Kitabı oku: «Prekäre Eheschließungen», sayfa 3

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3.3 Quellen: Rekursmanuale, Petitionen und Konsistorialmanuale

Um die devianten und daher prekarisierten Eheaspirationen und ihren Erfolg gegen die OpponentInnen im besagten Zeitraum historisch zu untersuchen, bedient sich die Studie der Urteilsurkunden in den im Staatsarchiv des Kantons Bern eingelagerten Rekursmanualen der zuständigen richterlichen Instanz. Das höchste territoriale Ehegericht der Stadtrepublik wurde bis 1798 in den Quellen meistens als Oberchorgericht bezeichnet. Es amtete als Konsistorium des Stadtbezirks und als Appellationsinstanz für alle unteren Chorgerichte des gesamten Berner Territoriums. Auch die Chorgerichte der Munizipalstädte waren dem obersten Chorgericht unterstellt.1 Die von den Chorgerichten der Munizipalstädte Verurteilten hatten folglich das Recht auf Appellation an das Oberchorgericht in Bern.2 Letzteres tagte in der Regel jeweils am Montag und Donnerstag nach den Predigten im Ostflügel des Berner Stiftsgebäudes, das noch heute existiert und sich neben dem Berner Münster befindet.3 Dort war auch der Chorweibel untergebracht und das Chorgerichtsgefängnis befand sich ebenfalls im selben Gebäude.

In den Instruktionenbüchern zu den Ehegerichtsordnungen wurde die Besetzung des Oberchorgerichts beschrieben.4 Es bestand demzufolge aus den zwei Münsterpfarrern, vier Mitgliedern aus der Mitte des Großen Rats, wovon zwei erfahrene Amtmänner (‚ausbediente‘ Oberamtmänner) sein mussten und zwei, die bisher noch keine Chance erhalten hatten, ein Amt zu bekleiden. Damit war wohl die Absicht verbunden, Ämtererfahrung mit der Einführung in eine Ämterlaufbahn zu paaren. Abgesehen von den Pfarrpersonen durften nur verheiratete Personen in ehegerichtlichen Angelegenheiten urteilen.5 Das Präsidium sollte nach der Revision des Ehegesetzes von 1743 als Co-Präsidium durch zwei „Ehren-Glieder“ des Kleinen Rats geführt werden, wobei sich diese in ihrer Amtstätigkeit im Monatsrhythmus abwechselten und jeweils nur einer der beiden gnädigen Herren anwesend sein musste. Letztendlich bedeutete das, dass gleichzeitig stets acht Personen in das Gericht gewählt waren, von denen sieben aktiv sein konnten: zwei Co-Präsidenten aus dem Kleinen Rat, die sich das Amt teilten, dazu zwei Pfarrer, je zwei erfahrene und zwei unerfahrene Assessoren aus der Mitte des Großen Rats.6 Der Große Rat entschied im April 1774 aufgrund von unpässlichen Vorfällen, das monatlich alternierende Präsidialamt abzuschaffen und durch ein jährliches zu ersetzen. Außerdem sollte das Amt nicht mehr „den Kehr machen“, das heißt im Turnus, sondern durch „die freye Wahl der Balloten“ der Venner vor den Räten und Burger – durch Zufall – mit einem Mitglied des täglichen Rats besetzt werden.7

Um in wichtigen Angelegenheiten Beschlüsse zu fassen, sollten neben einem Präsidenten mindestens sechs Mitglieder anwesend sein. Bei voller Besetzung des Oberchorgerichts standen sich weltliche und geistliche Richter in einem Verhältnis von zwei zu eins gegenüber, wobei bei diesem Verhältnis der Präsident aus dem Kleinen Rat, dem in unentschiedenen Fällen der Stichentscheid zukam, nicht mitgerechnet ist. Um offiziell beschlussfähig zu sein, mussten neben dem Präsidenten allerdings lediglich vier Gerichtsbeisitzer präsent sein.8 Wenn kein Präsident im Gericht war, übernahm der älteste der weltlichen Assessoren den Vorsitz.

Die Verteilung von geistlichen und weltlichen Gerichtssitzen und die Stellvertretungsregelung des Präsidenten zeigen, wer in Bern das Sagen hatte: Die Kirchendiener befanden sich deutlich in der Minderheit.9 Die Stellung der Kirche drückte sich auch darin aus, dass nicht nur die weltlichen Assessoren den Eid auf die Kammer zu schwören hatten, sondern auch die kirchlichen Vertreter dazu angehalten wurden.10 Die Regierung schien den Geistlichen im Allgemeinen nicht uneingeschränkt zu trauen. In diesem Zusammenhang verdient eine Instruktion aus dem Jahr 1776 besondere Aufmerksamkeit. In dieser Anweisung wird das Oberchorgericht aufgrund eines konkreten Falls angehalten, sich nicht von Schreiben von Pfarrern, die in ihrem eigenen Namen oder in eigener Sache das Oberchorgericht adressierten, beeinflussen zu lassen.11 Die Ergänzung des Ehegerichts, die durch Kooptation geschah, sollte halbjährlich um zwei Sitze erfolgen. Die Geistlichen konnten sich bestätigen lassen.12 Sofern mehrere Stellen ledig zu werden drohten, sollten die beiden jüngeren Assessoren für eine weitere Amtsperiode in ihrer Funktion als Eherichter verbleiben.13

In den meisten Fällen wurden die Gerichtsurteile lediglich in summarischer Weise im Chorgerichtsmanual protokolliert. Weil es sich allerdings um Urteile handelte, gegen die rekurriert wurde, erfahren wir darin sowohl die Meinung der Befürworter als auch der Gegner der Ehen – vom Schreiber meist in indirekter Rede wiedergegeben, selten mittels Zitaten vom direkten Wortlaut der Meinungsträger durchzogen – und nicht einfach nur den zusammengefassten Urteilsspruch des Gerichts. Außerdem dokumentieren die Urkunden in den meisten Fällen, wie sich die Richter zu den Argumenten der Ehewilligen und ihren Opponent-Innen positionierten. Es ist aus ihnen zu erfahren, ob sich das Gericht einstimmig oder mehrstimmig für oder gegen die Eheschließung entschieden hatte. Das heißt, wenn die Stimmen der Richter in zwei oder drei voneinander abweichende Meinungen zerfielen, wurden alle Urteilslogiken in der Rekursurkunde protokolliert. Erst im abschließenden Urteil, das einem Mehrheitsentscheid entsprach, wurden die unterschiedlichen Meinungen der anwesenden Richter wieder austariert und in einem Spruch vereinigt. Dadurch werden ehepolitische Mehrheits- und Minderheitenpositionen unter den Richtern erkennbar, aus denen sich bevölkerungspolitische Trends innerhalb des Gerichts ableiten lassen. Es sind aber auch die Argumente der Ehewilligen, der OpponentInnen und der richterlichen Lager im Rahmen des Gerichts zugänglich, die es dem Berner Rat beziehungsweise Appellationsgericht und noch später dem Obergericht erleichtern sollten, sein abschließendes, rechtfertigungsloses Urteil zu fällen. Somit ist es möglich, die Fälle im Spannungsfeld zwischen ehewilligen Paaren, einsprechenden OpponentInnen und urteilenden Richtern, und entsprechend zwischen Eigensinn, gemeinschaftlichen Interessen und obrigkeitlicher Ehepolitik, zu betrachten. Auf diese Weise geben die Quellen trotz ihrer spezifischen herrschaftlichen Entstehungskontexte und -logiken im Gericht Aufschluss über kreative Aneignungsversuche von ehebegehrenden Paaren. Sie legen taktische Zurückdrängungsversuche von Opponierenden offen, die auf wirtschaftliche und sittliche Moralvorstellungen rekurrieren. Und sie offenbaren die oftmals uneinigen bevölkerungspolitischen, moralischen und ehegesetzlichen Bewertungen der Eheschließungsvorhaben aus den Reihen der Richter, wie zu zeigen sein wird.

Der Gerichtsschreiber hatte bei seiner Tätigkeit einen offiziellen Stellvertreter. Zusammen mit dem Weibel bildeten sie das Sekretariat des Oberchorgerichts.14 Die in ihren Meinungen differenzierten Urkunden gelangten über den Weibel anschließend versiegelt vor den Kleinen oder Großen Rat und bildeten dort die Entscheidungsgrundlage für das unumstößliche Urteil der höchsten richterlichen Instanz.15 Die Urteile der Räte werden in dieser Arbeit allerdings nicht thematisiert, weil sie weitere Ebenen einführen würden. Doch allein die Möglichkeit des Rekurses illustriert, dass sich das Gericht und die Regierung in ihren Auffassungen nicht einig sein mussten. Die Räte behielten sich insofern ein Rekursrecht vor, mit dem sie Kontrolle über das Oberchorgericht ausübten und politisch korrigierend eingreifen konnten.

Unter dem Schlagwort „Acta und Schriften“ im Register des Instruktionenbuchs erfahren wir interessante Details zur Archivierung und Verfügbarkeit der Akten, die dem Oberchorgericht für ihre Urteile vorlagen. Dem Gericht waren nur die Unterlagen der letzten drei Jahre unmittelbar zugänglich. Die 27 vorherigen Jahrgänge der Akten wurden in einem Archivschrank mit zwei verschiedenen Schlössern aufbewahrt. Chorschreiber und amtierender Präsident verwalteten jeweils einen Schlüssel.16 Der Präsident wurde darüber hinaus angewiesen, jeweils nach einem Jahr im Beisein eines Gerichtsbeisitzers den ältesten Jahrgang zu verbrennen.17 Dieser Umstand erklärt, wieso heute keine weiterführenden Dokumente – Zeugenberichte, Verhörprotokolle, Beweismittel etc. – für die hier behandelten Fälle zugänglich sind.

Aufgrund der Helvetischen Revolution wurde das Oberchorgericht zwischenzeitlich aufgehoben. Danach wurde es 1803 zum Oberehegericht umbenannt, wie es dann bis 1831 hieß. Mit der neuen Verfassung von 1831 wurde es durch die regionalen Amtsgerichte ersetzt. Folglich umfassen die zwölf Manuale des Oberchorgerichts beziehungsweise Oberehegerichts den Zeitraum zwischen 1742 und 1831. Die Rekursmanuale werden lediglich durch das rund fünfjährige republikanische Zwischenspiel der Helvetik unterbrochen. Für die Zeit zwischen 1832 und 1848, also bis zur Bundesstaatsgründung, wird aufgrund der veränderten Gerichtsorganisation, auf die im entsprechenden Abschnitt im Hauptteil eingegangen werden soll, das sogenannte ‚Konsistorialmanual‘ des Amtsgerichts von Bern beigezogen, das bis zu diesem Zeitpunkt acht Bände umfasst.18

Das hier analysierte Quellensample beinhaltet 134 Fälle von Urteilen über im partnerschaftlichen Einvernehmen geschlossene Eheversprechen, die auf die Agenda der zuständigen ehegerichtlichen Instanz kamen, weil Familienmitglieder, Gemeinden, ständische Korporationen oder Nebenbuhler auf lokaler Ebene Einsprachen gegen deren kirchliche Einsegnung erhoben hatten. Für die Samplebildung wurde darauf geachtet, dass pro Jahrzehnt ein Band berücksichtigt und jeweils der Anfangs- und Endpunkt einer verfassungsgeschichtlichen Entwicklung miteinbezogen wurde. Es wurden so für den Zeitraum von 1742 bis zum Ende des Ancien Régimes, mehr oder weniger gleichmäßig verteilt, fünf Bände des Rekursmanuals des Oberchorgerichts ausgewertet.19 Für die etwas weniger als 30 Jahre zwischen 1803 bis 1831 wurden drei Bände des Manuals des Oberehegerichts berücksichtigt.20 Bei den Konsistorialmanualen wurden der erste und letzte Band des hier untersuchten Zeitraums betrachtet.21

Um das obrigkeitlich Quellenmaterial, das wie erwähnt in einem spezifischen Herrschaftskontext produziert wurde, zu kontrastieren und dadurch in seinen Aussagen kritisch zu reflektieren, werden daneben 160 Petitionen aus der Zeit der Helvetischen Republik untersucht, in der sich die politischen Vorzeichen zwischenzeitlich stark verändert hatten.22 Darin baten Ehewillige aus allen Schichten während der fünfjährigen republikanischen Ära unter französischer Besatzung um Eheerlaubnis oder um die Dispensation von den Kanzelverkündigungen. In ihnen adressierten Individuen und Paare nach dem Ende der aristokratischen Herrschaft aus dem gesamten Gebiet des damaligen Bern mit der Unterstützung von Schreibern direkt das sogenannte ‚Vollziehungsdirektorium‘, das exekutive Leitungsgremium der zentralistisch regierten Republik. Dies taten sie gezielt, um mit ihren Eheaspirationen öffentliche Aufmerksamkeit zu verhindern oder mögliche Ehehindernisse im Voraus oder Nachhinein zu umgehen. Dieses Privileg war zuvor nur einer schmalen Schicht gegönnt. Gegen die opponierenden Parteien aus dem kommunalen, korporativen und familiären Umfeld, die die Ehevorhaben zu verhindern versuchten, mussten die Heiratswilligen ihr Recht auf legitime Heirat also vor der entsprechenden gerichtlichen Instanz erstreiten oder die Legitimation musste per Petition, also „durch Bitten erlangt“ werden – ein Attribut, das dem Duden zufolge das Eigenschaftswort ‚prekär‘ ebenfalls umschreibt.23

3.4 Erkenntnisinteresse: Verhandelter Wandel

Unter den ausgeführten Prämissen folgt die Arbeit einem praxeologisch ausgerichteten politikgeschichtlichen Ansatz, dessen gemeinsamen Nenner André Holenstein sinngemäß wie folgt auf den Punkt gebracht hat: Die Artikulation von Interessen, moralischen Konzepten und Bedürfnissen von Gemeinschaften, Korporationen, Interessengruppen und Subjekten von lokalen Gesellschaften steht am Ausgangspunkt des Staatsbildungsprozesses. In dieser Sichtweise erscheint die Genese des modernen Staats, die vorerst eine Ausweitung und Stärkung obrigkeitlicher Institutionen und die Intensivierung bürokratischer Aktivitäten bedeutet, nicht länger als autopoietische Errungenschaft von Regenten, Ministern, Beamten und Generälen. Vielmehr findet die Evolution des modernen Staats und seiner Institutionen im Wechselspiel zwischen ziviler Nachfrage und obrigkeitlichem Angebot, respektive herrschaftlichem Zugriff statt. Beide Seiten treten als Teil desselben Prozesses auf, den sie in positiver Rückkopplung gemeinsam konstituieren. Die Ausdifferenzierung des modernen Staats mit seinen konstitutiven Institutionen erscheint in dieser Perspektive als nicht intendiertes Produkt interaktiver Prozesse. Konkrete Probleme zwischen Menschen und die Notwendigkeit der Vermittlung unter ihnen verlangen und generieren Organe der Konfliktregulierung, Interessensvermittlung und Durchsetzung sozialer Ordnung.1 In der ständigen praktischen Auseinandersetzung mit den handelnden Menschen, die Vermittlung ersuchen, an Normen und kollektiven Vorstellungen rütteln oder Regulierung einfordern, differenzieren sich Institutionen aus. Diese werden wiederum von Menschen besetzt und interpretiert. In dieser Sichtweise bezeichnet der Staat eine Praxis von Menschen.2

Von der Institution Gericht wurde gerade im Feld der Ehe zwecks Konfliktlösung und Regulierung des Zusammenlebens im Verlauf der Frühen Neuzeit besonders intensiv Gebrauch gemacht. Die Intensivierung der Nutzung und die damit verbundene Einladung der Obrigkeit in häusliche und eheliche Konflikte öffnete gleichzeitig den Raum für die Expansion staatlicher Interventionen im Bereich der Familie und der lokalen Gemeinschaft. Den Magistraten ging es in zunehmendem Maße um die Regulierung des Familienlebens, um in der Verbindung von politischer und familiärer Stabilität die Macht des Staates auszubauen.3 Diese These wird von Susanna Burghartz mit Blick auf das frühneuzeitliche Basel erhärtet. Sie erachtet in Anbetracht der dicht miteinander verwobenen Moral- und Geschlechterpolitik die Ehegerichte als ausgesprochen wichtige Organe für den frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozess, in dessen Verlauf die Obrigkeiten in immer mehr und neue gesellschaftliche Felder ausgriffen.4

Dabei firmierte die Ehe als die zentrale Ordnungsinstitution des sozialen Zusammenlebens. Sie konstituierte in zunehmendem Maße den entscheidenden „Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaftsordnung“.5 In dieser Funktion war sie von fundamentaler Bedeutung für die Intensivierung der Beziehung zwischen werdendem Staat und seinen Subjekten. So ist Julie Hardwick zu dem Schluss gekommen, dass gerade die Aushandlungsprozesse rund um Ehe und Familie signifikante Auswirkungen auf den Staatsbildungsprozess hatten.6 Die Grenze zwischen legitimer Reproduktion und illegitimer Sexualität, die die Eheschließung markierte, wurde im Gericht unter Mitwirken unterschiedlichster AkteurInnen gezogen. Diese Demarkationslinie war konstitutiv für das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft.7 Die Taktiken der ehewilligen AkteurInnen, „die Findigkeit des Schwachen, Nutzen aus dem Starken zu ziehen“, sich also die Ehe anzueignen, führte in Anlehnung an de Certeau in der Konsequenz „zu einer Politisierung der Alltagspraktiken“.8 Denn ihre Heiratsbegehren konnten ebenso auf der Grundlage des ehegesetzlich und gewohnheitsrechtlich normierten Rahmens in Frage gestellt werden. Der eheliche Status war selbst eine zwischen unterschiedlichen AkteurInnen unter Einsatz verschiedener Mittel verhandelbare Ressource.9 Im praktischen Aushandlungsprozess der Eheschließung war die alltagspolitische Deutung des sozialen Zusammenlebens folglich nicht lediglich Attribut, sondern stand stets im Zentrum der Verhandlung. Gerichtsverfahren politisierten konkrete Eheschließungen und als deren Ausgangspunkt ‚Familie‘ sowie ‚Haushalt‘ zu theologischen, bevölkerungspolitischen und obrigkeitlichen Auseinandersetzungen zusätzlich. In den Verhandlungen wurde darüber diskutiert, wie die praktische Umsetzung dieser Konzepte aussehen sollte. Im Rückkehrschluss wurde die betriebene Ehepolitik im Gericht familiarisiert, weil sie von da aus wieder Eingang ins Leben der Eheleute und Familien fand.10

Dass das Feld der Eheschließung in diesem Prozess, der am Ausgang des Ancien Régimes in vollem Gange war, einen Ort besonders konzentrierter Interessensartikulation darstellte, an dem oftmals Vermittlung und Konfliktregulierung erforderlich waren, zeigen auch die hier untersuchten Quellen sehr deutlich. Somit erscheint das Ehegericht nicht nur als gesetzestreue obrigkeitliche Ordnungsinstanz und Instrument der Bevölkerungspolitik.11 Es bildete ebenso das Forum für Frauen und Männer, „ihre eigenen Vorstellungen vom ehelichen Leben zu artikulieren und eigene Rechte einzufordern.“12 Die Ehegerichte boten Menschen aus allen Schichten die Bühne, ihre ehelichen Vorstellungen in einem besonderen Rahmen zu artikulieren und die Eheschließung einzufordern oder zu verteidigen.13 So scheinen diese Gerichte historiographisch betrachtet ein prädestinierter Ort zu sein, an dem in den Worten Bruno Latours „den Akteuren […] die Fähigkeit zurückgegeben werden [kann], ihre eigenen Theorien darüber aufzustellen, woraus das Soziale besteht.“14 Dabei konnten die bestehenden matrimonialen Normen im Gericht taktisch angerufen, eingesetzt, verhandelt und kritisiert werden. AkteurInnen bildeten im Gericht unablässig und zum Teil auch neue „Assoziationen zwischen heterogenen Bestandteilen“.15 Im Hinblick auf materielle Interessen, soziale Erwägungen und emotionale Bedürfnisse steckten Heiratswillige, Haushalts- und Familienmitglieder, Nachbarn und lokale Autoritäten ungemein viel Energie in die quasi zivile Aushandlung ehelicher Verbindungen. Sie mobilisierten dazu alle verfügbaren materiellen und immateriellen Ressourcen und kombinierten sie miteinander. Dabei bestimmten stets die politisch konkrete Situation sowie die zeitlich bedingten Umstände mit, was im Gericht als Ressource eingesetzt werden konnte und als solche gehandelt wurde.16 Durch die taktischen Aneignungspraktiken, die unter diesem massiven Ressourceneinsatz stattfanden, manipulierten die Ehewilligen mit ihren kumulierten ‚mikropolitischen‘ Handlungen die Institution der Ehe laufend.17 Dadurch erfuhr diese bedeutungsvolle Institution im Aushandlungsprozess zwischen den Begehren der Obrigkeit, den Kirchendienern, den Gemeindevertretern, den Korporationen, den Familienangehörigen und den heiratswilligen Subjekten andauernd kleinste Verschiebungen oder auch fundamentale Veränderungen ihrer Form.18 Unter den Verhandlungen im Gericht erodierten Gesetze und es bildeten sich neue Strategien in der Urteilspraxis der Richter, die allmählich neue Normen formierten, mit denen die eigensinnigen Akteur-Innen wieder einen taktischen Umgang finden mussten.19

Damit befinden sich gerade die prekären Eheschließungen unversehens in der Mitte des gesellschaftlichen Wandels und frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses, dessen Kern eben aus der Organisation gemeinschaftlicher Ressourcen bestand.20 Durch den gewählten hermeneutischen Zugang sind die prekären Eheschließungen zwar an den Rändern der sozialen Ordnung, aber im Mittelpunkt von gesellschaftlichen Transformationen und des Staatsbildungsprozesses.

Die in Betracht gezogenen – letztendlich legitimierten oder verhinderten – Eheschließungen erscheinen in der gewählten Herangehensweise stets als Resultat des praktischen Aushandlungsprozesses innerhalb der Dreiecksbeziehung von eigensinnigen AkteurInnen, opponierenden Parteien aus der Umwelt der Ehewilligen und ehegerichtlichen Instanzen. Gleichwohl normierten die mit den AkteurInnen in zunehmendem Maß interagierenden Gerichte mit ihren Urteilen letztendlich deren Verhalten auf ultimative Weise.21 Dabei mussten die Berner Richter in der praktischen Normierung nicht nur zwischen Eigensinn, gesellschaftlichem Gewohnheitsrecht und kodifiziertem Ehegesetz abwägen. Sie standen, wie noch zu zeigen sein wird, in ihrem Umgang mit dem Gesetz selbst unter dem Einfluss zeitgenössischer bevölkerungspolitischer Debatten, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Bern in angeregter Weise in einer entstehenden politischen Öffentlichkeit geführt wurden. Das Gericht bildete somit die Kontaktzone zwischen kodifiziertem Recht, aktuellen bevölkerungspolitischen Debatten, gesellschaftlichen Vorstellungen und den konkreten Lebensweisen der AkteurInnen. In genau dieser unter vielfältigem Einfluss stehenden Zone ermittelten die Richter in praxi ihre Urteile, die stets von einem Gerichtsschreiber beurkundet und ausgestellt wurden. Und so möchte die vorliegende Arbeit aufzeigen, dass, je nach bevölkerungspolitischer Konjunktur, das Gericht den Ehewilligen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich gute Gelegenheiten bot, um die prekären Eheschließungen durchzusetzen. Das Ehegericht fungierte als wesentliche Schnittstelle zwischen gesellschaftlichem und bevölkerungspolitischem Wandel und definierte darin letztlich die Chancen für den Erfolg prekärer Eheschließungen.22 Mit de Certeau kann man deshalb sagen, dass es sich bei der Praxis prekärer Eheschließungen immer „um Kämpfe oder Spiele zwischen dem Starken und dem Schwachen und um ‚Aktionen‘, die dem Schwachen noch möglich sind“, handelte.23 Das Gelingen prekärer Eheschließungen war somit in jeweils spezifischer Art und Weise abhängig von der taktischen Raffinesse der Ehewilligen, dem politischen Geschick der OpponentInnen, von der Geschlossen- oder Offenheit des gesetzlichen und bevölkerungspolitischen Rahmens sowie der Ausrichtung der richterlichen Normierungspraxis, also der Strategie.

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