Kitabı oku: «Prekäre Eheschließungen», sayfa 2

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3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung

Die vorliegende Arbeit widmet sich den beschriebenen vermittlungsbedürftigen Konflikten, die in Zeiten des Umbruchs in besonders intensiver Weise geführt wurden. In Transformationsphasen wurden die Ordnungsprinzipien einer Gesellschaft zeitlich konzentriert herausgefordert, weil herkömmliche Normen häufiger und stärker strapaziert und in Frage gestellt wurden.1 So waren Zeiten tiefgreifender Wandlungsprozesse immer auch „Zeiten intensiver Beschäftigung mit der Ehe“, da sie im Zentrum sozialer und geschlechterspezifischer Ordnung stand.2

Mit einem von der Geschichtswissenschaft als solche Transformationsphase klassifizierten Zeitabschnitt, der sogenannten ‚Sattelzeit‘, beschäftigt sich die vorliegende Studie.3 Sie widmet sich der Erforschung der Eheschließung im Gebiet der ehemals mächtigen und wohlhabenden reformierten Stadtrepublik Bern zwischen ausgehendem Ancien Régime und Bundessstaatsgründung (1848).4 Dabei verfolgt sie das Ziel in einem lokalen Kontext im Rahmen der historischen Ehe- und Familienforschung mit einem praxeologischen Ansatz zu einer differenzierten Einschätzung der Genese der modernen Familie zu gelangen und etablierte Meinungen dazu kritisch zu hinterfragen.5

Die reformierte Stadtrepublik – nota bene „die grösste nördlich der Alpen“ im Ancien Régime,6 deren Territorium bis zu ihrem Untergang ca. ein Drittel der Fläche der Eidgenossenschaft ausmachte7 – bietet sich am Übergang vom Ancien Régime zum 19. Jahrhundert innerhalb der Eidgenossenschaft als besonders vielversprechender und relevanter Untersuchungsraum an, nicht zuletzt weil dem Gebiet von der Geschichtswissenschaft immer wieder ein ambivalentes Verhältnis zur Moderne nachgesagt wird. Es scheint unklar und eine Frage der historiographischen Perspektive zu sein, wann und in welcher Weise diese in Bern eigentlich einsetzte.8 Im späten Ancien Régime waren die Verhältnisse in der gesamten Alten Eidgenossenschaft, zu deren 13 Mitgliedstaaten Bern seit 1353 durch multi- und bilaterale Bündnisverträge gehörte,9 von einem spannungsreichen Nebeneinander einerseits verfassungspolitischer Stagnation und andererseits sozialer und wirtschaftlicher Dynamik geprägt. Soziale Ungleichheiten akzentuierten sich in Stadt und Land und auch zwischen diesen Kulturräumen. An den meisten Orten wuchsen Bevölkerung und Wirtschaft. Ressourcenknappheit nahm zu und mit ihr Verteilungs- und Nutzungskonflikte. Das Konsumverhalten der Menschen veränderte sich, Wissen und Ideen wurden von neu entstehenden Bildungsinstitutionen und durch zunehmende Öffentlichkeit multipliziert. Dennoch spielten sich diese dynamisierenden Prozesse in ständisch-korporativen und feudalen Strukturen ab.10 Innerhalb dieser Entwicklung stellte Bern eher die Regel als die Ausnahme dar. So sei gerade Bern im 18. Jahrhundert in der Eidgenossenschaft zum „Inbegriff des aristokratischen Ancien Régime“ geworden,11 das sowohl Elemente sozioökonomischer Dynamik wie politischer Stagnation integrierte.

Das sehr große und vor allem agrarisch geprägte Territorium, das bis 1798 die Untertanengebiete Aargau und Waadt miteinschloss, erstreckte sich im 18. Jahrhundert vom Jura im Norden über das Mittelland bis in die Alpen im Süden. Folglich war die große kulturelle und wirtschaftliche Diversität ein konstitutives Merkmal des ehemals mächtigen Kantons.12 Das Territorium von Bern beheimatete gegen Mitte des 18. Jahrhunderts über die zwanzigfache Bevölkerung (300‘000) der verhältnismäßig kleinen Stadt (weniger als 15‘000 Einwohner), von wo aus im 18. Jahrhundert ein selbstbewusstes und sich zunehmend verengendes städtisches Patriziat über ungefähr einen Drittel aller BewohnerInnen der damaligen Eidgenossenschaft regierte. So gilt Bern im 18. Jahrhundert nicht nur aufgrund seiner ausgeprägten innereidgenössisch militärischen Stärke neben Zürich als „Primus inter Pares“ innerhalb des Corpus Helveticum, sondern auch wegen seiner Ausdehnung und Bevölkerungsgröße.13 Die soziale Ungleichheit war auf dem Gebiet des Stadtstaats im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert stark ausgeprägt und erfuhr in Regionen ausbleibender Protoindustrialisierung sogar eine Akzentuierung. In der Landwirtschaft hing das ökonomische Wohlergehen von der Größe des Hofs ab. Während Großbauern durchaus wohlhabend sein konnten, waren Kleinbauern und landlose Tauner für ihr Auskommen auf Nebeneinkünfte aus gewerblichen Arbeiten angewiesen, die eng mit der Landwirtschaft verzahnt waren.14 Die Nebenerwerbe wurden vor allem in der Textilindustrie erzielt. Diese produzierte primär Leinwand – sowohl für den heimischen Markt als auch für den Export vor allem nach Frankreich, wo aus Flachs in Heimarbeit Garn gesponnen wurde.15

Bis zur Abdankung von Schultheiß, Rät und Burger im Zuge der Invasion französischer Truppen im Rahmen der Helvetischen Revolution bestimmte im 18. Jahrhundert eine seit dem Abschluss des Burgerrechts 1651 immer schmaler werdende Machtelite die politischen Geschicke von Bern. Während der Große Rat ursprünglich die Versammlung aller Burger von Bern darstellte, wurde dieser im Verlauf der Frühen Neuzeit zu einem vollzählig 299 Ratsherren umfassenden Repräsentationsorgan der Bürgerschaft, der nur noch ergänzt wurde, wenn die Zahl der Räte unter 200 fiel. Das war seit 1683 noch ungefähr alle zehn Jahre der Fall.16 In Zahlen ausgedrückt bedeutete das, dass weniger als 27% der Bevölkerung der Stadt Bern oder 1 % der gesamten Bevölkerung des Territoriums über die Menschen in Stadt und Kanton regierte. Dabei verengte sich der Kreis der regimentsfähigen Familien immer rapider, während gleichzeitig immer weniger dieser regierungsbefugten Geschlechter tatsächlich Einsitz in der Regierung nahmen. Die Ratssitze wurden durch ein komplexes Mischverfahren von Kooptation und Wahlen besetzt.17 Zwar vermochte sich der Große Rat seine Souveränität gegenüber dem Kleinen Rat in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch zu verbriefen. Dennoch verlagerte sich das Machtgefälle des auf Ausgleich ausgelegten Politsystems zwischen den beiden Räten zu Ungunsten des Großen Rats. An der Spitze der aristokratisch organisierten Stadtrepublik standen die beiden vom Großen aus dem Kleinen Rat auf Lebzeiten gewählten stillstehenden und amtenden Schultheißen, die sich jährlich in ihren jeweiligen Aufgaben abwechselten. Der Kleine Rat setzte sich aus 27 Mitgliedern zusammen, die vom Großen Rat gewählt wurden. Sie bestimmten die Traktanden des Großen Rats und verfügten durch ihre täglichen Zusammenkünfte über einen wesentlichen Informations- und Wissensvorsprung gegenüber der großen Ratskammer.18 Trotz dieser ausgeprägten Machtkonzentration gelang es der Berner Obrigkeit nicht, vereinheitlichte Verwaltungsstrukturen auf der Landschaft zu implementieren. So zeichnete sich das Territorium durch eine Vielzahl unterschiedlicher Herrschaftsverhältnisse und Partikularrechte aus, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Bestand hatten. Auch neue Abgaben waren von der Obrigkeit kaum durchzusetzen.

Ausgehend von dieser Skizze der politischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse in Bern am Ausgang des 18. Jahrhunderts wird hier einerseits präsupponiert, dass die zwischen ca. 1700 und 1850 veranschlagte Zeit auch für Bern eine Episode ähnlich tiefgreifender Veränderungen war, wie es die ursprünglich begriffsgeschichtliche Konzeption der Sattelzeit in einem größeren räumlichen Kontext plausibel gemacht hat. Ereignis- und verfassungsgeschichtlich steht dies außer Frage: Bern verwandelte sich in diesem Zeitraum von einem reformierten, tendenziell reformabsolutistisch organisierten souveränen Stadtstaat, der unter dem Ancien Régime von einem oligarchischen Patriziat regiert wurde, über die Helvetik (1798–1803), die Mediation (1803–1815), die Restauration (1815–1831) und die Regeneration (1831–1848) in einen demokratisch organisierten Kantonsteil des föderalistischen Schweizerischen Bundesstaats (ab 1848), der weitgehend säkularisiert war – die Eheschließung stellte nota bene eine Ausnahme dar.19

Von einer fundamentalen Veränderung im veranschlagten Zeitraum auszugehen, legt zudem nicht nur die Verfassungsgeschichte, sondern auch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte nahe. Sie wähnt das damalige Gebiet von Bern in diesem Zeitraum zumindest in einem „Strom der Modernisierung“, also in zügiger Bewegung.20

Bezüglich der Eheschließungspraxis hat die internationale und schweizerische Verwandtschaftsforschung auf die Zunahme von Heiraten in nahen Verwandtschaftsgraden als Ausdruck fundamentaler struktureller Veränderungen hingewiesen.21 Und Foucault hat mit seinen diskursanalytischen Auseinandersetzungen zur sogenannten ‚Gouvernementalität‘, also zur Regierungslogik, längst auf die Bedeutung der Überschreitung der „biologische[n] Modernitätsschwelle“ im 18. Jahrhundert aufmerksam gemacht.22 Wie noch zu zeigen sein wird, fand die Überwindung dieser Schwelle um die Jahrhundertmitte auch in Bern schrittweise statt und hatte großen Einfluss auf die Konzeption, Verwaltung und Praxis der Eheschließung.

Dennoch soll die begriffsgeschichtliche Qualifizierung der Sattelzeit in ihrem empirischen Gehalt aber nicht überschätzt werden.23 Stattdessen wird untersucht, „was von den […] strukturellen Änderungen dieser Epoche eigentlich wie ‚unten‘ […] ankommt“, beziehungsweise vor allem wie in umgekehrter Richtung das Verhalten von ‚unten‘ strukturelle Veränderungen evoziert.24

So möchte die vorliegende Arbeit zu einer differenzierteren Betrachtung des konstatierten Wandels beitragen. Dazu untersucht sie die Eheschließung im Spannungsverhältnis von Norm und Praxis im spezifischen Kontext der Stadtrepublik Bern. Dieser räumliche Zusammenhang umfasst die Stadt und das Territorium beziehungsweise das Kantonsgebiet, das sowohl Landstädte als auch ländliche Dörfer und Bergregionen einschließt. Dadurch wird weder der urbanen noch der agrarischen Kultur der Vorzug gegeben, sondern sie werden zusammen und in Wechselwirkung betrachtet. Dank diesem Zugang geraten die Eheschließungsversuche von Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten, sozialen Stratifikaten und Berufen ins Blickfeld der Analyse.

3.1 Theorie: Eigensinn, Strategie und Taktik

Um die Transformationen und deren Ursachen im Bereich der Eheschließung am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert einzufangen, empfiehlt es sich, die Geschichte der Eheschließung „von den Rändern“ her zu betrachten.1 Die Ränder befinden sich dort, wo von der Norm abweichendes, also deviantes Verhalten auftritt.2 An dieser Stelle werden die eigensinnigen „Aneignungen“ jener heiratswilligen AkteurInnen sichtbar, die mit ihren konkreten Heiratsbegehren die gesetzlichen und sozialen Normen im lokalen und familiären Umfeld herausforderten.3 Durch ihr taktisches Handeln stellten sie gewollt oder unabsichtlich Konventionen in Frage und provozierten dadurch Reaktionen von OpponentInnen und strategische Urteile der Eherichter.4 Mit dieser Perspektive folgt die Studie Alf Lüdtkes Konzept des Eigen-Sinns, das im weiteren Verlauf der Arbeit mit der Handlungstheorie von Michel de Certeau kombiniert werden wird.5 Diese Handlungstheorie gewinnt ihr Profil dadurch, dass sie insbesondere benachteiligten Menschen Handlungsmöglichkeiten zugesteht, die unablässig versuchen, sich die herrschenden Strukturen anzueignen. Sie ergänzt sich sehr gut mit dem Konzept des deutschen Historikers, der seinerseits „Eigensinn“ in Anlehnung an G. W. F. Hegel als jene stark limitierte Freiheit beschreibt, die dem ‚Knecht‘ in seiner Abhängigkeitssituation bleibt.6 Dabei steht die Figur des Knechts bei Lüdtke stellvertretend für „die Besitzlosen“.7 Das trifft teilweise gut auf die hier untersuchten ehewilligen AkteurInnen zu. Tatsächlich waren sie nicht selten Knechte und die Akteurinnen Mägde in landwirtschaftlichen Anstellungsverhältnissen. In vielen anderen Fällen waren sie besitzlos oder zumindest unvermögend. Der „eigene Sinn“ dieser Benachteiligten und zum Teil Mittellosen wurde wahrnehmbar, weil er sich „gegen alle und alles“ – im konkreten Fall gegen Familie, Gemeinden, Korporationen und Obrigkeit – wenden konnte.8 Der Eigensinn bedeutet in dieser Studie die „Uneinheitlichkeit in der Auffassung von der Grundlage der Ehe und der Einstellung zur Sexualität“ der ehewilligen AkteurInnen mit den OpponentInnen und dem Gericht.9 Mit de Certeau lässt sich dann erklären, auf welche Weise und mit welchem Einsatz die am Aushandlungsprozess der Ehe beteiligten und mit unterschiedlicher Handlungsmacht ausgestatteten AkteurInnen und Gruppen ihre Vorstellungen beziehungsweise ihre Normen durchzusetzen versuchten.

Um die Konflikte an den Rändern in den Blick zu bekommen, werden für das ausgehende Ancien Régime und die Zeit nach der Helvetik bis zur Bundesstaatsgründung Ehevorhaben erforscht, die aus dem sozialen Nahraum mittels sogenannter ‚Eheeinsprachen‘ vor der zuständigen ehegerichtlichen Instanz im Territorium angefochten wurden. Die „streitig gemachte[n] Eheversprechung[en]“10 – ein zeitgenössischer Quellenbegriff –, die vor Gericht gezogen wurden, werden analysiert, weil in ihrer Verhandlung Praktiken auf Normen prallten und dadurch Reaktionen der Richter auslösten. Diese unablässigen Kollisionen führten, so die begründete Vermutung, zu jenen „kleinen Ereignisse[n]“, die in ihrer Kumulation durchaus zu größeren Veränderungen führen konnten und zumindest ihrem Potential nach transformativ waren.11 Durch die gewählte Herangehensweise werden in der vorliegenden Studie somit Ehegesetz, gesellschaftliche Vorstellungen und individuelles Handeln aufeinander bezogen und in ihren Wechselwirkungen begriffen. Die Praxis der Eheschließung kommt dadurch multiperspektivisch von ‚oben‘ (das Gericht), der Mitte (die Opponierenden) und von ‚unten‘ (die Ehewilligen) in den Blick. Weiterführende Erörterungen zu dieser Unterscheidung folgen weiter unten im Text.

Anhand der umstrittenen, konfliktreichen Fälle wird ersichtlich, was vom Gericht und der Gesellschaft als ‚normal‘ erachtet wurde, also was das zeitgenössische Eheverständnis war und wogegen sich Opposition formierte.12 Beim Abschreiten der Ränder und Grenzen des Normalen stößt man in den Quellen auf jene AkteurInnen, die de Certeau als „Helden des Alltags“ qualifiziert hat, und die in seiner metaphorischen Sprache „den Chor der am Rande versammelten“ ausmachen.13 Ihre eigensinnigen Ehebegehren standen den Gesetzen und den gesellschaftlichen Normvorstellungen widerspenstig und fremd gegenüber. Um ihren Eigensinn vor Gericht durchzusetzen, mussten sie frei nach de Certeau listen- und trickreiche Taktiken entwickeln.14 Dort schlugen ihnen die Argumente der einsprechenden Opponierenden entgegen, während die Richter ihre strategischen Urteile über den Ausgang der Verhandlungen fällten.

In der Differenzierung von Strategie und Taktik folgt die Arbeit der Handlungstheorie des französischen Historikers: Die Strategie zielt auf „die Beherrschung der Zeit durch die Gründung eines autonomen Ortes“.15 Sie entwickelt dabei nicht nur laufend die Macht, diesen Ort nach ihren Rationalitäten zu organisieren und zu besitzen. Sie grenzt ihn durch strategische Handlungen auch laufend gegen außen ab. Im konkreten Fall stellte dieser Ort, den es durch die Strategen – die Berner Obrigkeit und die Eherichter – zu beherrschen galt, die Ehe dar. Bei der Erhaltung und Organisation dieses Ortes, das heißt bei der Behauptung der Herrschaftsverhältnisse konnten sie auf mächtige Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskurse zurückgreifen, die ihrerseits von ihnen produziert wurden.

Dagegen definiert de Certeau die Taktik als etwas, das gegenüber der Strategie tendenziell „durch das Fehlen von Macht bestimmt“ ist. 16 Die Taktik kennt „nur den Ort des Anderen“ und „muss mit dem Terrain fertigwerden, das ihr vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert“.17

„Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig; sie ist immer darauf aus, ihren Vorteil ‚im Fluge zu erfassen‘. […] Sie muss andauernd mit den Ereignissen spielen, um ‚günstige Gelegenheiten‘ daraus zu machen. Der Schwache muss unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind. Er macht das in günstigen Augenblicken, in denen er heterogene Elemente kombiniert […]; allerdings hat deren intellektuelle Synthese nicht die Form eines Diskurses, sondern sie liegt in der Entscheidung selber, das heißt, im Akt und in der Weise wie die Gelegenheit ‚ergriffen wird‘.“18

Die verfolgte Herangehensweise legt somit den Akzent der Untersuchung darauf, dass sich die Aushandlungsprozesse rund um die Eheschließung stets in wirkungsmächtigen, aber in der Praxis immer auch manipulierbaren und daher zeitlich begrenzten Strukturen abspielten.19 Heiratswillige AkteurInnen mussten sich aufgrund ihrer eigensinnigen Ehebegehren mit gesetzlichen und bevölkerungspolitischen Rahmenbedingungen auseinandersetzen. Sie wurden aufgrund ihrer eigensinnigen Vorstellungen und ihres subversiven Handelns sowohl von AkteurInnen aus dem sozialen Nahraum als auch vom Gericht geradezu zur Konfrontation gedrängt. Um sich das Privileg der Ehe trotz der Einsprachen anzueignen, waren sie gezwungen, das ihnen fremde Gesetz kreativ zu ihren eigenen Gunsten auszulegen – de Certeau hat für diese Handlung das passende Verb „umfrisieren“ verwendet.20 Im gesetzlich normierten Raum suchten die heiratswilligen AkteurInnen taktisch kreativ nach Lücken und Gelegenheiten, um ihre eigensinnigen ehelichen Interessen durchzusetzen, wenn ihre Beziehungskonstellationen nicht den herrschenden Konventionen entsprachen. Dagegen versuchten einsprechende Familien, Verwandte, Gemeinden, Korporationen und selten auch Nebenbuhler ihrerseits die Eheschließungen mit ehehindernden Taktiken zu verunmöglichen.

3.2 Begriffliches: Prekär

OpponentInnen gegen die hier untersuchten eigensinnigen Eheschließungen konnten Familienmitglieder, Verwandte, Nachbarn, Vögte, Gemeinden, ständische Korporationen oder Nebenbuhler der Eheaspiranten sein. Auch das entsprechende Gericht konnte von Amtes wegen auf den Plan treten. Durch die Einsprachen wurden die zwischen Individuen partnerschaftlich-konsensual gegebenen Eheversprechen ‚widerruflich‘. Die eheliche Einsegnung, die formale Vollziehung und Anerkennung der Ehe, stand dann auf dem Spiel und wurde ‚unsicher‘. Somit waren die Ehevorhaben in ihrer misslichen und heiklen Lage permanent gefährdet und drohten zu scheitern. Folgt man im Duden der Bedeutungserklärung und den Herkunftsangaben des Lemmas ‚prekär‘, dann handelt es sich bei den hier untersuchten Eheschließungen um solche, die den Eigenschaften dieses Adjektivs exakt entsprechen. Das deutsche Wörterbuch schreibt zur Bedeutung von prekär: „in einer Weise geartet, die es äußerst schwer macht, die richtigen Maßnahmen, Entscheidungen zu treffen, aus einer schwierigen Lage herauszukommen; schwierig, heikel, misslich“.1

Diese Begriffsdefinition schließt sich einem kulturwissenschaftlichen Konzept an, das „‚Prekarisierung‘ als einen Prozess, der nicht nur Subjekte, sondern auch ‚Unsicherheit‘ als zentrale Sorge des Subjekts produziert“, begreift.2 Es geht maßgeblich auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück. Dieser hat damit zwar eine präzedenzlose Herrschaftsform im 20. Jahrhundert charakterisiert, die mit dem Neoliberalismus einhergeht, aber in den Konsequenzen augenfällige Analogien mit dem frühindustriellen Kapitalismus aufweist.3 Seither haben verschiedene Sozialwissenschaftler*innen sich bemüht, die postulierte Beispiellosigkeit der Herrschaftsform für unsere Gegenwart besonders mit Blick auf moderne Anstellungsverhältnisse zu zementieren.4 In den Augen von Historiker*innen haben sie damit aber wenig Plausibilität für ihre These dazugewonnen, weil ihnen der fundierte historische Vergleich fehlt. Tatsächlich gleichen aber die von ihnen beschriebenen Effekte für das 20. und 21. Jahrhundert jenen Erscheinungen sehr stark, die die Unsicherheit im Zusammenhang mit der Eheschließung im 18. und 19. Jahrhundert für die hier untersuchten heiratswilligen AkteurInnen hatte.5 Die von Bourdieu beschriebene „objektive Unsicherheit“ löste bei den Menschen in Bezug auf die Eheschließung im 18. und 19. Jahrhundert ebenso „eine allgemeine subjektive Unsicherheit“ aus, die auch jene bedrohte, die von ihr nicht oder zumindest nicht unmittelbar betroffen waren.6 Die vorliegende Arbeit verwendet den Begriff, weil dieser ihren Untersuchungsgegenstand akkurat charakterisiert. Sie möchte damit historisch differenziert zur inhaltlichen Schärfung des Konzepts beitragen.

Folglich werden hier prekäre Eheschließungen in Bern am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert untersucht. Diese wiesen ein spezifisches konfiguratives Element auf: Ihnen ging ein ursprünglich einvernehmliches Eheversprechen der Brautleute voraus. Gegen dieses konsensuale Ehebegehren wurde im Nachhinein von den bereits erwähnten OpponentInnen Einspruch erhoben. Entsprechende Ehehindernisse wurden geltend gemacht, um den Vollzug der Eheschließung durch die Einsegnung des Pfarrers in der Kirche zu verhindern.7 Dazu wurden sogenannte ‚Eheeinsprachen‘ oder ‚Zugrechtsklagen‘ zunächst vor dem Pfarrer oder lokalen Chorgericht geltend gemacht.8 Dies geschah jeweils in Reaktion auf das Eheaufgebot, das in Bern durch die sogenannten ‚Kanzelverkündigungen‘ durch den Gemeindepfarrer geschah. Die Verkündigungen hatten an drei aufeinander folgenden Sonntagsgottesdiensten von der Kanzel in der Kirche der Heimat- und Wohngemeinde der Ehewilligen zu erfolgen. Sie waren in der Chorgerichtssatzung, dem Berner Ehegesetz, kodifiziert und obligatorisch. Allerdings bestand vor der Helvetik (1798–1803) für Angehörige des Patriziats, der hohen Beamtenschaft und des Klerus die Möglichkeit der Dispensation.9 Für alle anderen Personen diente das Rechtsinstitut als offizielle öffentliche Ankündigung einer gewünschten Eheschließung, weshalb durch die untersuchten Einsprachen potentiell weite Teile der bernischen Bevölkerung aus unterschiedlichen Ständen und Schichten ins Spektrum der Untersuchung kommen. Die Verkündigungen ermöglichten kommunale, korporative und verwandtschaftliche Kontrolle und die Zurückweisung ehelicher Ansprüche. Damit sollten klandestine Ehen gegen den Willen und die Interessen der involvierten Familien, Gemeinden und Korporationen sowie Bigamie verhindert werden. Insofern waren prekäre Ehen durchaus „das Produkt eines politischen Willens“.10 Die deponierten Eheeinsprüche sollten dann ex officio vor das territoriale beziehungsweise kantonale Ehegericht gelangen. Die Mehrheit der Fälle, die vor dem Oberehegericht landeten, wurde durch dessen Urteil abgeschlossen. Gerichtsverhandlungen und Rekurse kosteten viel Geld, mussten folglich finanziert werden und waren zeitaufwendig. Die Investition von materiellen und immateriellen Ressourcen setzte eine Aussicht auf potenziellen Erfolg voraus. Zahlreiche KlägerInnen und AntworterInnen fanden sich daher mit dem Urteil des Oberehegerichts ab. Sie arrangierten sich damit, da ein Rekurs trotz großem Ressourcenaufwand wenig erfolgsversprechend erschien. Diese Fälle finden sich im Staatsarchiv Bern (StABE) in den sogenannten ‚Chorgerichtsmanualen‘ wieder.11

Einige sehr aussagekräftige Verhandlungen wurden allerdings von besonders eigensinnigen AkteurInnen vor den Rat gezogen und weitergeführt, weil eine der involvierten Parteien außergewöhnlich hartnäckig war und den Entscheid des Gerichts nicht annehmen wollte.12 Die Gerichtsfälle, die zum Weiterzug vor den Rat geführt hatten, sind Gegenstand der vorliegenden Studie. Sie werden hier herangezogen, weil sie den Eigensinn und die Persistenz der AkteurInnen in besonderem Ausmaß demonstrieren und letztendlich von oberster Regierungsinstanz, dem Rat von Bern, beurteilt werden mussten. Hier forderten ehewillige Akteur-Innen in maximaler Weise Handlungsmacht gegenüber ihrem familiären und kommunalen Umfeld ein und veranlassten das obrigkeitliche Gericht zu strategischen Reaktionen in der praktischen Normierung heraus. Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit sind diese politisch aufgeladenen Eheschließungen daher in besonderem Maße aufschlussreich. Dass in der Untersuchung auch Fälle von armen und besitzlosen Personen in den Blick kommen, dafür sorgten zwei Umstände: Einerseits wurde gegen viele Urteile von den OpponentInnen rekurriert, weil sie mit dem Ausgang der Verhandlung nicht zufrieden waren. Andererseits existierte ein „besonderes Armenrecht“, das es unvermögenden Menschen erlaubte, den Fall weiterzuziehen und so ihren Eigensinn trotz fehlender Mittel durchzusetzen.13 Gleichzeitig waren, wie noch zu zeigen sein wird, an gewisse eigensinnige Ehebegehren auch Interessen einer Gemeinde geknüpft. Wenn zum Beispiel eine mittellose Verlobte bereits schwanger war, konnte das durchaus dazu führen, dass die Gemeinde der Frau kurzfristig Mittel in den Aushandlungsprozess investierte, um langfristig kommunale Ressourcen zu sparen.

Insofern beweist die Konstellation der untersuchten und hier als prekär bezeichneten Fälle eine besondere, vorerst aus dem Handeln der AkteurInnen abgeleitete Form des Eigensinns: Erstens entsprachen die aspirierten ehelichen Verbindungen nicht den Interessen, dem ‚Gemeinsinn‘ und den Rechtsvorstellungen von Verwandten, Gemeinden, ständischen Korporationen und Kirchendienern. Auf diese Weise erschienen sie per se eigensinnig, weil sie durch ihren Wunsch im unmittelbaren sozialen Nahraum Widerstand evozierten. Sie wichen von allgemeinen Normvorstellungen ab und waren somit deviant.

Zweitens mussten die Heiratswilligen zum Teil ihren Fall gegen solchen Widerstand im Sinne der „Justiznutzung“ selbstständig vor die zuständige gerichtliche Instanz in Bern ziehen.14 Die oben beschriebenen Eheeinsprachen und Zugrechtsklagen sollten eigentlich auf Amtswegen an das Oberehegericht in Bern gelangen. Denn dieses war zuständig für die Beurteilung dieser Fälle. In der Praxis untersagten aber Gemeinden wiederholt zwar die weiteren Verkündigungen, leiteten aber die Einsprüche nicht an das Oberehegericht weiter. Dadurch konnte es zu keiner weiteren Verhandlung kommen. Die Ehewilligen mussten unter diesen Umständen ihr Recht vor dem Oberehegericht selbstständig einfordern, wollten sie ihr eheliches Vorhaben in die Tat umsetzen. Gemeinden hielten das Pfarrpersonal teilweise auch ohne offiziellen Einspruch an, die obligaten Verkündigungen in der Pfarrei der Braut, des Bräutigams und allenfalls den davon abweichenden Wohnorten der beiden auszusetzen. Dadurch unterbrachen und behinderten sie den ehekonstituierenden Gesamtprozess und vereitelten die abschließende eheliche Einsegnung der Verbindung durch einen Pfarrer auf lokaler Ebene auf unbestimmte Zeit. Das konnte die Justiznutzung seitens der Ehewilligen provozieren, um den individuellen Willen durchzusetzen.

Drittens spricht für eine spezifische und besonders intensive Form des Eigensinns in den hier als prekär klassifizierten Fällen, dass die ehewilligen sowie die gegen den Ehevollzug opponierenden Parteien bei abschlägigem Urteil des Oberehegerichts dazu bereit waren, sogar gegen das Urteil des Oberehegerichts zu rekurrieren. Sie zogen den Fall bis vor die höchste Instanz, den Berner Rat. Das Rekursverfahren war entsprechend ressourcenintensiv. Den Fall aus dem lokalen chorgerichtlichen Kontext nach Bern in den Rat zu ziehen, beanspruchte Zeit, war mit unterschiedlichen physischen und psychischen Strapazen des Reisens verbunden und verzehrte Geld für die Reisekosten der Parteien und deren vorgeladene Zeugen. Die Richter, der Gerichtsschreiber und die Anwälte hatten ebenfalls ihren Preis. Auch die übrigen Verfahrenskosten und die ausgestellten Dokumente mussten bezahlt werden, sofern die Kosten vom Gericht nicht abgeschlagen wurden.15 Hinzukommen konnten je nach Beziehungskonstellation und der sexuellen Vorgeschichte des Paares, das den ehelichen Status anstrebte, Geldstrafen und ehrrührige Bußpraktiken, zum Beispiel bei Ehebrechern und unehelich Schwangeren. Diese konnten sowohl finanzielles als auch symbolisches Kapital kosten. Entsprechende Beschwerlichkeiten und Risiken ging man entweder ein, weil man unbedingt heiraten wollte, aber von der anderen Partei vor Gericht gezwungen wurde. Oder man war so eigensinnig, seinen Heiratswillen gegen ständische Hindernisse selbstständig vor Gericht und durch dessen Sanktionierung zur gemeinschaftlichen Anerkennung zu bringen.

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