich als Fremdkörper in diese Straßenzüge gedrängt wurde. Danke, Mama. Danke, Papa. Danke, für dieses Gefühl von Fremde.
Der Schotter knirscht unter meinen Schuhen. Sonst ist nichts zu hören. Normalerweise singen die Vögel um diese Uhrzeit besonders laut. Aber heute schweigen sie still. Vielleicht spüren sie, dass etwas in der Luft liegt. Vielleicht spüren sie, dass heute etwas geschieht. Ich werde ausbrechen. Aus diesem Gefängnis.
Vor mir ragt ein altes Haus in die Höhe. Einsturzgefährdet. Zumindest habe ich das auf einem Schild gelesen, das am Zaun befestigt war. Es ist in den letzten Jahrzehnten nicht zusammengefallen. Warum sollte es also heute geschehen?
Die Röte der untergehenden Sonne färbt die eigentlich graue Fassade in der Farbe, die der Zaun vor wenigen Augenblicken noch hatte. Das Haus wirkt metallisch, obwohl es aus kaltem Stein ist. Ich lege meine Hand auf die Mauern. Wie alt mag es sein? Ein paar Jahrhunderte hat es bestimmt auf dem Buckel.
Als wir vor langer Zeit in diese Stadt gezogen sind, hat mich das Haus sofort fasziniert.
Es liegt ein wenig abseits meines alten Schulwegs, und seit einiger Zeit komme ich jeden Tag am alten Maschendrahtzaun vorbei, der das Haus umgibt.
Es hat gedauert, aber jetzt ist mir klar, dass dieses Haus meine Karte in die Freiheit ist. Ich zwänge mich durch das Loch.
Kurz, nachdem ich es damals entdeckt hatte, begann ich im Stadtarchiv zu recherchieren. Ursprünglich wurde das Haus als Wohnsitz gebaut. Es gehörte einer reichen Familie, die der Enge der Großstadt zu entfliehen versuchte und entschied, in dieser Vorstadt sesshaft zu werden. Eine Entscheidung, die ich niemals werde nachvollziehen können. Für mich ist die Vorstadt der Inbegriff der Enge. Eine Gleichschaltungszentrale, die der Pluralität der Großstadt beängstigend Paroli bietet.
Nachdem die Familie bankrottging, wurde das Haus zwangsversteigert. Der Höchstbietende versuchte, ein Kurhaus aus der alten Villa zu machen. Aber das Kurhaus scheiterte in der beklemmenden Atmosphäre der Vorstadt phänomenal und stand lange leer, ehe ein zwielichtiger Investor eine Stange Geld in die Hand nahm, um das einstige Herrenhaus in ein edles Bordell zu verwandeln. Ein halbes Jahrhundert wurde es betrieben, zur Freude der Männer, die sich abseits des alltäglichen Trotts unter fremde Decken flüchten konnten. Den Ehefrauen stieß es aber sauer auf, was mich kaum verwundert. Es gründete sich ein Aktionsbündnis, dem es tatsächlich gelang, den Sohn des mittlerweile verstorbenen Investors zu einem Umdenken zu bewegen.
Der Bordellbetrieb wurde eingestampft und stattdessen wurden französische Tänzerinnen verpflichtet, die eine Burlesque-Show inszenierten, die im gesamten Umland einzigartig war. Es war die Glanzzeit dieses Hauses. Von weit her reisten Menschen an, um einer Vorführung beizuwohnen. Die Adresse gewann über die Grenzen des Landes hinaus an Bekanntheit.
Doch auch dieses Kapitel neigte sich dem Ende zu. Durch die Neuen Medien erhielt die Pornografie Einzug in die Haushalte, wodurch ein Großteil der Kundschaft fernblieb. Sie klebten lieber in ihren Fernsehsesseln und Bürostühlen, als eine weite Reise für eine erotische Inszenierung auf sich zu nehmen.
Abermals übernahm ein neuer Investor das Haus und versuchte, es in einen Nachtklub umzubauen. Aber die alte Villa wurde nun unter Denkmalschutz gestellt, was den Umbau nahezu unmöglich machte. Nachdem er bereits einen Batzen Geld investiert hatte, beschloss er, dass sich weitere Kosten aufgrund der Lage nicht lohnen würden, und ließ das Gelände wieder brachliegen. Ein Maschendrahtzaun sollte unliebsame Gäste aussperren. Bis heute.
Ich betrete die Eingangshalle und sehe mich um. Überall hängen Spinnenweben von der Decke. Die Staubschicht ist mehrere Zentimeter dick. Jeder meiner Schritte hinterlässt eine Spur auf dem Parkett. Mein Blick fällt auf alte Bilder, die an der Wand lehnen. Sie erzählen die Geschichte nach, die ich so mühsam im Stadtarchiv recherchieren musste.
Eine lange Geschichte, die von Höhen und Tiefen geprägt war.
Es gibt Glanzzeiten und es gibt schwierige Phasen. An ihrem Ende befindet sich nichts als eine grenzenlose Leere. Jeder Versuch scheitert, bis ein Punkt der Stagnation erreicht wird. Viele fürchten die Stagnation. Für mich ist sie das Beste, was passieren kann. Sie bedeutet Ruhe. Frieden. Einsamkeit. Die ständigen Bauarbeiten haben ein Ende. Das Ziel eines endlos wirkenden Marathons, der Zeit, Mühe, Geld und Energie kostet.
Ich setze mich auf die Stufen der alten Treppe, die in die obere Etage führt. In meinen Taschen wühle ich nach meinem Proviant. Ich habe ihn immer bei mir, nur für den Fall, dass ich irgendwann einen Ort finde, an dem ich ihn verzehren kann. Dieser Ort scheint mir geeignet. Gänzlich in den Fängen meiner frühen Kindheitstage lege ich die Smarties auf meine Zunge und tue so, als seien sie eine wichtige Medikation.
Mein Gefühl von Fremdheit, das mich in die verlassene Ruine getrieben hat, beginnt langsam zu schwinden. Ich weiß, dass es sich auflösen wird. Ich werde eins mit dem Haus sein. Hier bin ich. Ein Teil der Geschichte. Die neueste Epoche. In meiner Vorstellung tanze ich in den schillerndsten Gewändern zu französischem Chanson. Die Scheinwerfer folgen meinen Bewegungen. Das Publikum wird Zeuge einer einzigartigen Aufführung. Sie sind gekommen, um mich zu sehen. Um zu erleben, wie ich mich befreie. Aus meinen Kleidern. Aus den Engen der Vorstadt. Aus den Zwängen dieses Daseins. Ich habe das Loch im rostigen Zaun nicht nur gefunden. Nein, ich habe mich getraut, es zu durchschreiten. Fortan gibt es keine Zäune mehr für mich. Jetzt bin ich grenzenlos.
Ein strahlendes Lachen | Sarah Hanuschik
»Und die wichtigste Regel ist: Nichts anfassen.« Dmitri beendet seinen Vortrag in gebrochenem Englisch und lässt das Mikro in den Schoß sinken. Als wenn wir ihn in dem kleinen Van nicht auch so hören könnten. Die Heizung pustet trockene Luft in unsere Gesichter und lässt die blaugelbe Flagge am Armaturenbrett flattern.
Ich rutsche auf dem Sitz rum, nach zwei Stunden Fahrt tut mein Hintern in jeder Position weh. Mit dem Ärmel wische ich ein Loch in das Kondenswasser. Kahle Sträucher und Bäume ziehen vorbei. Feiner Schnee verziert die Landschaft wie Puderzucker einen verbrannten Kuchen. Mir kommen Omas Worte in den Sinn. Dort macht man keinen Urlaub. Dort herrscht der Tod. Urlaub würde ich es auch nicht nennen. Eher Entdeckungsreise.
Ein Haus taucht zwischen den Büschen am Straßenrand auf. Die Fensterläden hängen schief in den Angeln, die Scheiben sind zerbrochen. Luca und Matteo, in der Reihe vor mir, konnten sich schon die ganze Zeit kaum auf den Sitzen halten. Redeten, zappelten, machten Selfies und unternahmen einen kurzen Kontaktversuch in meine Richtung. Jetzt sind die beiden Italiener nicht mehr zu bremsen, springen auf und drücken ihre Smartphones an die Scheibe. Erst als das Haus längst außer Sicht ist, setzen sie sich und begutachten ihre Beute. Filter drauf, hochladen, Likes sammeln. Die fotografieren echt jeden verstrahlten Kackhaufen und dabei sind wir noch gar nicht in der Sperrzone.
Ich sinke in den Sitz und umarme meinen Rucksack.
Am zweiten Kontrollposten stehen wir bibbernd in der Kälte. Ich sehe die nackten Knöchel der Bloggerin – Nerdbrille und Pagenschnitt wecken Erinnerungen an Velma aus Scooby-Doo – und ziehe meine Mütze weiter über die Ohren. Ihr Freund, bewaffnet mit Hipsterbart und Profikamera, verrenkt sich, um das perfekte, nicht gestellt wirkende Foto zu machen. Die beiden sind, neben mir und den hibbeligen Italienern, die einzigen Verrückten, die bei Minusgraden diesen Tagesausflug unternehmen.
Ich trete von einem Fuß auf den anderen und beobachte, wie mein kondensierter Atem davonfliegt. Bisher das Spannendste, was ich heute gesehen habe. Wir sind umgeben von Winterwiesen und ein paar grauen Gebäuden in der Nähe der Schranke, die uns an der Weiterfahrt hindert. Verstaubte Kiesel und umgeknickte Grashalme verstärken die Tristesse und flüstern: Geht weg. Es gibt nichts zu sehen.
Dmitri spricht mit einem Kontrolleur, der Pelzmütze und Sturmgewehr trägt. Sie lachen rau und schlagen sich auf die Schultern. Schließlich wird die Schranke geöffnet und wir fahren in die Todeszone. Von hier sind es dreißig Kilometer Luftlinie zum Reaktorblock vier.
Der Motor dröhnt. Auf dem Zweier neben mir zerquetschen sich Velma und Bartmann fast ihre Hände. Luca und Matteo halten die Münder geschlossen und die Augen offen, als hätten sie Angst, etwas Wichtiges zu verpassen.
Ich habe mich informiert. An einem Tag in Tschernobyl bekommt man so viel Strahlung ab wie auf einem einstündigen Flug. Absolut ungefährlich. Oma hatte sich nie wieder hergetraut. Oft erzählte sie mir, wie es damals gewesen ist, aber begriffen habe ich es nie. Ich muss sehen, wozu der Mensch fähig ist, die Auswirkungen mit eigenen Sinnen spüren. Um endlich zu verstehen. Meine Hände reibe ich an der Jeans trocken und klemme sie unter die Achseln.
Der Kindergarten hockt bleich hinter den Brombeersträuchern, ein ausgetretener Pfad führt durch das Dickicht zu weißen Flügeltüren. Langsam gehe ich auf das Haus zu. Von den blauen Holzrahmen blättert die Farbe, die meisten Fenster fehlen oder sind zerbrochen. Das Dreirad auf der Veranda wird wohl kein Kind mehr zum Lachen bringen, zwei der Räder fehlen.
Im Laub sehe ich blonde Haare, weiße Rüschen. Ein totes, blaues Auge starrt mich an und ich fange an, in meiner Daunenjacke zu schwitzen. Es ist nur eine Puppe, kein Grund nervös zu werden.
Ein Schrei lässt mich zusammenfahren.
»Vierzehn Komma sechs!« Durch die blätterlosen Sträucher sehe ich Velma vor einem kleinen Erdhaufen auf und ab hüpfen. Ihr Geigerzähler piept den Rhythmus dazu. Meine Reisekollegen schwirren umher wie Bienen, die den Honig suchen, die gelben Geräte knattern und weisen den Weg zum nächsten Hotspot. Wer die höchste Strahlung findet, darf sie behalten.
Ich werfe einen Blick auf mein Messgerät. Es zeigt einen Wert von vier Komma sieben Mikrosievert – weit entfernt von normal. Ich sehe diese Zahlen und versuche, mir vorzustellen, wie die Strahlen sich in meine Zellen drängen, immer tiefer, bis die Moleküle auseinanderbrechen und meine DNA mutiert. Versuche zu begreifen, dass diese unsichtbare Gefahr Zehntausende Menschen dazu gezwungen hat, ihre Wohnungen und alles darin zurückzulassen. Und jetzt stehen wir hier und machen Fotos von ihrem verlorenen Leben.
Das Gejohle klirrt in meinen Kopf. Ich erinnere mich an ein Foto, das vor Kurzem einen Shitstorm ausgelöst hatte. Zwei Mädchen mit strahlendem Lächeln, Victoryzeichen und über ihren Köpfen »Arbeit macht frei«.
Ich wende mich von den anderen ab. Zwei Stufen führen auf die Veranda des Kindergartens, das brüchige Holz knarrt unter meinen Winterstiefeln. Die Flügeltüren stehen offen und mit klopfendem Herz betrete ich das alte Gebäude. Betonbrocken und Berge von altem Laub erschweren den Weg in das erste Zimmer. Verrostete Metallgestelle füllen den Raum, dann erkenne ich ein kleines Bett neben dem anderen. Die Matratzen sind verrottet und die Tapete hängt von den Wänden. Fünf Tage hat es gedauert, bis dieser Ort nach dem Unglück evakuiert wurde. Fünf Tage, an denen Jungen und Mädchen hier gespielt und geschlafen haben.
Ich schleiche weiter. Überall liegen Bücher, lose Seiten bedecken die Holzdielen. Auf einer Fensterbank sitzen vier Puppen mit hochgestreckten Ärmchen und winken mir zu.
Im Türrahmen des nächsten Zimmers bleibe ich stehen und ziehe die Luft scharf ein. Der Boden ist übersät mit Gasmasken. In der Mitte des Raumes steht ein roter Stuhl, der Lack blättert ab. Darauf sitzt stolz eine Puppe mit Maske. Die Herrin der Masken.
Hinter mir knarrt eine Diele. Ich zucke herum. Nichts zu sehen. Das Haus ist alt und heruntergekommen, natürlich macht es komische Geräusche.
Dann höre ich die Kinder. Sie lachen. Und es ist, als würde mir eine kalte Hand in den Nacken packen, ein Kribbeln läuft über meinen Körper. Bewusst langsam atme ich ein und wieder aus. Ich lausche und höre außer dem Rauschen meines Blutes nichts.
Eine feste Hand packt mich an der Schulter. Ich fahre herum und sehe Dmitris grimmiges Gesicht. »Immer in der Gruppe bleiben.«
Ich zittere. »Sorry.«
Luca und Matteo poltern mit gezückten Handys an mir vorbei und die Herrin wird zum Shootingstar. Ich warte im Flur, bis wir weiterfahren.
Wie kleine Sonnen leuchten uns die Gondeln des Riesenrads über die Bäume hinweg an. Wir fahren zum Freizeitpark und sofort habe ich den Geruch von gebrannten Mandeln und Bratwürsten in der Nase. Ich höre das Bimmeln der Fahrgeschäfte, Ansagen von übermotivierten Schaustellern. Wir steigen aus dem Bus und es ist still. Mein Trommelfell zieht sich zusammen, verkrampft sich in dem Bemühen, das zu hören, was ich erwarte.
Nebeneinander stehen wir vor dem Van und keiner traut sich, die Mauer der fehlenden Geräusche zu durchbrechen. Dann klatscht Bartmann in die Hände. »Los geht’s!«, ruft er, als müsse er sich selber antreiben und stapft mit Kamera und Stativ los. Velma hinterher. Luca und Matteo lachen und schon stehe ich alleine da.
Meine Füße scheinen festgewachsen zu sein. Das mächtige Riesenrad wacht über den Platz. Auf dem von Gras durchbrochenen Beton kauern Autoscooter, wirken wie blassgelbe Mäuse, die sich verstecken, um zu sterben.
Ich schüttle meinen Kopf frei und gehe zu dem Karussell, dessen Holzsitze fast vermodert sind, suche mir einen noch einigermaßen intakten Sitz. Po und Oberschenkel kribbeln, als sie sich auf das verstrahlte Holz drücken. Die Füße baumeln in der Luft, ich schließe die Augen und versuche mich zu sammeln. Ich wollte hier hin. Und ich will diese Erfahrung immer noch.
Mit einem Ruck setzt sich das Karussell in Bewegung und im selben Moment höre ich die Kinder lachen. Ich öffne die Augen und kralle mich an die Armlehnen. Die Konstruktion bewegt sich nur widerwillig, Metall kreischt und Rost rieselt herab. Und doch werde ich immer schneller, mein Rücken drückt gegen die Lehne. Ich bin wie erstarrt und die Umgebung verschwimmt.
Meine Augen fangen an zu tränen. Ich blinzle. Und noch einmal. Ein paar Reihen vor mir flattern braune Haare im Wind. Velma!
»Heee«, rufe ich, »was ist hier los?« Keine Reaktion.
Mir wird schlecht. Die Bloggerin trägt keinen rosa Haarreif. Und ist viel größer. Der kindliche Fahrgast schmeißt die Arme in die Luft und jauchzt vor Freude. Plötzlich überzieht Raureif meine Arme, die Kälte kriecht in mein Gesicht und die nassen Wimpern gefrieren. Mit geschlossenen Augen fange ich an zu schreien. Ich schreie und auch als mein Hals zu schmerzen beginnt, kann ich nicht aufhören, bis das Karussell langsamer wird. Erst als sich nichts mehr bewegt, wische ich mir über die Augen und versuche durch den Tränenschleier etwas zu erkennen. Das Mädchen ist nicht mehr zu sehen.
Mit wackeligen Knien stehe ich auf und entferne mich halb stolpernd, halb laufend von dem Teufelsding. Dann sehe ich Bartmann, er steht vor dem alten Kartenhäuschen und betrachtet konzentriert das Display seiner Kamera. Schnaufend erreiche ich ihn.
»Oh Mann, wo wart ihr?« Ich reibe mit den Händen übers Gesicht. Ich muss völlig fertig aussehen.
»Hmm, was meinst du?« Bartmann schaut irritiert auf. »Alles okay? Du siehst blass aus.«
»Das Karussell. Es …« Ich schaue hinüber zu dem verrosteten Gestell, das wirkt, als hätte es sich Jahrzehnte lang nicht bewegt, und weiß nicht mehr, was ich sagen soll.
»Jep, echt cooles Motiv. Sah richtig schön verträumt aus, wie du da gesessen hast.« Er zwinkert.
Mir wird schwindelig. Was passiert hier? Ich setze mich auf den Rand eines Blumenkübels, der einer Bierdose und ein paar Zigarettenstummeln ein Zuhause bietet. Mein Kopf spielt verrückt. Vielleicht reagiere ich heftiger auf die Strahlung als erwartet. Oder ich habe etwas Falsches gegessen. Das Frühstück im Hotel hat wirklich nicht mehr frisch ausgesehen.
»Nicht hinsetzen.« Der Wachhund hat mich wieder gefunden. »Nichts anfassen, bedeutet auch, nicht hinsetzen.« Dmitri zieht die Augenbrauen hoch und glotzt mich an.
Ich steh auf und wische mir abgestorbenes Moos vom Hintern. »Sag mal, wohnt hier eigentlich jemand in der Nähe?«
»‘n paar Verrückte sind wiedergekommen.« Er schaut in Richtung Waldrand und kratzt sich am Kopf. »Die glauben nicht an die Strahlung.«
»Oh.« Ich zertrete noch mehr Moos auf dem Boden. »Und die haben auch Kinder?«
»Quatsch. Alte Leute sind das. Eh schon halb tot.« Er schaut mich skeptisch an. »Wär auch was krank, hier Kinder mit hinzunehmen, oder?«
»Auf jeden Fall.«
Dmitri formt mit den Händen einen Trichter und ruft über den Platz: »Es geht weiter. Diesmal zu Fuß!«
Im Gänsemarsch setzen wir uns in Bewegung, ich in der Mitte. Dmitris Motto Immer in der Gruppe bleiben ist jetzt auch meins. Das Kinderlachen scheint sich nur herauszutrauen, wenn ich alleine bin.
Über einen Waldpfad kommen wir zu der mit Schlaglöchern übersäten Hauptstraße von Prypjat. Die Arbeiterstadt besteht aus dreckig grauen Plattenbauten, hinter den schwarzen Fenstern ahne ich Kinderaugen, die unseren Marsch beobachten und mir ein flaues Gefühl im Magen verursachen. Die endzeitliche Szenerie scheint auch die Euphorie der anderen zu dämpfen und schweigend ziehen wir an den gleichförmigen Wohnblöcken vorbei. Prypjat ist schnell gewachsen damals, für das Kraftwerk wurden Arbeiter gebraucht.
Schließlich halten wir vor einem der Häuser. Die meisten der grünen Kacheln an der Fassade fehlen, die Scherben verstecken sich zwischen Laub und Moos. Die Haustür ist verschwunden und wie ein Wächter sitzt eine Birke auf den Stufen, lehnt sich hinüber, um die offene Wunde des Hauses zu schützen. Wir quetschen uns daran vorbei und gelangen über den dunklen Flur in eine der Wohnungen.